Die Welt ist ein Dorf
Seite 2: Journalisten bei der Pressekonferenz: ratlos
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Dann wurden die Journalisten in ein Zimmer geführt, in dem Patrick McGoohan hinter Gitterstäben auf sie wartete. Er trug eine Kosakenmütze, einen roten Kittel und Turnschuhe (das Kostüm, in dem er in zwei Episoden eine japanische Kampfsportart namens "Kosho" betreibt). Neben ihm stand ein kleiner dicker Mann im Butlerkostüm (Angelo Muscat), der ebenso stumm blieb wie in seiner Rolle in The Prisoner. Von der anderen Seite des Gitters aus gab McGoohan die Pressekonferenz, bei der er auf fast alle Fragen mit einer Gegenfrage antwortete. Danach verließ er sein Gefängnis und bat die Gäste zum kalten Büffet, das man um den kugelförmigen Sessel von Nummer 2 herum aufgebaut hatte.
Anwesend war auch Alexis Kanner. Der Frankokanadier hatte für Peter Brook den Hamlet gespielt. Einige der Journalisten kannten ihn aus der BBC-Serie Softly, Softly. Nach den ersten neun, live ausgestrahlten Episoden war er dort ausgeschieden, oder genauer: er war gefeuert worden, denn er hatte einen Hang zum Improvisieren, und der Rest des Ensembles fand ein solch unberechenbares Verhalten nicht tolerabel. Kanner hatte nicht verstanden, dass "live" soviel hieß wie "genau durchgeplant", aber nicht "lebendig". Seine Improvisationen sind leider verloren, weil die BBC fast alles von Softly, Softly weggeworfen hat.
Damals, 1967, waren die Leute so steif und autoritär, wie man es sich heute kaum mehr vorstellen kann. Im Fernsehstudio saßen graue Herren (und ein paar graue Damen), die für das Publikum einen Blick auf die Studiouhr warfen, um dann mitzuteilen, wie spät es war. Im Januar hatten sich die Rolling Stones geweigert, sich am Schluss der Unterhaltungssendung Sunday Night at the London Palladium zum geheiligten Abschiedsritual winkend auf die Drehbühne zu stellen. Dieses Sakrileg hatte für einen Skandal gesorgt und für erregte Debatten darüber, wie sehr die Gruppe die öffentliche Moral untergrabe. Und jetzt wurden die Kritiker also mit diesem Menschen konfrontiert, der die stets korrekte Dame BBC durch seine Disziplinlosigkeit gezwungen hatte, ihn hinauszuwerfen.
Dieser Schauspieler, von dem niemand wusste, was er mit The Prisoner zu tun hatte, demonstrierte nun, wie man mit einem in der Ecke stehenden Hochrad fuhr. McGoohan verschwand zwischenzeitlich und kam dann als Cowboy wieder - das sei sein Kostüm für die nächste Episode, erklärte er. Das war die volle Wahrheit, doch die Gäste fühlten sich auf den Arm genommen. Anschließend wurden sie zurück nach London gebracht. Sollte McGoohan beabsichtigt haben, sie gegen sich und die neue Serie aufzubringen, hatte er ganze Arbeit geleistet. Es war der Beginn von dem, was später oft als "professioneller Selbstmord" bezeichnet wurde.
Von Robin Hood zu John Drake
Das britische Privatfernsehen nannte sich Independent Television (ITV), und "unabhängig" war es zumindest insofern, als es sich dabei um einen Zusammenschluss von selbständig operierenden Firmen handelte (die Konzentration kam später). Die ITV-Programme wurden nicht überall zur selben Zeit ausgestrahlt, sondern je nachdem, welche Firma über welche Sendelizenzen verfügte (weshalb man in Nachschlagewerken ganz unterschiedliche Daten zur Erstausstrahlung von Sendungen finden kann - mitunter gibt es Differenzen von bis zu einem Monat). Ein Unternehmen namens Associated Television (ATV) hatte die Lizenz für die Midlands (Montag bis Freitag) und für London (Samstag und Sonntag) erhalten. Der starke Mann dort war Lew Grade, der genau so aussah, wie man sich den klassischen Medienmogul vorstellt: klein, übergewichtig, mit einer riesigen Zigarre im Mund. Roger Moore hat ihn so charakterisiert: "Raucht Zigarren, die größer sind als er selbst."
Grade stellte mit seiner Produktionsfirma ITC Serien her, die sich auch in die USA verkaufen ließen: The Adventures of Robin Hood, The Adventures of Sir Lancelot, The Adventures of William Tell. Diese Serien unterschieden sich vor allem dadurch, dass in der einen mit Pfeil und Bogen geschossen wurde und in der anderen mit der Armbrust. Als die Amerikaner das nicht mehr sehen wollten, musste etwas Neues her. Ralph Smart, ein in London geborener Australier, sollte sich etwas ausdenken. Smart war aufgefallen, wie gut sich die James Bond-Romane von Ian Fleming verkauften und dass TV-Reiseberichte hohe Einschaltquoten erzielten. Bei einer Kombination von Beidem schien der Erfolg garantiert.
