"Die Vermutung, der Giftanschlag auf Nawalny sei ohne Wissen Putins erfolgt, ist wenig plausibel"

Seite 4: "Es herrscht eine Kultur des absoluten Misstrauens"

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In der Welt der Spionage und der dazugehörigen Operationen ist man kurioserweise vor allem von Vertrauen abhängig - in einer Welt, in der es kein Vertrauen gibt. Ist das nicht ein absurdes Paradoxon?

Erich Schmidt-Eenboom: Falsch! Es gibt kein Vertrauen, nicht einmal unter politisch befreundeten Staaten, vielmehr eine Kultur des absoluten Misstrauens.

Der NSU-Skandal, 9/11, IS - all das waren mörderische Blamagen für In- und Auslandsgeheimdienste. Sind Geheimdienste lernfähig oder einfach zu behördlich. Letztlich muss ja dort auch alles genauso beantragt, geprüft, beschieden werden wie bei einem Hartz-IV-Antrag?

Erich Schmidt-Eenboom: Jeder Geheimdienst hat seine spezifischen Stärken und Schwächen. Für den Bundesnachrichtendienst gilt trotz der höheren Risikobereitschaft unter dem geschassten Präsidenten Gerhard Schindler immer noch, dass die bürokratische Übernormierung durch die Verwaltung und das übersteigerte Sicherheitsdenken einer von Ostagenten so häufig unterwanderten Behörde riskante Aktivitäten zugunsten von offener Aufklärung und technischer Spionage in den Hintergrund treten lassen. Die Verantwortung für das Anwerben und Führen menschlicher Quellen wird systematisch nach unten durchgeschoben, so dass karrieregefährdende Operationen beim Nachwuchs auf wenig Begeisterung stoßen.

Sehen Sie Geheimdienste gut gerüstet für die Bedrohungen der Zukunft? Welche werden diese sein? Nur noch im digitalen Raum?

Erich Schmidt-Eenboom: Die Bedrohungen im digitalen Raum - z.B. Cyberattacken, die überlebenswichtige Infrastrukturen außer Kraft setzen - nehmen zu. So lange in der Bundesrepublik das Tabu besteht, nicht mit Gegenangriffen darauf zu antworten, fällt die Abschreckung möglicher Angreifer allzu gering aus.

Der Terrorismus im Inland, von rechten, linken und islamistisch motivierten Tätern wird zunehmen. Dass die föderale Sicherheitsarchitektur mit einem Bundes- und 16 Landesämtern für Verfassungsschutz dessen Herr wird, möchte ich bezweifeln.

Der Bundesnachrichtendienst muss durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtswidrigkeit seiner bisherigen Praxis der fernmeldeelektronischen Aufklärung eine herbe Beschränkung seines geheimen Beschaffungsaufkommens hinnehmen. Das schwächt nicht nur das Eigenaufkommen, sondern auch das Tauschmaterial in einem auf Do-ut-des ausgerichteten System von Partnerdienstbeziehungen. Selbst die Force Protection, die Unterstützung der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen, dürfte darunter leiden. Diesen Rückschlag hat sich der Dienst durch die ausgeuferte Überwachung befreundeter Staaten, internationaler Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation WHO und von Journalisten sowie durch allzu große Willfährigkeit gegenüber der NSA allerdings selbst eingebrockt.

"Die Dienste der USA nehmen ungebrochen massiven Einfluss auf Südamerika"

Und wie bewerten Sie die Vorkommnisse in Süd- und Mittelamerika in den letzten Jahren - in Bolivien, auf Cuba, in Venezuela? Wer hat noch wirklich das Sagen?

