Die drei Gesichter des Mario Bava (Teil 1)
Seite 3: Kino und Magie
Bei Bava gibt es dauernd Häuser, Burgen und Paläste an irgendeinem Strand (meistens ist es derselbe Strand, der für ihn so etwas war wie Monument Valley bei John Ford). Diese Gebäude sind pure Illusion. Er konnte aus ein paar Pappfelsen, Farbfiltern und Spiegeln die griechische Unterwelt zaubern (Vampire gegen Herakles), und dann, mit denselben Felsen, einen fremden Planeten (Planet der Vampire). Neben der technischen Brillanz gehörte dazu ein profundes Wissen über optische Täuschungen und Zuschauerpsychologie. Man muss also damit rechnen, von ihm ausgetrickst zu werden.
Sei donne lädt dazu ein, ihn rein visuell zu interpretieren – also auf der Ebene, wo der Film ganz Film ist (für Leute, die das Kino lieber nach den Kriterien von Roman und Theater beurteilen, ist das irritierend). Es gibt auch nicht die branchenübliche Bevormundung des Publikums. Wir erhalten visuelle Informationen, aus denen wir unsere eigenen Schlüsse ziehen können. Danach zeigt uns Bava, wie trügerisch das sein kann, was wir sehen. Genau genommen erweist es sich sogar als trügerisch, dass der Film keinem richtigen Drehbuch folgt. Anfang und Ende des formal streng durchgestalteten Films sind symmetrisch. Das sollte einen stutzig machen. Und für jene, denen das alles zu kompliziert ist, gibt es obendrein noch eine schöne, klare Aussage: es lohnt sich nicht, das, was wir tun, am Primat des Geldverdienens auszurichten. Bava, der dauernd umsonst gearbeitet hat oder für lächerlich geringe Gagen, war das wichtig.
Vielleicht beschreibt man Mario Bava am besten so: Er war ein Perfektionist, der unter Produktionsbedingungen arbeitete, die alles andere als perfekt waren. Operazione paura ist eine jener Filmperlen, bei denen es schon ein Wunder ist, dass sie überhaupt entstanden sind; das letzte Meisterwerk aus dem „Goldenen Zeitalter“ (1957-1966) des italienischen Horrorfilms. Es geht um die Versuche von Gesetz, Medizin und Religion, Sinn aus den Phänomenen unserer Welt zu machen; um die Sünden der Vergangenheit; und, an der Oberfläche, um den Geist eines Kindes, der sich an den Bewohnern eines Dorfes rächt, indem er diese in den Selbstmord treibt. Gedreht wurde nach einem mehrseitigen Exposé. Die Darsteller erhielten vage Angaben zur Handlung und wurden von Bava ermuntert, ihre Dialoge zu improvisieren. Nach zwei Wochen ging den Produzenten das Geld aus. Bava wollte den Film abbrechen. Dann erklärten sich alle Beteiligten spontan bereit, Operazione paura ohne Bezahlung zu beenden. Das muss ein großer Moment in der Karriere von Mario Bava gewesen sein, der kein in der Öffentlichkeit stehender Star wie Fellini war, aber in Fachkreisen – als Regisseur wie als Mensch – einen glänzenden Ruf hatte. Für so jemanden arbeitete man zur Not auch umsonst.
Bava, schreibt Martin Scorsese (in seinem Vorwort zum Buch von Tim Lucas), sei
ein bescheidener Mensch gewesen, einer, der wider Willen ein Künstler war, der innerhalb der am übelsten beleumundeten Filmgenres arbeitete – Horror, Slasherfilme, Sandalenepen, Science Fiction, Sex-Komödien, Western. Wir müssen uns der Idee hinter der offiziellen Filmgeschichte widersetzen, dieser würdevollen Prozession von „wichtigen Werken“, die einige der aufregendsten Filme und Filmemacher im Schatten versteckt hält. Bavas Karriere […] zeigt das Befreiende daran, wenn man ohne Ansehen arbeitet und so, dass einem dabei nicht die Bedeutsamkeit der eigenen Arbeit über dem Kopf schwebt. Je anrüchiger das Genre, und je niedriger das Budget, desto weniger hat man zu verlieren und desto mehr Freiheit hat man, zu experimentieren und neue Bereiche zu erforschen.
