Die Welt ist ein Dorf

Seite 5: Der Mensch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

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Diese Episode ("Do Not Forsake Me, Oh My Darling") hat McGoohan viel Kritik eingebracht. Die Seele des Helden wird mit Hilfe der "Seltzman-Maschine" in den Körper eines anderen verpflanzt, worauf der Gefangene in diesem fremden Körper nach dem verschwundenen Seltzman sucht, um seinen eigenen wiederzubekommen. Das war ein Affront. Und ein interessantes Experiment. Was passiert, wenn ich aus einem ausgeklügelten, den sich identifizierenden Zuschauer verlangenden System die zentrale Identifikationsfigur entferne? Wieder stellt sich die Frage, wo die Trennlinie zwischen einer Rolle und deren Darsteller verläuft, mit welchen Tricks uns Fiktion als Realität verkauft wird und, letztendlich, welche Auswirkungen die Verfahrensweisen von Film und Fernsehen für unser Konzept von Identität haben. "The Schizoid Man" spielt das Ganze unter anderen Vorzeichen durch: McGoohan/der Gefangene sieht sich mit einem Doppelgänger konfrontiert. Diese Episode wurde vom ZDF nie ausgestrahlt.

Wer die Mechanismen der Film- und Fernsehindustrie offen legt, musste schon immer mit bösen Reaktionen rechnen. Hitchcock erfuhr das, als er den Frauen- und Raubtierdompteur in Marnie (1964) mit Sean Connery besetzte und neben dem "klassischen Hollywoodfilm" auch gleich noch das Phänomen des Bondismus auseinander nahm; ihm wurden darauf handwerkliches Unvermögen, Alkoholismus und ein pathologisches Verhältnis zu seiner Hauptdarstellerin attestiert. Weil wir gerade bei James Bond sind: Die Wunschbesetzung der Produzenten war Patrick McGoohan gewesen, damals noch als John Drake aktiv. Er hatte abgelehnt. Nach fünf Bond-Filmen hatte auch Sean Connery keine Lust mehr. Die Reihe spielte aber so viel Geld ein, dass sie unbedingt fortgeführt werden sollte. Die Produzenten kamen überein, Connery einfach durch einen anderen Darsteller zu ersetzen. Einer von ihnen fragte wieder bei McGoohan an und holte sich die nächste Abfuhr. Man muss im Namen des Erfinders der "Seltzman-Maschine" nur einen Vokal ändern, um bei diesem Produzenten zu landen: Harry Saltzman. Könnte das Gerät auch die "Hollywood-Maschine" heißen?

Der Sheriff mag nicht mehr

Nach 13 Folgen hatte George Markstein die Nase voll. Er drehte den Spieß um und kündigte beim Produzenten McGoohan, so wie dieser im Vorspann bei ihm kündigte. Die Ironie dabei: Markstein wollte das dauernde Spiel mit Realität und Fiktion nicht mehr mitmachen und landete durch seine reale Kündigung gleich wieder in der fiktiven Welt von The Prisoner (diesmal saß eben McGoohan hinter dem Schreibtisch). Auch Lew Grade wollte nicht mehr mitmachen. Die vier Episoden, die er noch in Auftrag gab, verdanken ihre Existenz vermutlich der Tatsache, dass er so viele Teile vorab verkauft hatte.

McGoohan hatte allerdings etwas in Gang gesetzt, dem man sich selbst dann nicht entziehen konnte, wenn man es ablehnte. Sogar der Sender, der soeben die Einstellung der Serie beschlossen hatte, machte mit. Nach der Seltzman-Episode (Folge 13) legte The Prisoner eine Pause ein. Bei ATV füllte man das Loch im Programmschema mit den beiden farbigen, bisher nicht ausgestrahlten Episoden von Danger Man. Inzwischen musste dem Fernsehpublikum eigentlich klar geworden sein, dass es sich bei The Prisoner nicht um die Fortsetzung dieser Serie handelte. Jetzt wurde es plötzlich mit einem Patrick McGoohan konfrontiert, der doch wieder John Drake war. Die Verwirrung war komplett. Wer die richtige Reihenfolge sucht, sollte ernsthaft in Erwägung ziehen, "Koroshi" und "Shinda Shima" (Danger Man) mit aufzunehmen.

