"Die Welt, mit der wir es in politischer Hinsicht zu tun haben, liegt außer Reichweite"
Seite 2: Aus dem Vorwort von Walter Ötsch und Silja Graupe
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Fast 100 Jahre nach Die öffentliche Meinung erweist sich Lippmann als früher Warner vor einer Entwicklung, die mit einer derartigen Wucht über uns hereingebrochen ist, dass es schwerfällt, eine reflexive Distanz einzunehmen. Marketing, Werbung, politischer Spin, Politisches Framing, Beeinflussung sozialer Veränderungsprozesse, Inszenierungen aller Art und bewusst produzierte Fake News dominieren die Ereignisse. Es wirkt, als ob eine immer surrealer werdende kollektive Trance das, was früher Gesellschaft geheißen hat, nur noch als Vorstellungswelt im Sinne von Lippmann erscheinen lassen kann.
Aber die Handlungswelt bleibt als Realität bestehen. Wohl ihr letzter Anker sind Vorgänge in der Natur selbst: Im Anthropozän schlägt die Wirklichkeit der Ökosphäre marktfundamentale, postdemokratische und rechtspopulistische Vorstellungswelten. Wie schwer es fällt, das Unsichtbare dieser Wirklichkeit im Sinne Lippmanns so sichtbar zu machen, als ob die Natur (wie die Kinder im zitierten Bild von Lippmann) ihre Beschwerden selbst an die Öffentlichkeit bringen könnte, zeigt die aktuelle Klimadebatte.
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Wer können und sollen heute jene Eliten sein, die den Willen und die Verantwortung aufbringen, die Welt (unsichtbar für die Masse) zu führen? Wie könnten sie demokratisch legitimiert werden, wenn sie doch stets drohen, jene grundlegenden Weltanschauungen zu formen, die darüber entscheiden, was wir als Gesellschaft überhaupt unter ›legitim‹ verstehen und kommunizieren können? Wo und worin werden sie gebildet? Die öffentliche Meinung zeigt, dass Lippmann damals um solche brennenden Fragen zumindest noch wusste. Auch wenn seine Antworten recht kursorisch ausgefallen sein mögen, so zielen sie dennoch in die richtige Richtung. Wichtig erscheint uns dabei insbesondere seine klare Auffassung, dass die Eliten keinesfalls allein Kapitalinteressen dienen dürfen.
Wo sind also die Eliten der heutigen Zeit geblieben? Sind sie womöglich Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden? Wissen die manipulierenden Eliten womöglich nicht mehr, was sie manipulieren, weil sie selbst über kein Bild der Gesellschaft mehr verfügen? Haben sie die durch ihre eigene Propaganda vermittelte Abwertung der Politik selbst schon verinnerlicht? Und wenn dies so wäre: Könnte diese - durch fehlende Bilder bedingte - Handlungsunfähigkeit der Eliten zu dem Befund führen, dass soziale Stabilität zukünftig durch einen autoritären Überwachungs- und Kontrollstaat garantiert werden muss, in dem die Bevölkerung durch eine dauernde Angstmache manipulativ an die jeweilige Führung gebunden wird? (Die Systeme Donald Trumps und Viktor Orbáns wären hier etwa genauer zu untersuchen.)
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Doch bei dieser Manipulation müssen wir Menschen keineswegs nur passive Rezipienten spielen: Als genuin schöpferische, bildschaffende Wesen besitzen wir die unhintergehbare Freiheit zur Kreation eigener Bilder. Jede Person kann sich in einer potentiellen Freiheit ihre Wirklichkeit über ihre inneren Bilder aneignen. Gewiss muss diese Freiheit entwickelt, gepflegt und durch soziale Prozesse getragen werden.
Ein Teil dieser Verantwortung liegt, wie Lippmann zeigt, den Wissenschaften und insbesondere der Bildung anheim. Ihnen kommt die Aufgabe zu, die mächtigsten Stereotype der Zeit erkennbar zu machen und so Menschen zu befähigen, bewusst um Erkenntnis zu ringen und auf ihrer Basis Verantwortung tragen zu können. Die Idee der Aufklärung über die eigenen Voraussetzungen des Denkens und der Wahrnehmung ist keineswegs preiszugeben. Sie ist im Gegenteil unter neuen Vorzeichen stark zu machen. Denn in der heutigen Gesellschaft kann die Macht jener Bilder, die einer bloß sekundär erfahrenen Wirklichkeit entstammen, nicht länger ignoriert werden.
Studiert man Lippmanns Werk gründlich, so wird deutlich, dass wir diesen Bildern heute mehr denn je vertrauen müssen, eben weil wir nicht von allem, über das wir entscheiden müssen, eine direkte Erfahrung machen können. Umso mehr sollten wir uns die Frage stellen, welchen dieser Bilder und vor allem welcher Quelle dieser Bilder wir vertrauen können und vertrauen wollen. Denn Vertrauen ist konstitutiv für jeden sozialen Zusammenhalt.
Jede Person, die in die Welt geboren wird, muss dem sozialen Raum, in den sie hineingeboren wird, vertrauen dürfen - das gilt auch für den sozialen Raum geteilter Bilder in der Gesellschaft. Wir sehen mit größter Besorgnis, dass heutzutage eher bei jenen ein Wissen über diesen Raum und dessen Veränderbarkeit besteht, die ihn für ihre eigenen Zwecke auszunutzen suchen und dafür das stillschweigende Vertrauen unzähliger Menschen manipulieren, ausbeuten und ultimativ aufs Spiel setzen. Doch auch wenn bei den so Ausgebeuteten über diese Form der Ausbeutung nur noch wenig explizites Wissen existieren mag, so scheint doch eine dunkle Ahnung zu bestehen.
Was aber, wenn diese Ahnung dazu führt, dass das Vertrauen in den sozialen Raum selbst verloren geht? Wird dann das Kostbarste, weil auf fundamentale Weise Verbindende, das wir in der Gesellschaft haben, zerstört? Wir meinen: Es wird höchste Zeit, dass wir uns als Gesellschaft über die Macht innerer Bilder zumindest wieder jenes Wissen aneignen, das vor gut 90 Jahren über sie existierte. Lippmanns Werk ist hierfür ein guter Ausgangspunkt.
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