Vom Handwerk zur Filmkunst
Filme mit Träumen zu vergleichen, ist ein Gemeinplatz (die Kinematographie und Freuds Traumdeutung sind gleichzeitig entstanden). Bei Bava kann man erfahren, was das wirklich heißt. In Operazione paura findet man Einstellungen, die aussehen wie direkt auf die Leinwand übertragene Traumbilder, und bei einigen davon scheint es heute niemanden mehr zu geben, der erklären könnte, wie Bava das technisch gemacht hat. Der Film wurde zum Teil an Originalschauplätzen gedreht, die Bava so ausgeleuchtet und mit optischen Täuschungen versehen hat, dass der Eindruck entsteht, als würden die Figuren durch von M.C. Escher entworfene Bühnenbilder laufen. Erzählt wird nicht mehr linear, Vergangenheit und Gegenwart existieren gleichzeitig, und weil Bava dort, wo das eine in das andere übergeht, keine Hinweisschilder aufstellt, kann das für Zuschauer wie Figuren sehr desorientierend sein.
Operazione paura (Operation Angst) heißt wahrscheinlich so, weil der Verleih von den Agentenfilmen mit der Hauptdarstellerin Erika Blanc profitieren wollte, deren Titel alle mit Operazione … anfangen. Bei uns lief der Film unter dem noch dämlicheren Titel Die toten Augen des Dr. Dracula. So heißt auch die DVD von Anolis, die lange Zeit die beste Version war, die man kaufen konnte. Ausnahmsweise dürfen wir also auch mal stolz auf uns sein. Leider hat die DVD nur eine deutsche Tonspur. Bei Bava-Filmen hört man am besten die italienische Originalfassung, weil er meistens selbst den Schnitt und die Tonmischung überwacht hat, weil die italienischen Dialoge in der Regel intelligenter sind als die deutschen oder die englischen, und weil bei der Synchronisation – bewusst oder unbewusst – schnell etwas verloren gehen kann, z.B. das Inzestthema in Operazione paura.
Besonders schlecht ist es La frusta e il corpo ergangen, dieser hochromantischen Geschichte von einer amour fou und von den masochistischen Phantasien einer Frau (drei Jahre vor Buñuels Belle de jour entstanden!). Die englische Synchronfassung ist so schlampig gemacht, dass schon mal die Namen der handelnden Personen verwechselt werden, und am Schluss wird über die Dialoge eine Hauruck-Interpretation geliefert, während Bava (im Original) das Denken dem Zuschauer überlässt. Die deutsche Version, Der Dämon und die Jungfrau, hält sich erst gar nicht mit den italienischen Dialogen auf, sondern übernimmt die englischen (mit allen Fehlern). Leider scheint der Übersetzer bei ihm unbekannten Worten aus Prinzip die jeweils erste Bedeutung genommen zu haben, die er im Lexikon fand, und von englischer Grammatik hatte er auch keine Ahnung. Deshalb, und nicht aus Snobismus (hofft der Autor), werden hier bevorzugt die italienischen Originaltitel genannt.
Im DVD-Dschungel
Ich kenne einige, die sich die Anolis-DVD von Die toten Augen des Dr. Dracula nicht gekauft haben, weil sie in Internet-Foren gelesen hatten, dass der Film entgegen anders lautenden Versprechungen gekürzt sei. Solche Feststellungen beruhen oft auf einem Irrtum. Das deutsche PAL-System hat eine Abspielgeschwindigkeit von 25 Bildern pro Sekunde, also einem Bild mehr als im Kino oder auf amerikanischen Ntsc-DVDs. Wer die Laufzeit einer PAL-DVD mit der Kinolänge vergleicht, ohne die 4%ige Beschleunigung mit einzurechnen, vermisst dann gleich ein paar Minuten. Eigentlich ist es sogar noch komplizierter. Die Europa-Version von Planet der Vampire (das Vorbild für Ridley Scotts Alien), die man bei uns auf DVD kaufen kann, wäre auch bei gleicher Laufgeschwindigkeit kürzer als die US-Fassung, ist aber trotzdem „länger“. Das klingt paradox und hat damit zu tun, dass Italiener schneller reden als Amerikaner. Die AIP ließ mit Schnittresten Einstellungen verlängern, damit die Synchronsprecher mehr Zeit für ihre Dialoge hatten (mit Folgen für Bavas Schnittrhythmus), während an anderen Stellen nicht genehme Sequenzen gekürzt wurden.
