Die Welt ist ein Dorf

Seite 3: Freie Fahrt für freie Bürger

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Von Chaffey stammt auch der Vorspann zur Serie. Einen besseren wird man schwer finden. Der Vorspann ist bis heute ein Musterbeispiel für narrative Ökonomie. Für alle, die Folge 1 nicht gesehen haben, wird in einer Minute (zunächst ganz ohne Dialog) die Ausgangssituation rekapituliert. Zugleich ist der Vorspann programmatisch, The Prisoner im Kurzformat. Der Lotus 7 (ein für den Straßenverkehr zugelassenes Fahrzeug mit dem Design eines Rennwagens) fährt frontal auf uns zu. In dem Auto sitzt der Mann, der früher John Drake war. Was aussieht wie eine Rennstrecke, ist ein damals noch nicht frei gegebenes Teilstück der M1, der ersten Autobahn Großbritanniens. Ein erster Abschnitt war 1959 eröffnet worden, und nach wie vor gab es viele Briten, die lieber auf eine Autobahn verzichtet hätten, weil sie mit dieser Hitler und Nazideutschland assoziierten; die Unterbringung der Straßenbauer in einem ehemaligen Lager für Kriegsgefangene trug nicht eben dazu bei, ihre Befürchtungen zu zerstreuen. Es mag kurios erscheinen, aber: 1967 galt die Debatte, ob der Bau einer Autobahn eine unheilvolle Verbindung zum Faschismus herstelle oder ob die Demokratie dieser den Teufel austriebe, indem sie sich ihrer bemächtigte, als noch nicht entschieden. McGoohan (bzw. sein Double) fährt also gleichsam auf einer offenen Frage direkt auf uns zu.

Die ersten Bilder enthalten somit bereits eine jener politischen Anspielungen, mit denen McGoohan The Prisoner durchzog, ohne groß darauf hinzuweisen oder gar Erläuterungen dazu abzugeben. Das ist typisch für die Serie, die voller solch subtiler Anspielungen steckt, sie aber gern für sich behält. Denn McGoohan lieferte nur widerwillig Erklärungen, und wenn doch, dann solche, die mehr Fragen aufwarfen, als sie beantworteten. Die Autobahn ist der perfekte Ausgangspunkt für diese Serie, die keine Kategorisierungen mag, weil sich in einem Bild das Philosophische mit dem Banalen verbindet und die schönen Gedanken auf eine prosaische Realität stoßen.

Als die M1 eröffnet wurde, feierten die Verantwortlichen einen Sieg des Fortschritts. Freie Fahrt für freie Bürger auch in England. Rasch gab es Geschwindigkeitskontrollen, und als ein Polizist überfahren wurde, führte das zur Schaffung eines bürokratischen, zentralistisch organisierten Ungetüms, mit dem man die Autobahn in den Griff kriegen wollte. Bald war die M1 für ihre Staus berüchtigt. The Prisoner beginnt also mit einer Wunschvorstellung (das sich frei im Raum bewegende Individuum), die sich bereits als völlig illusorisch erwiesen hatte. Hier eine von McGoohans wenigen Äußerungen zur Serie, aus einem Interview von 1989. Es geht um das mysteriöse Hochrad, das dem Village als Emblem dient und das als symbolischer Kommentar zum Zustand der Gesellschaft im Zimmer von Nr. 2 steht: "[Das Hochrad] repräsentierte den Fortschritt: Man muss nur stundenlang mit ein paar tausend anderen Automobilen im Stau stecken, um zu wissen, was das bedeutete. Im Verkehrsstau, in den unbeweglichen Autos, ist man Teil einer Statistik, eine Nummer, nutzlos, ein Gefangener - auf dem Fahrrad würde man schneller nach Hause kommen."

Im Reich der Kryptokratie

Der Mann im Lotus fährt in das Londoner Regierungsviertel. Er kommt an den Symbolen von Demokratie (das Parlamentsgebäude) und Monarchie (der Buckingham Palast) vorbei, und irgendwo dazwischen hat die Kryptokratie ihr Hauptquartier, eine anonyme, durch einen unterirdischen Zugang zu erreichende Behörde, von der die wirkliche Macht auszugehen scheint (wir könnten uns auch in Brüssel befinden, wo die EU-Beamten herrschen). Am Ende des Vorspanns wacht der Mann im Village wieder auf, von dem Roland Topor meint, es sei die aktuellste Version des Reichs der Circe: "Diejenigen, die sich von ihren vulgären Reizen verführen lassen, werden in Tiere verwandelt: in diesem Fall in Esel und Schafe. Nummer 6 ist der neue Odysseus." Oder doch der neue Sysyphos?

Film und Fernsehen mögen es zielgerichtet oder, mit einem Fremdwort, teleologisch. Die Handlung wird durch einen Konflikt vorangetrieben, und am Ende ist der Konflikt gelöst, was sich vorzugsweise dadurch zeigt, dass der Held die Heldin kriegt. So steht es im Regelbuch für erfolgreiche Geschichten. Und was könnte zielgerichteter sein als dieser Mann, der, den Blick immer nach vorn gerichtet, seiner Kündigung entgegenfährt. Aber dann erleben wir ihn dabei, wie er gegen die jeweilige Nummer 2 aufbegehrt, um sich am Ende einer jeden Episode wieder (oder immer noch) im Village zu befinden. Und die 17. und letzte Episode, in der er schließlich zu entkommen scheint, endet mit dem Bild, mit dem Folge 1 angefangen hat.

