Die Zukunft als Flohmarkt
William Gibsons neuer Roman "Futurematic"
In William Gibsons neuem Roman "Futurematic", der soeben auf Deutsch erschienen ist, geht es mal wieder ums Ganze. Ein Pappkarton in Tokio und eine Brücke in Kalifornien sind die Orte, an denen die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Wie schon in "Neuromancer" und "Idoru" bewegt sich das Informationsuniversum von Gibsons Romanwelt auf eine Komplexitätsschwelle zu, in der sich alles ändert - und wie in seinen Vorgängern ist auch in "Futurematic" das Weltbeben am Romanende eher ein Wimmern als ein Knall. Wichtiger als das Ereignis selbst sind dem Autor die Orte, an denen es sich vorbereitet.
Die ganze Welt ist in einem Karton in einer U-Bahn-Station in Tokio enthalten. Im Herzen der Station befindet sich die "Pappkartonstadt", in der aus dem erbarmungslosen Geschäftsleben Tokios herausgefallene Japaner eine sargähnliche Bleibe gefunden haben. Hier lebt auch Colin Laney, der Datenjäger, der schon in Gibsons Roman "Idoru" eine wichtige Rolle spielte. Laneys seltene Gabe ist es, in riesigen Datenmengen Strukturen ausmachen und bevorstehende Veränderungen erkennen zu können. Hatte er dieses Talent in "Idoru" noch einem Unternehmen zur Verfügung gestellt, ist Laney jetzt zum besessenen Einzelgänger geworden. Mit einer Datenbrille auf dem Kopf durchforstet er das Informationsuniversum von DatAmerica (eine Art Nachfolger des Internet) nach Anzeichen einer grundlegenden Veränderung im Gefüge der Dinge, einem Ereignis, nachdem nichts mehr so sein wird wie zuvor. Es ist die Bewegung auf diesen diffusen "Knoten" zu, die der Handlung von "Futurematic" ihr Minimum an Dynamik verleiht.
Je näher Laney im Datenmeer dem Knoten kommt, desto mehr konvergieren die Ereignisse der realen Welt auf der Oakland Bay Bridge in Kalifornien. Als seinen Mann vor Ort, der physisch eingreifen soll, wenn die sich entfaltenden Ereignisse es erfordern, wählt Laney seinen Kumpel Berry Rydell, ein alter Bekannter aus Gibsons Roman "Virtuelles Licht". Die Wiedereinführung von Figuren aus den beiden Vorgänger-Romanen zeigt, dass man es hier mit dem dritten Band einer Trilogie zu tun hat, die allerdings so nie geplant war, wie Gibson im Interview betont. Neben Rydell begegnet der Leser auf der Brücke auch der Fahrradbotin Chevette aus "Virtuelles Licht" und dem Hologramm Rei Toei aus "Idoru" wieder. Die ersten hundert Seiten des Romans dienen dazu, diese Figuren aus tieferliegenden Schichten des Lesergedächtnisses ans Tageslicht zu holen und in die sich langsam entfaltende Geschichte einzubinden.
Gibson lässt Leser und Figuren lange Zeit im Dunkeln darüber, was es mit dem Knotenpunkt auf sich hat. Mehr als die Vorgänge im Cyberspace interessiert ihn die Oakland Bay Bridge, die schon in "Virtuelles Licht" eine wichtige Rolle spielte. Nach einem Erdbeben ist die Brücke für den Verkehr geschlossen und zur Heimstatt für Menschen am Rande der Gesellschaft geworden. Auf ihren zwei Stockwerken hat sich eine komplexe Gesellschaft im Kleinen herausgebildet, mit eigenen sozialen Strukturen und Regeln. Ihr bestimmendes Prinzip ist ökonomisch, es ist ein Ort des Street-Biz wie Chiba City in "Neuromancer", wo das gehandelt wird, was im offiziellen Wirtschaftskreislauf keinen Platz hat. Die Bewohner der Brücke haben ihre Behausungen aus Abfällen und ausrangierten Fragmenten zusammengebastelt, und auch ihr Handel beruht auf der Wiederverwendung scheinbar überflüssig gewordener Objekte.