Noch ein Beispiel für Eigentümer-Vandalismus gefällig? Die Rechte an den meisten Bava-Filmen liegen inzwischen bei Alfredo Leone, der Baron Blood sowie Lisa e il diavolo produziert und sich zudem unbestreitbare Verdienste erworben hat, weil viele der Werke jetzt wieder in sehr guten Kopien zugänglich sind. Allerdings hat er auch Rechte an Filmen gekauft, deren Copyright bereits abgelaufen war, wurde somit reingelegt. Im Oktober 2002 gab es bei Turner Classic Movies eine Mario Bava-Retrospektive. La maschera del demonio hatte einen neuen Anfang bekommen (farbige Titelkarten und ein anderer einführender Off-Text), und überall da, wo es bei Bava nur Toneffekte gegeben hatte, waren die Löcher in der Dauerbeschallung mit Musikschnipseln aus Baron Blood aufgefüllt worden.
La ragazza che sapeva troppo hatte ebenfalls neue, diesmal an den Schluss verlegte Titel bekommen, und Adriano Celentanos Anfangslied „Furore“ fehlte ganz. Das hatte damit zu tun, dass Leone den Film nach diesen Änderungen wieder urheberrechtlich schützen lassen konnte. Auf den von Leones International Media Films lizensierten DVDs finden sich die ursprünglichen Fassungen, aber das muss nicht so bleiben. Heute weiß niemand, was man in zehn Jahren bekommt, wenn man sich La ragazza auf dem dann aktuellen Medium kauft. Es kann einem auch passieren, dass man sich freut, La maschera endlich im Kino sehen zu dürfen, und dann läuft das über die Leinwand, was Leone aus Copyright-Gründen daraus gemacht hat. Vermutlich wird niemand dabei sein, der einen darüber aufklärt. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass nicht auch an den Werken kanonisierter Regisseure herumgepfuscht wird, wenn jemand sein Investment schützen will.
Alles wird noch viel grandioser, verspricht die Industrie, wenn erst jeder von uns ein Abspielgerät für Blu-rays besitzt. Man darf das bezweifeln. Die Probleme beim Bewahren unseres filmischen Erbes haben oft nur wenig mit der Technik zu tun, dafür aber sehr viel mit finanziellen Interessen, antiquierten Urheberrechts-Regelungen und einem allgemeinen Desinteresse der Kulturpolitiker (man sucht jetzt zwar nach verschwundenen Filmen, doch wenn diejenigen, die noch vorhanden sind, bearbeitet und verstümmelt werden, kümmert das keinen). In den USA ist übrigens auch nicht alles besser. Die meisten AIP-Filme liegen heute im Archiv von Sony/MGM. Bei vielen europäischen Produktionen (auch einigen von Bava) wurde irgendwann vergessen, das Copyright zu verlängern. Sony hat kein Interesse daran, solche Filme, digital restauriert oder auch nur irgendwie, auf DVD oder Blu-ray zu veröffentlichen, weil diese Fassungen rechtefrei wären. Vielleicht bespricht man demnächst mit Alfredo Leone, was in einem solchen Fall zu tun ist.
