Die Zukunft Europas

Es gibt viele einander widerstreitende Visionen von Europa, viele Zukünfte Europas. Am Ende werden alle diese Visionen von der Bühne verschwinden und die Historiker werden sagen, "das war eine unvermeidliche Entwicklung." Unvermeidlich scheint aber einzig zu sein, daß es einen Krieg geben wird, um darüber zu entscheiden, welche Visionen verschwinden werden. Wahrscheinlich gibt es auf keinem Territorium so viele Visionen über die Zukunft wie gegenwärtig über Europa. Einander widerstreitende geopolitische Zukünfte sind typische Kriegsursachen. Dennoch gäbe es jetzt eine Chance, mit Europa eine andere Staatsform zu entwickeln. Vorbild könnte die Auflösung der ehemaligen DDR in die BRD sein. Aber man scheint zu ängstlich und im Gewohnten gefangen zu sein, um einen Schritt in die Zukunft zu machen.

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Was ist Europa? Um besser mit einer großen Zahl von Möglichkeiten zurechtzukommen, ist es einfacher zu sagen, was Europa nicht ist. Europa ist keine Nation. Weil Europa keine Nation ist, braucht es keine Identität. Weil Europa keine Nation ist, braucht Europa keine Kultur.

Kultur und Identität

Wenn Menschen über die "Identität des künftigen Europa" sprechen, sind darin mindestens drei Europas impliziert. Das gegenwärtige Europa, offensichtlich ohne Identität, ein mögliches zukünftiges Europa mit einer Identität und implizit ein oder mehrere mögliche künftige Europas ohne Identität. Ich werden von einem "Staat Europa" sprechen, um auf eine der letzteren Möglichkeiten hinzuweisen: ein Staat, der keine Kultur und keine Identität besitzt. Die zweite Möglichkeit, eine europäische Identität, ist mit einem kulturellen Pan-Nationalismus verbunden. Das existierende Europa ist ein Europa der Nationen und mit dem Nationalismus verknüpft. Alle Nationen haben eine Identität und eine Kultur, wie umstritten sie auch immer sein mögen. In diesem Europa der Nationen ist die europäische Identität eine Aufzählung nationaler Identitäten und nicht mehr.

Man betrachte sich die europäische Kultur, indem man fragt: Welche Gebilde besitzen Kulturen? Langfristige Gebilde. Die Passagiere auf einer Straßenbahn sind eine Gruppe, aber sie haben keine gemeinsame Kultur. Dafür ist die Gruppe zu kurzlebig und vorübergehend. Der Stil dieser Definition ist eine Parodie von Stalins Definition einer Nation: gemeinsame Kultur, Sprache, Geschichte und Wirtschaft, gemeinsames Heimatland und gemeinsame Psychologie. Das ist eine sehr erfolgreiche, häufig zitierte Definition. Sie stimmt mit dem Ideal einer Nation als eines generationenübergreifenden Gebildes mit einer langfristigen Kultur überein. Kultur gilt allgemein als etwas, das über Generationen vermittelt wird. Nicht alle langfristigen Organisationen besitzen jedoch eine Kultur. Eine Kirche vermittelt von Generation zu Generation eine Doktrin. Eine Vereinigung hat Regeln oder Statuten, um ihre organisatorische Kontinuität zu bewahren. Nationen besitzen jedoch eine Kultur, um ihre Kontinuität zu bewahren.

Auch wenn es vereinfachend erscheinen mag, kann man auf dieser Grundlage eine gute Definition der Kultur formulieren. Kultur ist, was von einer Generation an die andere vermittelt wird, um das Überleben einer Entität zu sichern: eines Stammes, einer Gesellschaft und vor allem einer Nation. Das ist zwar eine minimale Definition, aber sie betont die Unterscheidung zwischen der gesellschaftlichen Routinetätigkeit und der Kultur. Kultur ist, grob gesagt, was Eltern ihren Kindern erzählen und was auf keine andere Weise übermittelt wird.