Erich Schmidt-Eenboom: Sorry, aber was die jüngsten Entwicklungen in Lateinamerika betrifft, bin ich mit meinem Latein schnell am Ende. Im Rechercheteam #cryptoleaks, das im Auftrag des ZDF die gemeinsamen Abhöroperationen von BND und CIA von 1970 bis 1993 durch die Manipulation der Chiffriertechnik des Schweizer Herstellers CRYPTO AG untersuchte, habe ich für den gesamten lateinamerikanischen Hinterhof der USA zur Aufklärung der Frage beitragen können, wie BND und CIA die Militärdiktaturen durch die Lieferung betrügerischer Hard- und Software ausspionierten, um sie zugleich bei der mörderischen Unterdrückung der Opposition zu unterstützen.

Dass die Nachrichtendienste der USA ungebrochen massiven Einfluss auf die südamerikanischen Staaten nehmen, ist evident, aber das liegt aus Gründen der Beschränkung auf andere Kontinente außerhalb meines Radars.

Welche Bedeutung nimmt denn jetzt die arabische Welt und die islamische, persische heute im großen Konflikt USA/Russland/China ein?

Erich Schmidt-Eenboom: Wir haben es mit einer massiven Verschiebung des politischen Koordinatensystems zu tun. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrein vollziehen mit einer gegen das schiitische Netz gerichteten Allianz mit Israel einen historischen Kurswechsel, der sogar die Zusammenarbeit des saudi-arabischen mit dem israelischen Nachrichtendienst zur Folge hat und die Palästinenser ins schiitische Lager treiben wird.

Dem gegenüber stehen die Klienten der russischen Föderation: Iran, Syrien, die Hisbollah im Libanon, die schiitische Mehrheit im Irak und eine der Kriegsparteien in Libyen. China unterstützt den Iran, zeigt jedoch im übrigen arabischen Raum größere Zurückhaltung als Russland oder die USA.

Es zählt zu den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, dafür Sorge zu tragen, dass der Krisenbogen von Libyen bis Afghanistan nicht Schauplatz neuer Stellvertreterkriege wird, wie es sich in Syrien und in Libyen bereits abgezeichnet hat.

"Das Entlarven von politischem Blendwerk hat seinen eigenen Wert"

Was ist im Nachhinein für Sie die Quintessenz Ihrer Tätigkeit und der intensiven Beschäftigung mit allen diesen Bereichen?

Erich Schmidt-Eenboom: 30 Jahre der Beschäftigung mit geheimen Nachrichtendiensten bringen Höhen und Tiefen mit sich. In der Quintessenz habe ich vor allem das Bild des BND mit Büchern, Aufsätzen, in Filmen und Interviews über drei Jahrzehnte hinweg mitgeprägt und konnte dabei einen spannenden Beruf ausüben. Dabei gebe ich mich nicht der Illusion hin, größere Veränderungen bewirkt zu haben. Aber das Entlarven von politischem Blendwerk oder das Aufdecken politischer Verbrechen hat seinen eigenen Wert.

Sie sind sehr gut vernetzt in der Welt der klandestin und konspirativ arbeitenden Nachrichtendienste. Ist aber das Leben von Spionen, verdeckt arbeitenden Ermittlern oder auch Undercover-Journalisten und Whistleblowern nicht darauf angelegt, irgendwann zu verzweifeln, in tiefen Depressionen zu versinken und nicht mehr arbeiten zu wollen und zu können aufgrund des Kreislaufs der Sinnlosigkeit von Rache und Vergeltung?

Erich Schmidt-Eenboom: Die tägliche Befassung mit der Schlechtigkeit der politischen Welten hat bei mir nie Depressionen ausgelöst, nicht einmal Ernüchterung, da ich von vornherein nüchtern an die Arbeit gegangen bin. Eine gewisse soziale Grundgelassenheit, die freundschaftliche Verbundenheit mit vielen Kolleginnen und Kollegen in aller Welt und die Unabhängigkeit, die ich durch das von vielen Kleinspendern getragene Forschungsinstitut für Friedenspolitik e.V. genieße, haben mich vor solchen negativen Auswirkungen auf mein Leben bewahrt.

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