Zwei Läden, die im Roman eine wichtige Rolle spielen, illustrieren dieses Recycling-Prinzip. Im "Bad Sector" werden obsolete Computer und veraltete Hardware verkauft, Geräte, die längst in keiner Firma mehr stehen und nur noch von einer Handvoll nostalgischer Spezialisten bedient werden können. In dem oben erwähnten Interview bezeichnet William Gibson "Bad Sector" als eine modische Variante von Bruce Sterlings Dead Media Project, einem Archiv medialer Dinosaurier, die im harten Überlebenskampf der Medienevolution auf der Strecke geblieben sind.
Noch interessanter ist der Laden von Fontaine. In Glaskästen, auf Regalen, in Auslagen und Kästchen stapeln sich hier antiquarische Objekte der prädigitalen Zeit: Messer, Pistolen, Telefone und vor allem Uhren. Fontaine ist ein begeisterter Sammler alter Chronometer, die von Hand gemacht worden sind und in die sich die Spuren der Zeit eingegraben haben. Aus der Präzision, mit der Gibson einzelne Sammlerstücke und Unikate beschreibt, spricht die Sehnsucht nach einer Zeit, als Handel noch von der materiellen Präsenz der Waren bestimmt war. In seinem "Wired"-Artikel über E-Bay, My Obsession, erinnert sich Gibson an die 70er Jahre, an Streifzüge durch Pfandleihen und Läden mit Armee-Restbeständen, immer auf der Suche nach dem seltenen Objekt, dessen auratischer Mehrwert nur vom Künstler- oder Sammlerauge erblickt werden kann. Inzwischen seien jedoch die Raritäten vom Markt verschwunden, einverleibt in Sammlungen, katalogisiert, erfasst vom universalen Datenetz. Nun erleben die Dinge ihre virtuelle Wiedergeburt als Scans bei E-Bay.
Für Gibson ist E-Bay eine Inkarnation der Orte, die die Herzstücke seiner Romane ausmachen: "Crazed environments of dead tech and poignant rubbish turn up in my fiction on a regular basis [...] comforting, evocative, and somehow magical. The future as flea market." In allen Gibson-Romanen findet man diese Orte, in denen sich Objekte vergangener Zeiten angesammelt haben, Orte wie Fontaines Laden oder die Villa Straylight aus "Neuromancer" mit ihren Vitrinen voller Tierschädel, Münzen und Masken, die an überdimensionale Cornell-Kästen erinnern. Gibsons besondere literarische Aufmerksamkeit in der Imagination von Zukunftswelten gilt immer den Überresten der Vergangenheit, die in seine dystopischen Entwürfe hineinragen. Das macht die Faszination seiner Bücher aus, paradoxerweise auch ihre Modernität, dass in ihnen die Zukunft immer mehr als faszinierender Junk-Shop denn als Showroom hipper Technologien erscheint.
In der Ausgestaltung der Zukunft als Assemblage von musealen Fragmenten, recyceltem Junk und verdrängten Erinnerungen geht Gibson mit "Futurematic" bisher am weitesten. Das zeigt schon die Konzeption des Romans als Abschluss einer Trilogie. Dadurch, dass die Figuren wieder eingeführt werden müssen, haftet dem Roman von vornherein etwas Rückblickendes an. Die zeitliche Bewegung auf den Knotenpunkt zu wird immer wieder verzögert durch Rückblenden und Erinnerungen der Figuren, die mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart oder gar Zukunft zu leben scheinen. Keine Figur hat eine Vorstellung von der eigenen Zukunft, alle befinden sich eher auf der Flucht vor der Vergangenheit, die damit zur dominierenden Zeitform wird.
Gibsons Figuren sind weniger von sich selbst und ihren Missionen erfüllte Helden als durch Mangel gekennzeichnete Melancholiker. Das wird sehr deutlich im kurzen Kapitel "Subroutinen", in dem Colin Laneys Wesen beschrieben wird: "Laney kommt allmählich der Verdacht, dass es sich bei diesem Loch im Kern seines Lebens, dieser grundlegenden Abwesenheit nicht so sehr um eine Abwesenheit im Ich als vielmehr um eine des Ichs handelt." Auch die anderen Figuren wirken nicht komplett. Ob Laney, Rydell oder Chevette, alle befinden sie sich im Transit, an Orten, die kurz vor der Auflösung stehen. Ihre Motivation beziehen sie nicht aus Zukunftsvisionen, sondern aus der Flucht vor der Vergangenheit.