Im Mittelpunkt der neuen Serie, Danger Man, sollte also ein Geheimagent stehen, den seine Aufträge rund um die Welt führen würden. Mit Blick auf den US-Markt sollte John Drake für eine Filiale der NATO in Washington arbeiten. Als Hauptdarsteller wurde Patrick McGoohan engagiert. Den Charakter, den er später in The Prisoner spielte, beschreibt eine Nummer 2 so: "Er kann sogar das Anziehen eines Morgenmantels wie einen Akt des Widerstands aussehen lassen." Das könnte man auch über McGoohan selbst sagen. Grade hat es so formuliert: "Ich habe keine Probleme mit Patrick McGoohan. Es ist sehr leicht, mit ihm auszukommen. Ich stimme einfach allem zu, was er sich wünscht." Das war natürlich übertrieben. Aber nur ein wenig.
Patrick McGoohan war 1959 zum besten Bühnenschauspieler des Jahres gewählt worden, hatte einen Preis als bester Fernsehschauspieler erhalten und wusste, was er wollte. Deshalb gründete er bald nach seinem Einstieg ins Seriengeschäft eine eigene Produktionsfirma, Everyman Films (zusammen mit David Tomblin, der bei Danger Man als Regieassistent arbeitete). Für alle Fälle. Die ersten Bücher mussten so lange umgeschrieben werden, bis Drake so war, wie McGoohan ihn haben wollte: "Ich versuchte so gut wie möglich, einen rätselhaften Charakter aus ihm zu machen, in der Hoffnung, dass man nie sicher sein würde, was er in der nächsten Sequenz tatsächlich tun würde. Seine wichtigste Waffe gegen seine Widersacher ist seine Intelligenz." John Drake setzt auf seinen Intellekt, und weil das so ist, wird auch die Intelligenz des Zuschauers gefordert. Es ist erstaunlich, wie kompliziert viele der Episoden gebaut sind. Danger Man ist insgesamt noch recht formelhaft, lehrt aber bereits, dass man das Publikum auch fordern darf, statt sich auf dessen (unterstelltes) Niveau zu begeben, das vorzugsweise sehr weit unten angesiedelt wird.
Der US-Sender CBS kaufte die Serie als Ersatz für In the Name of the Law mit Steve McQueen, wo viel mehr geschossen wurde. Vielleicht lag es an dieser Programmierung, dass die Amerikaner John Drake nicht mochten. Grade stellte die Serie nach 39 Episoden ein (1960/61), lernte dann aber, dass sein Geschäftsmodell auch ohne den US-Markt funktionieren konnte. Danger Man war in vielen Ländern so erfolgreich, dass er 1965 in neuen Fällen auf den Bildschirm zurückkehrte. John Drake wechselte die Nationalität, arbeitete von nun an für den britischen Geheimdienst und sprach mit britischem Akzent. McGoohan war bald der bestbezahlte TV-Darsteller in Großbritannien.
John Drake mag nicht mehr
1966 stellte man auf Farbe um, aber nach zwei Episoden der neuen Staffel hatte McGoohan, dessen Vertrag auslief, keine Lust mehr auf John Drake. Wie es danach weiterging, darüber gibt es unterschiedliche Versionen. Das ist immer so, wenn mehrere der Beteiligten sich äußern und anschließend lange genug leben, um Jahre später weitere Interviews zu geben. Die Erinnerung ist selektiv, und sie hängt vom jeweiligen Interesse des Erinnernden ab. Und wenn einige von denen, die früher zusammengearbeitet haben, mittlerweile verfeindet sind, wird alles noch viel komplizierter. Hier also die wahrscheinlichste Variante der Geschichte. Sie beginnt mit dem in Berlin geborenen George Markstein, dessen Familie vor den Nazis nach England geflohen war.
Markstein war im Zweiten Weltkrieg beim Secret Service gewesen und galt bei Film und Fernsehen als Experte für Spione aller Art. Bei Danger Man arbeitete er als Story Editor. Die Serie sicherte eine ganze Reihe von Arbeitsplätzen, und Markstein fühlte sich zur Bewahrung dieser Arbeitsplätze aufgerufen. Er hatte von geheimen, angeblich irgendwo in Schottland versteckten Lagern gehört, die wie ein Ferienort angelegt waren und in denen Spione gefangen gehalten wurden oder, einer anderen Version nach, in kontrollierter Umgebung ihren Lebensabend verbrachten, ohne Staatsgeheimnisse ausplaudern zu können. Wie wäre es also mit einer neuen Serie (mit altem Personal), in der McGoohan einen Mann spielen würde, der gegen seinen Willen in ein solches "Ferienlager" gebracht wird und fortan versucht, von dort zu entfliehen? McGoohan gefiel die Idee so gut, dass er die Serie selbst produzieren wollte. Er kannte auch bereits den perfekten Schauplatz: Portmeirion, wo mehrfach Außenaufnahmen für Danger Man gemacht worden waren.