Ist Kultur notwendig? Die Nationalisten bejahen dies, weil sie glauben, daß es einiges gibt, was von Generation zu Generation übermittelt werden muß - keine Lehre, keine Reihe von Regeln, sondern eben Kultur. Sie sagen, daß jeder Staat eine Kultur besitzen muß. Das folgt jedoch lediglich aus dem nationalistischen Ideal einer generationenübergreifenden Gemeinschaft: das ist eine zirkuläre Begründung. Wenn es kein generationenübergreifendes Gebilde gibt, wird keine Kultur benötigt. Wenn es kein Deutschland gibt, wird keine deutsche Kultur benötigt. Die Welt geht deswegen nicht unter.

Pankultur oder Pankitsch

Die nationalistische Idee, daß eine Nation eine Kultur benötigt, wurde von den Pan-Europäern übernommen. Das ist logisch konsistent: der Pan-Nationalismus unterscheidet sich vom Nationalismus weitgehend nur durch die Größe der generationenübergreifenden Gebilde. In der Praxis können sich Pan-Europäer nie zwischen einer einheitlichen Kultur und einem Europa als einer Sammlung nationaler Kulturen entscheiden. In der Praxis suchen sie oft nur nach irgendeiner symbolischen Kultur, die außerhalb der Nation bekannt ist. Diese nationalen Symbole werden dann europäisch genannt.

Diese interne Inkonsistenz führt zu einer Karikatur der europäischen Kultur, die von Pan-Europäern propagiert wird. Zeitschriften wie Nexus oder Civis Mundi (Holland) oder Cadmos (Schweiz) sind ebenso wie die Programme der European Cultural Foundation oder die akademischen Konferenzen, die alle zwei Monate in den European University News aufgelistet werden, mit der intellektuellen Suche nach einer pan-europäischen Hochkultur beschäftigt. Bei dieser Suche werden einige Themen endlos wiederholt und ihre relative Bedeutsamkeit diskutiert: das griechische Erbe, das römische Gesetz, das Christentum, die Einheit des mittelalterlichen Europas, die Universitäten als transnationale Verbindung, die Renaissance, der Humanismus, die Aufklärung. All diese Themen stehen permanent in einem Spannungsverhältnis mit unterschiedlichen nationalen Traditionen: das Wesen des "europäischen Katholizismus" unterscheidet sich ziemlich von der katholischen Tradition in Irland.

Hier nur als Beispiel eine Auswahl von Vortragstiteln für die letzte Konferenz "Cultura Europa" an der Universität von Navarra (einer Universität mit einer konservativen katholischen Tradition):

Identidad nacional - identidad Europea: el caso de las historias de la literatura; Identity, culture and integration in Europe; The role of Islam in Europe; search for a common cultural identity; War, war remembrance, European identity; Xenophobia, territorialism and culture; Leibniz y su concepcion de la union Europea; Identity in the enlarged Europe; Kultur und Unternehmung im Wirtschaftsraum Europa; Construir Europa formando Europeos; Three core meanings of culture and their impact on the European periphery; Conflicting conceptions of Europe; Regionalismo e internacionalismo en la cultura europea; Las universidades centros de cultura; Cultura Europea y cultura planetaria; Kulturpolitik Internationaler Organisationen; Ethnicity, national state, and European integration; The cultural policy of European integration; The concept of Europe, some cultural aspects of a common identity; Kunstvermittlung als Beitrag zu einer Europäischen kulturellen Bildung.

Derartige Konferenzen sind vielleicht der einzige Ort, an dem die europäische Kultur existiert. Es ist eine schwache Pankultur, und wenn man sich nicht um sie kümmert, wird sie wahrscheinlich verschwinden. Aber die Konferenzen steigern nur die Verwirrung. Je symbolischer die Euro-Kultur sein muß, desto größer werden die Probleme. Wer ist unser "Euro-Dramatiker"? Der deutsche Goethe oder der Engländer Shakespeare? Oder ist Goethe unser Euro-Dichter? Diese beiden sind zumindest berühmt. Da niemand in England irgend etwas von bulgarischen Dichtern, Dramatikern, Architekten oder Malern gehört hat, wie können die Bulgaren dann auf faire Weise repräsentiert werden? Und wer schaffte die Einheit Europas um 800 wieder? War es Karl der Große, Charlemagne, Carlo Magno oder Carolus Magnus?