Rydell wird häufig von Erinnerungen heimgesucht, an Chevette und an seine wenigen Tage als Cop. Damit ähnelt er dem Hacker Case aus "Neuromancer", dessen frenetische Trips durch den Cyberspace immer auch als Fluchten gekennzeichnet waren. Seit jeher ist für Gibson der Körper ein Sitz der Erinnerungen, Erfahrungen der Körperlosigkeit wie in der Matrix sind damit immer auch eine Möglichkeit, kurzzeitig der eigenen Vergangenheit zu entkommen. Gibsons männliche Helden, von Case bis Rydell, wissen zudem bis zum Schluss nie genau, für wen sie eigentlich arbeiten. Sie sind Individualisten, aber nur in dem beschränkten Rahmen, die ihnen die Zaibatsus und Hintermänner lassen, für die sie arbeiten. Die Zukunft als Ort verdrängter Erinnerungen und undurchsichtiger sozialer und ökonomischer Strukturen - gerade diese Konzeption macht Gibsons SF um einiges interessanter als die vieler seiner Kollegen.
Die Figurenkonzeption Gibsons lässt sich am besten würdigen, wenn man sie mit der von Neal Stephenson vergleicht, der mit Cryptonomicon letztes Jahr auch einen viel umjubelten neuen Roman vorgelegt hat. Obwohl Stephensons Buch sich als historischer Roman ausgibt, gelten in ihm klare SF-Genre-Regeln, was die Figuren angeht. Fast ungetrübt von historischem Bewusstsein oder Erinnerungen bahnen sich Stephensons Helden ihre einsamen Wege durch unbekanntes Gelände (das "Southwestpacific Theatre" des Zweiten Weltkriegs) einer Zukunft entgegen, an der sich durch Weitergabe ihrer wertvollen genetischen Informationen einigen Anteil haben. Die in der Gegenwart spielenden Szenen um die Startup-Firma Epiphyte zeigen die Zukunft als brachliegendes Ackerland für gewitzte Entrepeneure, die in ihren Projektionen den Gegnern immer einen Schritt voraus sein müssen. Stephensons Figuren sind dieselben wie die von "Asimov, Heinlein und anderen Macho-Science-Fiction-Autoren, deren Zukunftswelten immer mit Weltraumhändlern, gewieften Geschäftsleuten, genialen Wissenschaftlern, Piratenkapitänen und anderen wilden Individualisten bevölkert waren." (Richard Barbrook/Andy Cameron: Die kalifornische Ideologie)
Science Fiction á la Stephenson setzt die Eroberung des Raumes mit zeitlicher Progression ineins. Dahinter steckt der alte amerikanische Mythos der "Manifest Destiny", nach dem die goldene Zukunft des Landes durch eine ewig währenden Westwärts-Bewegung gesichert ist. Dass nicht unbedingt in Kalifornien Schluss sein muss, hat Stephenson mit seiner Firma Epiphyte gezeigt, die den südwestpazifischen Raum als Spielwiese amerikanischer Kapitalinteressen für sich entdeckt hat. In "Futurematic" hingegen ist in San Francisco Schluss: Die für den Verkehr gesperrte Oakland Bay Bridge kann als Symbol einer zum Stillstand gekommenen Westwärtsbewegung verstanden werden. Dass der amerikanische Traum mit einer anarchischen Kopie seines eigenen Motors, des freien Unternehmertums, endet, scheint dabei nur passend zu sein.