Ein Global Village in Wales: Portmeirion
Der Architekt Sir Clough Williams-Ellis hätte sich bestimmt gut mit Prinz Charles verstanden. Auch er war kein Freund der modernen Architektur, die er steril und einfallslos fand. Sir Clough wollte ein Musterdorf bauen, das beweisen sollte, dass sich Bauelemente aus den unterschiedlichsten Gegenden und Stilepochen zu einem harmonischen Ganzen verbinden und in die Landschaft einfügen ließen, ohne diese zu verschandeln. Er verwirklichte sein Vorhaben auf einer kleinen Halbinsel an der Küste von Nordwales. Dort entstand in zwei Bauphasen (1925-1939, 1954-1972) das Dorf Portmeirion, in dem man sich fühlt wie überall und nirgends. 1926 (am Ostersonntag) machte Sir Clough es der Öffentlichkeit zugänglich. Aldous Huxley, George Bernard Shaw und Ernest Hemingway verbrachten in Portmeirion ihren Urlaub, aber es blieb weithin unbekannt. McGoohan wollte unbedingt dort drehen, weil das Dorf "schön genug, geheimnisvoll genug und klaustrophobisch genug" für The Prisoner war.
Markstein übernahm den Posten eines Script Editor. In einem Interview hat er seine Funktion so beschrieben:
Ich war kein Script Editor, tatsächlich war ich ein Story Editor … das klingt pedantisch, ist aber wichtig. Bei Script Editor denkt man an jemanden, der mit Rotstift in einem Drehbuch herumstreicht; ein Story Editor ist einer, der sich Geschichten ausdenkt. Ein Story Editor ist die Schlüsselfigur bei jeder Serie; er ist der Mann, in dessen Händen das Ethos der Serie liegt, der Geist der Serie, und es ist seine Aufgabe, die Autoren auszusuchen, so wie der Regisseur die Schauspieler und die Stars besetzt. Es ist seine Aufgabe, diesen Autoren die Grundidee der Serie zu vermitteln und, hoffentlich, sicherzustellen, dass sie die Art von Buch schreiben, die erforderlich ist - er ist der Sheriff mit der Schrotflinte, der das Ganze überwacht.
Jack Shampan, der es durchaus mit Ken Adams (die Bond-Filme) aufnehmen kann, entwarf das Produktionsdesign, Markstein und Tomblin schrieben das Drehbuch für die erste Episode, und McGoohan überredete Lew Grade, The Prisoner zu finanzieren. So entstand die Serie, die wirkt, als hätten sich Jonathan Swift, Orwell, Huxley, Gilbert Keith Chesterton (man lese dessen Roman The Man Who Was Thursday), Franz Kafka, Lewis Carroll und Eric Ambler zusammengetan, um dem Fernsehen eine neue Richtung zu weisen. Eine Erwähnung verdient hat auch Orson Welles. McGoohan hatte in dessen legendärer Inszenierung von Moby Dick - Rehearsed mitgewirkt, und die Zusammenarbeit mit Welles scheint bei ihm (wie bei vielen anderen) einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. 1956 hatte Welles den sehr innovativen, mit liebgewordenen Sehgewohnheiten brechenden Pilotfilm für eine Fernsehreihe gedreht, einen Preis gewonnen und dann miterleben müssen, wie The Fountain of Youth sofort in irgendeinem Archiv verschwand. The Prisoner knüpft in vieler Hinsicht an das an, was Welles begonnen hatte. Rückblickend muss man leider sagen, dass das Fernsehen kaum etwas aus den in der Serie aufgezeigten Möglichkeiten gemacht hat. Man kann das daran sehen, dass The Prisoner, obwohl inzwischen 40 Jahre alt, auch heute noch verstörend wirkt bzw. bei den Freunden des Althergebrachten für Verärgerung sorgt.
Es gibt eine Episode von Danger Man, die wirkt wie ein Probelauf für The Prisoner: "Colony Three". John Drake nimmt die Identität eines von Moskau angeworbenen Bürokraten an und wird mit anderen Engländern in ein künstliches Dorf hinter dem Eisernen Vorhang gebracht, in dem für russische Spione das Leben in Großbritannien simuliert wird. Mit bösem Humor wird ein von Apparatschiks kontrollierter Mikrokosmos gezeigt (niemand von den britischen "Lehrkräften" darf das Dorf je wieder verlassen) und dabei doch nur der Alltag im Vereinigten Königreich nachgestellt. Die Inszenierung gibt sich betont realistisch und erzeugt gerade dadurch surreale Momente: immer dann, wenn die Engländer den Russen demonstrieren, wie man sich "typisch englisch" verhält. Regisseur war Don Chaffey. Ihn engagierte McGoohan für "Arrival", die erste Folge von The Prisoner (und einige andere).