Identität

Die europäische Kultur ist daher insoweit ein Flop. Das scheint auch auf die europäische Identität zuzutreffen. Im pan-europäischen Bereich sind Identität und Kultur in ihrem Sinn verbunden. Oft werden die Worte als Synonyme gebraucht: die gemeinsame europäische Identität, die gemeinsame europäische Kultur, das gemeinsame europäische Erbe. Zweifellos wird das Wort Identität in diesem Kontext allgemein so verwendet, daß es zu einem generationenübergreifenden Nationalstaat gehört und die Kultur einbegreift. In diesem Sinn haben nur Nationalisten eine Identität. Nur pan-europäische Pan-Nationalisten haben eine europäische Identität.

Es gibt keinerlei Grund, mir zu unterstellen, ich hätte eine Identität, weil ich mich gegen den Nationalismus wende. Wenn ich kein Moslem bin, kann ich kein Sunnit oder Shiit sein. Wenn ich kein Christ bin, kann ich nicht protestantisch oder katholisch sein. Wenn ich kein Nationalist bin, kann ich kein Franzose, Deutscher oder Kurde sein. Deutsch ist eine Unterkategorie des Nationalistischen, wie Protestantisch eine Unterkategorie des Christlichen ist.

Wenn ich sage, daß ich keine Identität besitze, werden manche das bezweifeln, aber dabei den Nationalismus oder den Pan-Nationalismus unterstützen. Sie können nicht beweisen, daß ich eine Identität besitze, wenn sie nicht auf die ideologischen Ansprüche des Nationalismus zurückgreifen, beispielsweise, daß ich die Identität meiner Geburtsnation übernehmen muß. Ich glaube, man muß daraus folgern, daß Menschen nur innerhalb des nationalistischen Rahmens eine Identität besitzen. Der europäische Pan-Nationalismus ist eine schwache Erweiterung dieses Prinzips.

Man kann nicht zeigen, daß ich eine europäische Identität besitze, wenn man nicht pan-europäische Vorstellungen in Anspruch nimmt. Diese politischen Vorstellungen haben für Menschen, die diese nicht akzeptieren, keine Bedeutung. Daher besitze ich keine europäische Identität. Natürlich sind Beethoven, Shakespeare oder Goethe historische Tatsachen, aber es gibt für niemanden einen Grund, sich mit ihnen über die Zeit hinweg verbunden zu fühlen. Es gibt besonders keinen Grund dafür, warum solche Verbindungen eine Grundlage für eine staatliche Organisation oder für eine Staatsbildung sein sollten.

In der nationalistischen Vorstellung von einem Staat gibt es eine präexistierende Nation, eine sich über die Zeit hinweg erstreckende Gemeinschaft. Für Nationalisten ist die primäre Funktion des Staates, zu diesem Zweck ein Territorium zu reservieren. Nationalisten wollen ein Territorium, aber, was noch wichtiger ist, sie wollen es für eine lange Zeit.

Europäische Pan-Nationalisten dehnen dieses Modell auf Europa aus. Es sollte ein europäisches Gebilde geschaffen werden, so sagen sie, um die europäische Kultur den nachfolgenden Generationen zu übermitteln. Und was ist die europäische Kultur? Das, was den künftigen Generationen übermittelt wird. Und warum wird die europäische Kultur übermittelt? Um Europas Überleben für künftige Generationen zu sichern. Diese Zirkularität macht keinen Sinn - und überhaupt: es gibt bereits genügend Nationen.

Der Staat Europa

Manche Gebilde benötigen, um wieder zur der anfangs angeführten Möglichkeit zurückzukehren, keine Identität oder Kultur: Staaten. Es gibt viele möglichen Staatsformen. Ich kann ebenso wie viele andere Millionen von Menschen keine Identität haben. Deshalb kann es genügend Menschen geben, um einen Staat zu bevölkern, in dem niemand eine Identität besitzt. Wenn ein Staat ohne Identität möglich ist, kann es auch andere geben. Wenn ein Staat kein Ziel, keine generationenübergreifende Existenz besitzt, braucht er auch keine Kultur. Der Nationalstaat ist nur ein besonderes Staatsmodell, und nicht die Form "des Staates" schlechthin. Staaten benötigen allgemein keine Kultur. Das ist nur für Nationalstaaten so.