George Markstein blieb standhaft. Er behauptete bis zu seinem Lebensende, dass der namenlose Gefangene kein anderer als John Drake sei. Kurioserweise gab es aber zwei John Drakes: den Geheimagenten der NATO mit pseudo-amerikanischem Akzent und den Mann, der für den britischen Geheimdienst arbeitete. Letzterer bekämpfte in zwei Folgen von Danger Man in Japan eine Mördersekte. Danach tauchte McGoohan wieder als Prisoner auf, ab sofort ohne Story Editor. Lew Grade hatte gehofft, dass sein gewinnbringendster Star noch zur Vernunft kommen würde. Stattdessen setzten McGoohan und Tomblin zu einem Finale furioso in vier Akten an. Ob man die letzten Episoden nun gelungen findet oder nicht: sie haben etwas ungemein Befreiendes, weil man ihnen in jeder Einstellung anmerkt, dass sich hier ein paar Leute etwas getraut haben, ohne an die nächste Kreditkartenabrechnung, die Karriere (unter der Unique Learner Number demnächst einsehbar) oder die Arbeitsplätze zu denken (viele von denen, für deren Jobs sich Markstein verantwortlich fühlte, waren inzwischen zu Roger Moore übergelaufen, der als "Simon Templar" für Planungssicherheit stand und in reifem Alter noch die Filmrolle übernehmen sollte, die McGoohan immer abgelehnt hatte).

Endspiel

Die Western-Episode "Living in Harmony" soll nur deshalb gedreht worden sein, weil McGoohan gern einen Cowboy spielen wollte. Das mag so gewesen sein. Die Wahl des Genres macht aber auch deutlich, dass mit dem Ort Harmony die USA gemeint sind. In der Stadt wird zuerst geschossen, Fragen stellt man später. Der Gefangene ist als Sheriff zu sehen, der sich weigert, Probleme mit der Waffe zu lösen. Vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs war das eine politische Aussage, die nicht allen genehm war. Es liegt nahe, dort den Grund dafür zu suchen, warum CBS sich weigerte, die Folge auszustrahlen (auch das ZDF wollte sein Publikum vor dieser Episode lieber bewahren). Die großen US-Sender waren damals stramm auf Regierungskurs. Später schraubten sie so lange an der Chronologie herum, bis sie behaupten konnten, ihre kritische Berichterstattung habe das Ende des Krieges eingeleitet (es war eher so, dass die Sender sich umorientierten, als sie merkten, dass die Mehrheit ihres Publikums vom Sterben in Vietnam genug hatte). Laut offizieller CBS-Version wurde "Living in Harmony" nicht ausgestrahlt, weil darin bewusstseinsverändernde Drogen zum Einsatz kommen. Demnach hätte man etwa ein Drittel der Serie nie zeigen dürfen.

Von "The Girl Who Was Death" hat jemand gesagt, es sei die surrealistische Version von James Bond, entstanden unter Mitwirkung der Marx Brothers. Die Geschichte beginnt mit einem Scherz, der sich erst erschließt, wenn man die Schlusstitel liest (heutzutage also gar nicht mehr, falls man auf das Fernsehen angewiesen ist). Im Auftrag des verrückten Wissenschaftlers Dr. Schnipps wird ein Cricket-Spieler mit einer als Ball getarnten Bombe getötet. Der Darsteller des Opfers gehörte zur altehrwürdigen Royal Shakespeare Company. Seit Jahren erhielt der Arme einen Teil der für McGoohan bestimmten Fanpost. Denn sein Name war Drake, John Drake. McGoohan und dem regieführenden David Tomblin muss es viel Freude gemacht haben, ihn in die Luft zu sprengen. Anschließend verhindert der Gefangene (als Geheimagent in vielen Verkleidungen), dass London mit einer als Leuchtturm getarnten Rakete zerstört wird. Dr. Schnipps hält sich übrigens für die Reinkarnation von Napoleon. McGoohan bringt sich also gewissermaßen selbst zur Strecke, denn für seine Gegner war er längst der Verrückte, der als Napoleon durchs Irrenhaus läuft. Mit dabei ist auch ein Wanderer zwischen den Serien: Christopher Benjamin spielt dieselbe Kontaktperson namens Potter, als die er bereits in "Koroshi" (Danger Man) zu sehen war. In "Shinda Shima" schlüpft John Drake in die Identität eines Geheimnisträgers, der gekündigt hat und trifft auf Kenneth Griffith, den Darsteller des Dr. Schnipps. Kann das ein Zufall sein?