Der kahlköpfige Bürokrat, der im Vorspann vor einer zweidimensionalen, rechteckig zugeschnittenen Weltkarte sitzt ("The map is not the territory", war ein Leitspruch der Postmoderne) und dem der Prisoner seine Demissionierung überreicht, ist nicht irgendein Kleindarsteller, sondern George Markstein - der Story Editor, der nach eigener Stellenbeschreibung darüber zu wachen hat, dass die narrativen und dramaturgischen Regeln eingehalten werden. Ihm und seinen Funktionärskollegen, das wird im Lauf der Serie immer deutlicher, kündigt McGoohan die Gefolgschaft. Denn das Strukturprinzip von The Prisoner ist der Kreis. "Der Kopf ist rund", sagt Francis Picabia, "damit das Denken die Richtung ändern kann."

Alles dreht sich

Wie es Markstein wohl ging, als er das Buch zur Episode "A, B & C" auf den Schreibtisch bekam? Einer Wissenschaftlerin ist es gelungen, auf einem Bildschirm das Unbewusste des Gefangenen sichtbar zu machen. Mittels einer Droge dringt sie in seine Träume ein, implantiert dort eine Figur aus seiner Vergangenheit und sieht mit der aktuellen Nummer 2 (und uns, dem Fernsehpublikum) zu, was sich daraus ergibt. Für eine Agentenserie ist das schon fast zuviel an Science Fiction und Selbstreflexivität, und dann wird statt Figur A Figur B in den Traum eingesetzt, die Geschichte fängt von vorne an und danach, mit Figur C, ein drittes Mal. So dreht sich wieder alles im Kreis, wir erfahren viel über das formelhafte Erzählen von Geschichten in Film und Fernsehen, und nebenbei wird noch das Hollywood-Prinzip der dreifachen Informationsvergabe entlarvt. Als gutes Handwerk gilt in kommerziellen Erzählfilmen, wenn das, was "wichtig" ist, dreimal mitgeteilt wird, damit der Zuschauer es bestimmt kapiert. Von The Prisoner, warnt "A, B & C", sollten wir diese Art der Bevormundung nicht erwarten.

Patrick McGoohan schrieb einige Drehbücher (als er selbst oder als "Paddy Fitz") und führte bei mehreren Episoden selbst Regie (als McGoohan oder als "Joseph Serf"). Die erste davon, "Free For All", lieferte eine gallige Abrechnung mit den Ritualen einer Pseudo-Demokratie, in der Freiheit mit Freizeit verwechselt und das Wahlvolk zum Karneval mit abschließendem Urnengang beordert wird, um danach wieder in der Erstarrung zu versinken. Das brachte ihm prompt den Vorwurf ein, er sei ein faschistoider Macho und ein Anti-Demokrat. Es wäre interessant, die Folge so zu sehen, wie sie damals, Ende der 60er, tatsächlich ausgestrahlt wurde. Private Fernsehsender haben die Möglichkeit, Kürzungen damit zu rechtfertigen, dass Platz für die Werbung geschaffen werden muss (dieser Teil der Zensurgeschichte wird sich wohl niemals ganz rekonstruieren lassen). Bei "Free For All" scheint es in den USA und in Großbritannien besonders viele Werbebotschaften und Programmhinweise gegeben zu haben.

In Deutschland wurde The Prisoner vom öffentlich-rechtlichen ZDF ausgestrahlt. Dort hatte man wenig Verständnis für die beharrliche Weigerung des Helden, eine Nummer zu sein, weshalb man die Serie kurzerhand Nummer 6 nannte. Das sagt schon alles. In Mainz hing man noch der von Adenauer favorisierten Form des demokratischen Prozesses an. "Free For All" wurde komplett gestrichen - zusammen mit drei weiteren Folgen. Bei insgesamt 17 Episoden ist das eine beachtliche Quote. (McGoohans Rache: "Dance of the Dead" ist eine bittere Abrechnung mit Veranstaltungen à la Mainz bleibt Mainz und allem, was Carmen Nebel jemals moderieren wird. In der Episode kann man studieren, wie schnell sich die schunkelnde Menge in einen blutrünstigen Mob verwandelt, der Jagd auf Abweichler macht.)

"The General" nimmt Anleihen bei Godards Alphaville und bietet Fundamentalkritik an einem Bildungssystem, das den Lernenden in immer kürzerer Zeit isolierte, in Quiz-Shows abfragbare Fakten eintrichtert, ohne ihnen ein Verständnis für Zusammenhänge zu vermitteln oder gar das unabhängige Denken zu fördern ("Fragen", sagt eine der Nummern im Village, "sind eine Last."). Der Gefangene setzt auf die Kunst als Mittel des Widerstands. Bei seinen Konfrontationen mit der jeweiligen Nummer 2 zahlt es sich aus, dass er Autoren wie Cervantes kennt, für dessen voluminösen Don Quixote im vom Village propagierten 3-Minuten-Wissen kein Platz mehr ist. Er setzt aus einem abstrakten Kunstwerk ein Boot zusammen, mit dem er davonsegeln kann und unterminiert die Position von Nummer 2 mit Hilfe der Musik. Das heißt nun aber nicht, dass die Hochkultur auf ein Podest gestellt würde. In "Hammer Into Anvil" erfährt man, dass sich der Titel von Goethe ableitet ("Du musst Hammer oder Amboss sein."), was dann jedoch - zum Schrecken aller Deutschlehrer - zu einem bizarren Duell führt, bei dem die Kontrahenten auf Trampolins gegeneinander antreten, mit Helm und im roten Kittel.