Deshalb könnte Europa zu einem Staat eines neuen Typs werden: ohne Identität und Kultur und durch seine Nicht-Nationalität ausgezeichnet. Die minimalste Definition eines Staates, die ich mir vorstellen kann, ist, daß ein Staat ein Territorium ist, aus dem verschiedene Aktivitäten ausgeschlossen sind. Das ist sogar noch eine minimalere Definition als die von mir zuvor gebrauchte, nämlich daß ein Staat ein Territorium mit einem Zweck ist. Europa kann die nationalistische Vorstellung abweisen, ein Territorium zur Übermittlung von Kultur zu gebrauchen. Das würde Europa inkompatibel mit dem Nationalstaat und mit der Nation selbst machen. Mit einer solchen Definition würde es keine pan-europäische "Nation", kein föderalistisches Europa der Nationen, kein föderalistisches Europa der historischen Regionen, kein föderalistisches Europa der Menschen geben. Alle diese Gebilde haben eine Kultur und eine Identitätsbedeutung.

Neue Staatsformen

Dieses mögliche Europa würde in der Tat den Weg für eine andere Ausrichtung des Territoriums in Europa und für eine Entstehung neuer Staatsformen öffnen. In dem kurzen Artikel Post Democratic States habe ich einige dieser Formen beschriebe. Aber das ist ein weitaus größeres Thema. Es genügt zu sagen, daß es für einen "Staat Europa" unter diesem Modell möglich wäre, innerhalb des Staates eine extreme territoriale Autonomie zuzulassen. Die Notwendigkeit, eine die Zeit die übergreifende Kultur zu bewahren, ist der Anlaß für die immanente Homogenisierungstendenz des Nationalstaates. Abstarktere Darstellungen dieser Idee findet man im Artikel Structures of Nationalism in Sociological Research On-line.

In den Visionen eines anderen Europas wird das nicht beachtet. Ein wichtiges Paradox ist, daß in kleinen Nationalstaaten Macht Homogenität bedeutet. In sehr großen Staaten kann der Staat die entgegengesetzte Bedeutung haben. Die Idee eines "Staates Europa", wie sie hier beschrieben wurde, weicht fundamental von Staaten mit einer liberalen Verfassung ab. Sie ersetzt das Prinzip der territorialen Abgrenzung durch das Prinzip der Gewaltentrennung.

Das unterscheidet sich ziemlich von der liberal-demokratischen Vision einer in der Verfassung verankerten europäischen Bürgerschaft. In der Praxis bedeutet das einen konföderalen Staat, also Nationalstaaten unter einem anderen Namen. Die liberale Verfassung und der klassische Nationalismus fordern von den Bürgern Treue. Der "Staat Europa" ohne Identität und Kultur kann einfach auf die Loyalität seiner Bürger verzichten. Es gibt keine Bürger. Sie müssen keinerlei emotionale Bindung mit dem Staat und keine Verpflichtung ihm gegenüber verspüren. Sie kann alle, wenn sie das wollen, Verräter sein. Wie Kultur und Identität ist Verrat ein spezifisches Merkmal von Nationalstaaten.

Krieg der Zukunft

Der Übergang von einem Europa der Nationen zu einem Staat Europa ergibt das Bild für eine erste Aufspaltung über das Thema Europa, das Kriegsszenario mit der größten Wahrscheinlichkeit. Das ist ein Übergang, der sich von Loyalität, Kultur, Identität und Gemeinschaftlichkeit entfernt: auf der einen Seite ein kulturloses und identitätsloses Gebilde, auf der anderen Seite Tradition, Heimat, Kultur, Nation.