Und wenn sie nicht gestorben sind …

Die erste 13er-Staffel sollte ursprünglich mit "Once Upon A Time" enden, einem kammerspielartigen Psychoduell zwischen dem Gefangenen und Nummer 2 (Leo McKern). Dann beschloss McGoohan, die noch mit Markstein als Story Editor entstandene Episode nach hinten zu verschieben - als erste Hälfte der finalen Doppelfolge. Der Schluss (wenn er das ist) widmet sich u.a. der Unheimlichkeit eines Mediums, das von Anfang an die Grenzen zwischen Leben und Tod verwischt hat (Charlton Heston stirbt, und sofort können wir ihn im Fernsehen als Moses oder Ben Hur sehen), dies aber nicht thematisiert wissen will. "Fall Out" ist eine als Happening inszenierte Endzeitvision. Die unter Kapuzenmänteln verborgenen Mitglieder eines Inquisitionstribunals werden mit Maschinenpistolen niedergemäht, die Beatles singen dazu "All You Need Is Love", Alexis Kanner darf nach Lust und Laune improvisieren und ein Heer von Statisten ins Schwitzen bringen (McGoohan hatte demjenigen, der ihn fangen würde, 5 Pfund versprochen).

Eigentlich war Kanner (als fiktive Figur) in "Living in Harmony" erschossen worden, und dann hatte er in der "realen" Rahmenhandlung auch noch Selbstmord begangen. Trotzdem war er wieder mit dabei. Vielleicht ist es das, was Markstein meinte, als er McGoohan vorwarf, Gott sein zu wollen. Dabei macht dieser nur von den Möglichkeiten des Mediums Gebrauch. Dem verdankt auch Leo McKern (als Nummer 2) seine Wiederauferstehung. Am Ende des Psychoduells stirbt er, also wird er in "Fallout" reanimiert. Seit den Dreharbeiten zu "Once Upon A Time" war einige Zeit vergangen. McKern hatte inzwischen seinen Bart abrasiert und wollte sich keine künstlichen Haare ins Gesicht kleben. Für McGoohan kein Problem. Die tote Nummer 2 wurde von einigen Wissenschaftlern eingeseift und rasiert, als Teil der Wiederbelebung. Das wurde allgemein als eine Frechheit empfunden. Dabei ist die lebensspendende Funktion der Nassrasur im Grunde nicht absurder als das an eine Trockenhaube erinnernde Reanimationsgerät. Dieser Apparat hatte nur den Vorteil, dass er innerhalb des Science Fiction-Genres als ein akzeptables Requisit galt. Auch die Phantastik ist in Film und Fernsehen strengen Regeln unterworfen.

"Who runs this place? Have you never wondered? Have you never tried to find out?"

Patrick McGoohan in The Prisoner

Am Ende wird das Village zerstört, eine Rakete fliegt zum Mond, der Gefangene hat sich die Freiheit erkämpft und wird in einem Lastwagen zurück nach London gebracht. Manch ein Zuschauer wird gehofft haben, dass dort seine Verlobte auf ihn warten würde, die wir in "Do Not Forsake Me, Oh My Darling" kennenlernen. Aber McGoohan raste lieber ein letztes Mal in seinem Lotus über die M1, wie immer auf Konfrontationskurs. Dann war eine der subversivsten und abenteuerlustigsten Serien der Fernsehgeschichte vorbei, oder doch beinahe. 16 Folgen lang hatte der Gefangene immer wieder gefragt, wer hinter all dem stecke, wer die Nummer 1 sei. Bei Publikum und Kritikern galt es als ausgemacht, dass es in Episode 17 wenigstens darauf eine Antwort geben würde. McGoohan erfüllte die Erwartungen auf seine Weise. Er inszenierte das Aufeinandertreffen des Gefangenen und der Nummer 1 so, dass man deren Gesicht nur einige wenige Sekunden zu sehen bekam. Die meisten Zuschauer registrierten das gar nicht mit. Eine zweite Chance gab es nicht. Keine dreifache Informationsvergabe in The Prisoner.