Gibsons Romane folgen einem anderen Bewegungsgesetz als die klassischen SF-Space-Operas mit ihren Eroberungen neuer Räume. Statt sich räumlich auszudehnen, verengen sie zusehends ihre Handlungsorte, um auf engstem Raume neue Strukturen sichtbar zu machen. Das Verfahren lässt sich mit dem vom Replikanten-Jäger Deckard im "Blade Runner" vergleichen, der an einer Stelle mit einem optischen Vergrößerungsgerät ein Foto soweit aufbläst, bis es etwas preisgibt, das mit dem bloßen Auge nie zu sehen gewesen wäre. So wie aus dem Foto ab einer gewissen Vergrößerung plötzlich eine neue geheimnisvolle Welt entsteht, so macht auch Gibson durch stetige Annäherung an seine urbanen, scheinbar chaotischen Orte neue Strukturen sichtbar, die eine gewisse Ordnung aufweisen.
Das beste Beispiel für dieses Verschachtelungsprinzip der "Welt in der Welt" ist Laneys Karton, der in sich eine Datenbrille birgt, die wiederum ein ganzes Datenuniversum enthält, in dem sich weitere Strukturen ausmachen lassen. Ein anderes Beispiel ist die Oakland Bay Bridge, die auf engstem Raume ein äußerst komplexes und wandelbares, aber trotzdem stabiles soziales Gebilde beherbergt. Doch Gibson geht noch näher heran, immer wieder lässt er seine Figuren in äußerst kleine Räume einkehren. Rydell übernachtet in einem Kisten-ähnlichen Quartier, in dem gerade ein Bett Platz hat, Chevette kehrt zurück in den kleinen Anbau, in dem sie schon in "Virtuelles Licht" Unterschlupf gefunden hat. Und Fontaines Laden ist eine weitere Welt für sich, ein Universum, dass aus alten Uhren besteht, von denen Gibson in seinem E-Bay-Artikel schreibt: "Each one is a miniature world unto itself."
In "Futurematic" lässt William Gibson seiner Vorliebe für solche marginalen, inoffiziellen Räume freien Lauf. Er gibt ihnen sogar einen Namen: "interstitielle Gemeinschaften". Gemeinschaften also, die sich zwischen etwas befinden, zwischen Oakland und San Francisco, an den Rändern des öffentlichen Raumes, so wie die Pappkartonstadt. Zu ihrem Bestehen brauchen diese Gemeinschaften die Metropole, aus der sie ihre Dynamik und ihre Materialien beziehen. Andererseits aber haben die interstitiellen Räume wichtige Funktionen für die Stadt. Sie dienen als willkommenes Auffangbecken zwielichtiger Figuren, die so aus dem Stadtbild verschwinden, und sie fungieren als soziales und ökonomisches Experimentierfeld. Hier werden Prototypen gehandelt, für die der offizielle Markt noch nicht reif ist, und Mehrwerte erwirtschaftet, die auf Umwegen ihren Weg auf die Konten respektabler Geschäftsleute finden.
"Futurematic" glänzt mit äußerst präzisen, oft poetischen Schilderungen der Randzonen öffentlichen Lebens. Gibson ist am besten, wenn er mit seiner Prosa sich den Dingen annähert, deren materielle Präsenz der nahtlosen Einverleibung durch Kapital und Cyberspace widersteht. "Futurematic" selbst, mit seiner schleppenden Bewegung auf den mysteriösen Knotenpunkt zu, widerstrebt den Beschleunigungstendenzen einer immer schneller Visionen und Zukunftsentwürfe produzierenden Warenwelt. Am Romanende ist der Knotenpunkt erreicht, die Veränderung ist eingetreten, doch sie ist von so komplexer Natur, dass sie für die meisten Figuren und den Leser nicht nachvollziehbar wird. Die Vereinigung der künstlichen Intelligenzen Neuromancer und Wintermute am Ende von Gibsons berühmtem Erstling "Neuromancer" war auch so ein Ereignis, und auch am Ende von "Idoru" war alles grundlegend verändert - aber eben auch nicht repräsentierbar. Dieser Verzicht auf eine abschließende Vision, auf ein erlösendes oder zumindest richtungsweisendes Ereignis mag enttäuschend sein, er ist aber konsequent bei einem Roman, der sich den Regeln des SF-Genres konsequent widersetzt.
William Gibson: "Futurematic", Rogner & Bernhard, 365 Seiten, 33 DM, zu beziehen über Zweitausendeins.