Die Unvermeidbarkeit des Krieges wird deutlicher werden, wenn ich die Entwicklung beschreibe. Die Beschreibung stammt aus einem Artikel über die Zerstörung und den Aufbau während staatlicher Übergänge für das Web Architecture Magazine. Das ist nur eine Weise, staatliche Übergänge zu betrachten. Die Betonung auf Zerstörung und Aufbau stammt aus einem aktuellen Beispiel: dem Zusammenwachsen von zwei Deutschlands zu einem Deutschland ...

Europa statt Deutschland

Die Auflösung der DDR in die BRD kann ein Modell für die Auflösung Deutschlands in Europa sein: Europa statt Deutschland.

Das bedeutet der offensichtlich formale Begriff "Staat Europa". Man wird fast alle gesellschaftlichen Strukturen verlieren, die unserem Leben eine Bedeutung geben. Sie sind die gesellschaftlichen Strukturen eines Nationalstaates, und wenn diese Staatsform verschwindet, gilt dies auch für die gesellschaftlichen Strukturen.

Zuallererst zeigt die Auflösung der DDR, was mit dem existierenden deutschen Staat in Europa geschehen sollte: er sollte vollständig aufgelöst werden. Sein Territorium sollte auf Europa übergehen. Er wird einfach zu existieren aufhören, wie dies mit der DDR geschehen ist. Finis Germaniae Europa est. Die anderen Nationalstaaten sollten gleichmaßen verschwinden. Finis nationae Europa est.

Eine Nation besitzt nationale Grenzen. Die Öffnung der Grenzen war im Prozeß der deutschen Vereinigung von großer symbolischer Bedeutung. Die Mauer als Symbol der Grenze zwischen den beiden Staaten wurde zerstört. Das war der symbolische Aspekt: der erste Akt der Wiedervereinigung.

Während eines Übergangsprozesses würden die Grenzen zwischen den Nationen Europas zerstört werden. Die Grenzpolizei aller Nationen Europas sollten aufgelöst werden. Befestigungen der Nationalgrenzen sollten entfernt werden. Alle Grenzposten sollten zerstört und alle Spuren beseitigt werden.

Das sind Symbole der Unabhängigkeit und der Souveränität. In Berlin wurde die Mauer als Symbol der Unabhängigkeit der DDR nicht nur zerstört, sondern auch an die Touristen verkauft. Das wurde als eine symbolische Demütigung der DDR gefördert. Nach der Auflösung Deutschlands würde es möglich sein, Symbole der staatlichen Unabhängigkeit wie den Reichstag an Touristen zu verkaufen. Dasselbe könnte mit den Houses of Parliament geschehen. Aber warum sollte man japanische Touristen zur symbolischen Position von historischen Richtern verhelfen?

Ein angemessener und spezifischerer symbolischer Akt, eine symbolische Zerstörung des Nationalstaates in Europa, ist die legale Zerstörung des Brandenburger Tors. Es war bereits ein Jahrhundert lang ein nationales Symbol Deutschlands. Durch seine Lage neben der Mauer wurde es zu einem weltweit anerkannten Symbol der nationalen Einheit. Durch seine Restauration in einem vereinten Deutschland wurde es zu einem Symbol für den Triumph des Nationalismus. Mehr als jeder andere Ort ist das Brandenburger Tor das Symbol für den Nationalismus in Europa und in der Welt. Ich schlage vor, daß es von der Europäischen Kommission gekauft werden sollte. Später kann es legal durch Sprengkörper während der Feier über das Ende des Nationalismus in Europa zerstört werden.

Aufbau

Den staatlichen Übergang begleitete in Berlin ein großes Aufbauprogramm. Staatsgebäude sind ein wichtiges Beispiel. Regierungsgebäude der DDR werden vom einzigen deutschen Staat wiederverwendet oder stehen leer. Die staatlichen Organe der DDR haben zu existieren aufgehört, weil der Staat selbst aufgehört hat zu existieren. Deswegen wurde die Gebäude leer. Wenn die staatlichen Organe in den Nationen Europas aufhören zu existieren, wird sich diese Entwicklung wiederholen. Ein Programm zur Konversion der Gebäude und der Infrastruktur ist allerdings immer notwendig, um diese dem staatlichen Übergang anzupassen.