In Großbritannien war man längst dabei, die Serie zum baren Unsinn zu erklären (stets ein probates Mittel, das Missliebige und Beunruhigende auf Distanz zu halten), doch The Prisoner ließ keinen kalt, der bei "Fallout" noch vor dem Bildschirm saß. Morddrohungen gegen McGoohan, wie oft zu lesen, gab es eher nicht, aber dessen Verweigerung eines versöhnlichen Happy Ending mit allseits befriedigender Beantwortung der wichtigsten Fragen ("Why did you resign?" "Who is Number 1?") sorgte für den größten Fernsehskandal des Jahres 1968. Die dritte große Frage, die in der Serie immer wieder gestellt wird, konnten die Zuschauer sich selbst beantworten: "Whose side are you on?" Das Resultat: nur eine kleine Minderheit stand auf der Seite des vormaligen Publikumslieblings McGoohan. Die Empörung war so enorm, dass der Sender ATV sich genötigt sah, in einer nachgereichten Erklärung zu erläutern, worum es in der Serie ging und wie die Geschichte endete - kein ganz leichtes Unterfangen, weil man es beim Sender selbst nicht wusste.

Vom Flop zum Kult

McGoohan setzte sich mit seiner Familie in die Schweiz ab und zog dann nach Los Angeles, um dort Gedichte zu schreiben. Das war nur konsequent. In "A Change of Mind" verteidigt er vehement die gesellschaftspolitische Funktion der Poesie. Seine und Tomblins Everyman Films produzierte nie wieder etwas. 1974 meldete die Firma Konkurs an. 1977 lief The Prisoner beim nicht-kommerziellen US-Sender PBS, erstmals unzensiert und vielleicht sogar in der richtigen Reihenfolge (das kann man sich aussuchen). Im Orwell-Jahr 1984 zeigte Channel 4 die Serie auch in Großbritannien das erste Mal ohne Kürzungen (deutsche Fernsehzuschauer warteten auf so etwas vergebens). Im Anschluss lief eine Dokumentation, Six Into One: The Prisoner File. Darin sagte George Markstein unfreundliche Dinge über McGoohan, der erst nicht mitmachen wollte, wenn Markstein dabei war, dann doch ein Interview gab, schließlich die Genehmigung zurückzog, es zu senden und zuletzt ein Interview schickte, das er mit sich selbst geführt hatte. Channel 4 zeigte Six Into One auch ohne Genehmigung, aber es scheint nie eine Wiederholung gegeben zu haben. Das ist schade, denn bis heute ist The Prisoner File die sehenswerteste Dokumentation zur Serie (Transkripte der Interviews mit Markstein, Tomblin, Shampan und McGoohan gibt es hier).

Inzwischen hat The Prisoner Kultstatus. Ob die Serie noch immer der Zeit voraus ist, oder ob wir den Mann im Lotus mittlerweile eingeholt haben, wird die Zukunft zeigen. Patrick McGoohan, man glaubt es kaum, ist vor ein paar Wochen 80 geworden. Und der Gefangene ohne Namen ist es auch, denn die beiden sind am selben Tag geboren (am 19. März 1928). Man möchte ihnen wünschen, dass es ihnen doch noch gelingt, The Prisoner auf die Kinoleinwand zu bringen (alle bisherigen Versuche sind gescheitert, weil McGoohan noch immer genau weiß, was er will). Andernfalls könnte es geschehen, dass Patrick McGoohan den Kinogehern als König von England in Erinnerung bleibt (Braveheart) oder gar als die Nummer 2, der Clint Eastwood in Escape From Alcatraz davonschwimmt. Das hat er nicht verdient. Be seeing you, Patrick.