Die stetig steigende Reputation von Mario Bava und die Verkaufszahlen haben zu so vielen DVDs geführt, dass man allmählich den Durchblick verliert und sich dringend eine Website wünschen würde, die einen darüber aufklärt, was man kauft (Lucas’ Video Watchdog konzentriert sich auf den US-Markt). Die Anolis-DVD von Die toten Augen des Dr. Dracula ist lange vergriffen und wird immer teurer. Billiger ist The Curse of the Living Dead. Das war einmal der Titel einer um zehn Minuten gekürzten US-Fassung von Operazione paura; auf der DVD ist aber ein deutsch synchronisierter Film, der verdächtig nach der Anolis-Version aussieht, nur ohne die Extras. Ohnehin darf man nicht einfach glauben, was auf der Verpackung steht. Raro Video (Italien) verspricht bei Bay of Blood eine Laufzeit von 95 Minuten; auf der DVD sind aber nur etwas mehr als 80 Minuten (PAL-Geschwindigkeit), weil der Film nie länger war. Dafür ist er tatsächlich digital restauriert, was bei vielen DVDs nur behauptet wird, weil es gut klingt.
Die Bava Collection, zweite Auflage
In den USA ist die Geschichte der Bava-DVDs inzwischen in die nächste Runde gegangen. Bei Anchor Bay erhält man jetzt, sehr günstig und in zwei Boxen (The Mario Bava Collection, Volume 1+2), ein gutes Dutzend Filme. Das Meiste davon gab es bereits bei Image Entertainment. Wer damals schon gekauft hat, muss sich trotzdem nicht ärgern. Viele der Filme liegen in einer Bild- bzw. Tonqualität vor, wie sie bei den Image-DVDs noch nicht verfügbar waren. Das ist anders als bei gewissen Medienkonzernen, die eine verschlissene Filmkopie auf DVD brennen und ein paar Jahre später eine viel bessere Fassung nachreichen, um noch einmal Kasse zu machen (zwischendurch wird die Schrottversion auch gern an die DVD-Reihe irgendeiner Zeitung verramscht).
Für einige Bava-Filme hat Tim Lucas neue Audiokommentare gesprochen. Man vermisst allerdings den Kommentar – einen seiner besten - zu Kill, Baby … Kill (US-Titel von Operazione paura). Den gibt es nur auf der „Special Edition“, die bei Dark Sky Films angekündigt war. Alfredo Leone, der Lizenzgeber von Anchor Bay, hat in Italien einen Prozess gewonnen und besitzt seitdem auch für die USA die alleinigen Verwertungsrechte. Die DVD von Dark Sky musste vom Markt genommen werden. Eine Weile lang konnte man sie, als Raubkopie, bei eBay ersteigern (von einem Herrn aus Israel). Soll man jetzt bedauern, dass es Raubkopierer gibt? Oder sich darüber freuen, mit Marios Sohn Lamberto die Originalschauplätze von Operazione paura besichtigen zu dürfen (im überdurchschnittlichem Bonusmaterial), auch wenn Alfredo Leone das gern verhindert hätte?
Bei Anchor Bay gibt es die Filme in der italienischen Originalversion (mit englischen Untertiteln), mit der Ausnahme von Bay of Blood (englische Version), Bavas letztem Giallo. Ein Arbeitstitel des Films war Bay of Silver. Aus Silber sind die Münzen, mit denen in Operazione paura das Böse gebannt werden soll (bei Bava kann man mit Geld natürlich nichts erreichen), und wenn man die Farbe ins Italienische übersetzt, landet man bei Dario Argento. Damit hat man schon eine Ahnung, womit in dem Film zu rechnen ist. Bava hat einen Giallo à la Argento und zugleich einen Anti-Giallo inszeniert. Bei Argento-Fans kam das gar nicht gut an.
Bava hat die Dialogszenen zuerst auf Italienisch und dann auf Englisch gedreht. Ein Vergleich der beiden Fassungen ist sehr interessant, weil man daran studieren kann, wie anders die Schauspieler ihre Rolle anlegen, wenn sie ihre Dialoge in einer fremden Sprache sprechen. Tim Lucas rät daher im Audiokommentar zum Kauf der italienischen, bei Raro Video erschienenen Version (mit englischen Untertiteln). Er darf das. Ich darf es nicht. Denn Bay of Blood ist bei uns indiziert. Damit unterliegt der Film einem Werbeverbot.
Und morgen in Teil 2: Schmutz und Schund und wenig Sachverstand – Wie die Bundsprüfstelle dagegen kämpft, dass Mario Bava die Jugend „sozialethisch desorientiert“