Das läßt die Frage nach den Menschen entstehen, die einst in diesen Gebäuden gearbeitet haben. Wenn alte nationale Regierungen in ihren alten Gebäuden und in ihren alten Hauptstädten weiter bestehen, dann gibt es offensichtlich keinen neuen Staat Europa. Bei jeder wirklichen Veränderung werden Millionen von Politikern und Bürokraten (des alten Europa) keine Aufgabe mehr haben. Im Falle Deutschlands flohen einige der Führer der DDR. Honecker selbst nach Rußland und später nach Chile. Es würde sicherlich das Ende der Nationen in Europa beschleunigen, wenn die USA für die einstigen Führer der Nationalstaaten politisches Asyl gewähren würde.

Unter diesen Umständen können die amerikanischen Stützpunkte eine wirkliche und symbolische Funktion als Ausgangstüren oder als Orte der Abreise besitzen. Sie können für ein Evakuierungsprogramm für nationale Führer und Nationalisten von Europa nach den USA eingesetzt werden. Der Rückzug der US-Truppen, der Gang der Regierungsführer ins Asyl und die Evakuierung der Nationalisten sollten gleichzeitig erfolgen. Das ist ein symbolisches und wirkliches Verlassen des alten Europa und seines Verbündeten. Fall erforderlich sollte die Transportinfrastruktur einer Massenevakuierung von Nationalisten angepaßt werden.

Was wäre die Folge für die Nationalisten? In Deutschland wurde die Loyalität zur DDR als einem Staat durch die Nostalgie nach einer verlorenen Gesellschaft ersetzt. Das wird sich 47 Mal ereignen, wenn die 47 Nationalstaaten in Europa verschwinden. Wenn ein Evakuierungsprogramm erfolgreich sein wird, könnten die Nationalisten aus Europa in den USA ihre nostalgische Vergangenheit wieder erschaffen. Geschichtsparks könnten hier entstehen, anstatt Europa mit der Vergangenheit zu begraben. Beispielsweise könnte ein Heimat Park Deutschland in Florida gebaut werden, das bereits jetzt ein begehrtes Ziel für deutsche Touristen ist.

Migration

Ein Thema von großer Bedeutung ist die Migration innerhalb Europas. Mit der Wiedervereinigung erwarb der deutsche Staat 15 Millionen zusätzliche Bürger. Das ist eine extrem ungewöhnliche Situation innerhalb von Nationalstaaten und geschah nur deshalb, weil Deutschland als geteiltes Land galt. Offensichtlicher wird das, wenn man die Situation der Menschen türkischer Herkunft ansieht. Bis vor kurzem hielten sich manche in der dritten Generation in Deutschland auf, ohne daß ihnen ein Paß zugestanden wurde. Aus der Türkei kann auch niemand nach Deutschland kommen und Wohn- oder Arbeitslosengeld auf derselben Grundlage wie ein Deutscher beanspruchen. Sie können auch nicht Spanien oder in irgendeinen anderen Nationalstaat gehen, um solche Forderungen zu erheben. Aber genau das geschah mit der DDR nach deren Auflösung. Als die vorübergehenden Restriktionen aufgehoben wurde, hatten 65 Millionen neuer Bürger das Recht auf eine interne Migration zum ehemaligen DDR-Staatsgebiet mit allen Rechten.

Man überlege sich jetzt die Folgen für einen künftigen Staat Europa. Deutschland ist der größte Staat mit 80 Millionen Einwohnern. In Europa leben zwischen 600 und 700 Millionen Menschen, je nach Definition. Rund 650 Millionen Menschen würden nach Deutschland gehen dürfen und auf der gleichen Grundlage behandelt werden wie Menschen, die schon hier leben. Wenn dies geschehen sollte, würden die Deutschen auf dem ehemals deutschen Staatsgebiet mit einem Verhältnis von 8:1 zur Minderheit werden. Im Falle von kleinen Nationalstaaten ist das Verhältnis viel größer.

