Die Zeichen stehen an der Wand
Über Rücksichtnahme als Rückenmark einer zivilisierten Gesellschaft
Letzten Samstag fiel mir im Gießen-Teil des Anzeigers ein Foto ins Auge. Es zeigt eine Gruppe von Kindern und ihre Erzieherinnen. Gegenstand der dazugehörigen Reportage war die Verwandlung von Kindergarten-Kindern in sogenannte Schulis, die nach den Sommerferien eingeschult werden. Es gilt für die Kinder also, Abschied zu nehmen von ihrer Kita.
Bemerkenswert an dem Foto fand ich, dass eines der Kinder die von der Fotografin verordnete Fröhlichkeit nicht mitmacht. Während die anderen Kinder aufspringen und jubelnd die Arme hochreißen, sitzt ein Mädchen mit hängenden Schultern und auf den Beinen abgelegten Händen in der ersten Reihe und zeigt eine ergreifende Kindermelancholie.
Sie ist die Einzige, die einen dem Anlass entsprechenden Ernst zum Ausdruck bringt. Sie hat womöglich eine Ahnung von der Bedeutung der Zäsur, die ihr bevorsteht, und mag keine gute Miene zum bösen Spiel machen. Der Eintritt in die Schule ist ein weiterer Schritt in die gesellschaftliche Fremde, und so etwas kann Ängste freisetzen.
Dem Mädchen gebührt eine Medaille für Zivilcourage, weil sie es gewagt hat, sich dem Zwangslachen und der verordneten Fröhlichkeit zu verweigern und zu ihrer Bangigkeit zu stehen. Hoffentlich wird sie von eifrigen Grundschullehrerinnen nicht bereits für den Schulpsychologen vorgemerkt.
Fröhlichkeitsverweigerung gilt in der Spaßgesellschaft als Krankheitszeichen.
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In einer Seitenstraße der Fußgängerzone kniet eine junge Frau, beinahe noch ein Mädchen. Sie hat ihren Kopf über ihr Handy gesenkt. Die Szene erinnert an Skulpturen von Betenden, die in Andacht versunken sind und voll Demut den Blick gesenkt halten. Nur dass in unserem Fall ein Gerät angebetet wird, das offenbar mehr und mehr einen sakralen Status gewinnt und dass man wie eine Monstranz vor sich herträgt. Eine neue Zivilreligion hat sich etabliert: der Handyismus.
Gestern stand in vorn an der Ampel und wartete darauf, dass die Fußgängerampel auf Grün sprang. Mit mir warteten zehn andere Menschen, von denen neun ihren Blick aufs Handy gesenkt hatten. Der Zehnte hatte es am Ohr und telefonierte. Ich war der einzige ohne Smartphone und kam mir vor wie ein Ketzer oder ein Deserteur, der sich unerlaubt von der Digitaltruppe entfernt hat.
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Kurz vor den Sommerferien wurde die Stadt von ausgewilderten Schülern überschwemmt. Die Lehrer ließen sie von der Leine und so konnten sie machen, was sie wollten. Die Älteren wandten sich einem Lebensmittelmarkt zu und tranken Bier aus Dosen und Flaschen, die Jüngeren standen Schlange vor einem dieser Bubble-Tea-Läden, die in letzter Zeit wie Pilze nach einem warmen Sommerregen aus dem Boden schießen. Dieses Getränk zählt wegen seines Zucker- und Kaloriengehalts meiner Meinung nach nicht zu den von Schulen zu fördernden Nahrungsmitteln. Dagegen ist Bier beinahe gesund.
Lehrer und Lehrerinnen, die es zulassen, dass ihre Schüler sich auf Wandertagen so ein Zeug einverleiben, sollten wegen Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht zur Rechenschaft gezogen werden. Der Soziologe in mir vermutet einen Zusammenhang zwischen der Verbreitung zuckerhaltiger Getränke und süßen Gebäcks und der Ausbreitung von Lieblosigkeit in der Gesellschaft.
Viele Familien, die nach außen vollkommen normal aussehen, stellen im Inneren eine einzige Szenerie von Indifferenz und Kälte dar, das bloße Nebeneinander von Einsamkeiten. Nicht hinreichend behütet, tragen die Kids zu jeder Jahreszeit Wollmützen oder Basecaps, nicht gut genug geliebt, verleiben sie sich süßes Zeug ein, das im Körper in Wärme umgewandelt wird.
Schon kleine und kleinste Kinder werden in diesen Modus der synthetischen Wärmeerzeugung eingeübt. Eltern stopfen ihren Kindern früh das Maul mit Süßigkeiten, um sie sich vom Leib zu halten. Donuts- und Bubble-Tea-Läden können also an ein bereits etabliertes Muster der Ersatzbefriedigung andocken.
Der letzte Schultag bedeutete Rekordumsätze für diese Läden. Die konformistische Albernheit der Schüler und der ganze synthetische Frohsinn passen angesichts der Hochwasserkatastrophe und der erneut steigenden Inzidenzen noch weniger zur Lage wie sonst und gehen mir auf die Nerven. Ich sehe zu, dass ich aus der Innenstadt rauskomme und fliehe zwischen meine Bücherwände.
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Nicht nur in Großstädten, auch hier in der Provinz ist eine Zunahme der Raserei auf den Straßen zu beobachten. Wenn abends der Berufsverkehr abnimmt und die innerstädtischen Rennstrecken frei sind, kommen junge Männer mit ihren getunten Schlitten und Motorrädern in die Stadt. Oft reisen sie zum Posen aus dem Umland an. Das Röhren der Motoren dröhnt durch die Stadt, bis es so gegen Mitternacht endlich abnimmt. Um den Eindruck zu erwecken, man unternehme etwas dagegen, erscheint ab und an eine Notiz in der Lokalzeitung, dass man ein Auto aus dem Verkehr gezogen und dem Fahrer den Führerschein weggenommen hat.
Von einer Abrüstung und Entbrutalisierung des Verkehrs ist jedenfalls nichts zu bemerken, eher im Gegenteil. Auf eine solche wäre aber eine Verkehrswende, die den Namen verdient, angewiesen. Der Alltag liefert zahllose Beispiele dafür, dass wechselseitiger Respekt und Rücksichtnahme sich rapide zurückbilden. Auch und gerade im Verhältnis zwischen Auto- und Radfahrern ist das zu beobachten.
Eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste Errungenschaft einer zivilisierten Gesellschaft ist die freiwillige Rücksichtnahme. Sie ist das einzig wirksame Gegengift gegen die unvermeidlichen Übel des Zusammenlebens von Massen von Menschen auf engstem Raum. Wird sie nicht mehr von einer Generation an die nächste weitergegeben und von den Heranwachsenden und neu Zugewanderten erworben und verinnerlicht, ist die Gesellschaft verloren und das Leben in ihr wird unerträglich.
Wir sind auf dem Weg dahin. Die Zeichen stehen für alle sichtbar an die Wände geschrieben, aber auch die, die sie lesen und zu entziffern vermögen, scheinen zur Ohnmacht verdammt.
Götz Eisenberg ist Soziologe. Im Onlinemagazin der GEW Ansbach erscheint regelmäßig seine Durchhalteprosa.