Auch wenn nur ein Bruchteil migriert, wären die Folgen für die Stadt- und Regionalplanung enorm. Die gesamte Raumplanung im gegenwärtig existierenden Europa ist national: sie erfolgt unter der Annahme, daß es die nationale Souveränität weiterhin geben und daß etwa dieselbe Zahl von Menschen hier leben wird. In solchen Planungen bedeutet "hohe Zuwanderung", daß über mehrere Jahre 5 oder 10 Prozent Menschen in Relation zur Bevölkerung zuwandern. Keine Planung in Europa berücksichtigt die Massenwanderung von Menschen in einem Staat Europa, niemand erwartet innere Migrationsraten von 100 oder gar von 1000 Prozent in urbanen Bereichen. Das aber ist nahezu eine unvermeidliche Folge nach der Entfernung der nationalen Grenzen.

Planung

Die ehemalige DDR und die BRD koordinierten in einigen Bereichen die Regional- und Verkehrsplanung, besonders im Raum Berlin. Zumindest langfristig wurde die Möglichkeit der Vereinigung in Erwägung gezogen. Allerdings beanspruchten beide Staaten, eine einzige Nation zu repräsentieren. In Europa gibt es keine Planung für einen einzigen Staat. Es gibt keinen Versuch, über die Folgen für die Infrastruktur, den Verkehr und den Wohnungsbau nachzudenken. Das Verschwinden von Deutschland und anderen Nationalstaaten wird Europa ohne einen übergreifende Planung für sein Gebiet zurücklassen. Vielleicht ist das besser so. Die Europäische Kommission kann in den Programmen "Europa 2000" und "Europa 2000+" nur nationale Planungen koordinieren. Beide Dokumente setzen weiterhin die Existenz der Nationalstaaten voraus. Es sind, trotz des Titels, keine Planungen für Europa.

Klar ist, daß es riesige Bauplanungen in einem neuen Europa geben wird, wozu auch ein besonders Programm zur europäischen Verkehrsinfrastruktur sein sollte, das nicht nur, wie die deutschen Projekte, fast ausschließlich aus Straßenbau besteht. Symbolische Aspekte können wichtig sein: In Deutschland wurde DDR-Züge mit westdeutschen Farben bemalt. Züge in Nationalfarben wären in einem nicht-nationalen Europa untragbar.

Aber es gibt noch mehr unschöne Nachrichten über Europa. Wie im Fall der deutschen Wiedervereinigungsprojekte werden diese Infrastrukturvorhaben von den reicheren Regionen bezahlt werden müssen. Steuern bis in Höhe von 50 Prozent des Einkommens werden in den reichsten Regionen notwendig werden. Im wiedervereinigten Deutschland ist bereits die gemäßigte Solidaritätsabgabe politisch inakzeptabel. Europäische Ausgleichsabgeben werden in reichen Regionen auf großen Widerstand stoßen.

Das ist, was alle Einwohner Europas zumindest erfahren werden: den Verlust der gesellschaftlichen Struktur, wie dies in der DDR geschehen ist, und all die zusätzlichen Abgaben, die in Westdeutschland gezahlt werden. Das aber ist nur ein Modell eines künftigen Europa. Aus dieser Perspektive ist es extrem unwahrscheinlich, daß diese Entwicklungen wie in Deutschland ohne Gewalt ablaufen werden. Warum war das möglich? Wegen der Überzeugung, daß beide Staaten eine Nation sind. Weder die DDR noch die BRD, die Sowjetunion oder die westlichen Alliierten wichen jemals davon ab. Daher glaubten alle 80 Millionen beteiligten Menschen an die zugrundeliegende Logik der Einheit.

Gründe für den Krieg

In Europa ist die Situation ganz anders. Fast jeder hat Gründe, sich einer Veränderung der gegenwärtig bestehenden Ordnung zu widersetzen. Aber diese Ordnung kann nicht für immer erhalten werden. Das ist der Grund, warum ich glaube, daß das beschriebene Modell einer maximalen Veränderung wahrscheinlich ein Kriegsgrund ist. Der Krieg in Europa gleicht den Erdbeben: Je länger es still bleibt in Europa, desto größer wird der Schock, wenn der Krieg beginnt.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer