Die dunkle Bedrohung

Der Verrückte aus Pjöngjang, die Bombe, amerikanische Außenpolitik in Ostasien und 23 Millionen Geiseln - ein Blick auf die westliche Doppelmoral der Kriege im Namen der Menschenrechte

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Betrachtet man die Erde nachts von einem Satelliten aus, so erscheint die koreanische Halbinsel nur halb bevölkert. Während in Südkorea nicht weniger Lichter als in Japan die dichte Besiedlung anzeigen, leuchtet der nordkoreanische Teil nur ganz vereinzelt. Südkorea wirkt dagegen wie ein weithin strahlender Beweis für die wirtschaftliche Überlegenheit des Kapitalismus. Betrachtet man die Lage jedoch politisch abstrakt, so ist es vor allem eine menschenverachtende Doppelmoral der westlichen Politik, die hier sichtbar wird.

Kim Jong Il - der Verrückte mit der Bombe, wie man ihn im Westen gerne sieht - wird, spätestens nach seiner Behauptung im Jahre 2005, nun über Kernwaffen zu verfügen, gern als Oberbösewicht gesehen. Der Test einer möglichen Atomwaffe am 9. Oktober untermauerte diese Sichtweise. Die Amerikaner rasseln deswegen schon länger mit ihren Säbeln in der verkündeten Absicht, das nordkoreanische Regime zu entmachten. Würden sie es nur endlich tun.

Die Chinesen haben die längste Grenze zu Nordkorea und gleichzeitig auch die besten Beziehungen zum Regime in Pjöngjang. Nachdem sich die dortige Führung nach dem Ende der Stalinära Schritt für Schritt von Moskau ab und Peking zuwandte, weil sie mit dem Ende des Kommunismus stalinscher Prägung auch das Ende ihrer eigenen Herrschaft fürchtete, entstand eine starke Bindung zwischen beiden Führungen. Erst der vermutete Atomtest hat gezeigt wie wenig Einfluss China wirklich auf seinen despotischen Nachbarn hat.

Ein unmenschliches Regime

Den Chinesen, allseits bekannt für ihre geringe Achtung von Menschenrechten, fällt es wohl gerade deswegen leichter als anderen, gute Beziehungen zum Nachbarn zu haben. So gehört es dazu, dass aufgegriffene Flüchtlinge dem koreanischen Verbündeten umgehend zurückgesandt werden, obwohl diese ein schlimmes Schicksal bei ihrer Rückkehr erwartet. Die chinesische Regierung, eigentlich durch Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention an diese gebunden, arbeitet trotzdem mit den nordkoreanischen Behörden zusammen um die Asylsuchenden schnell zurückzuschicken.

Der „Große Geliebte Führer“ Kim Jong Il

An der chinesischen Grenze zum Nachbarn erzählt man mittlerweile viele Geschichten von der Grausamkeit der nordkoreanischen Soldaten. So wurde eine Frau, die man zurückschickte, mit einem Stahlkabel gefesselt. Man wickelte es nicht um die Hände, sondern durchstach die Hände damit. Andere Flüchtlinge, die man ablehnte, verschnürte man mit ebensolchen Stahlkabeln, indem man diese jeweils unter ihren Schlüsselbeinen durchs Fleisch stach und sie so miteinander verband.

Überleben sie die Tortur ihrer Rückführung, so werden sie entweder gleich als Klassenfeinde erschossen, oder sie werden im Schnellverfahren verurteilt und kommen in eines der berüchtigten „Erziehungslager für die Gedankenveränderung“, die vor allem KZ-Arbeitslager sind. Hier arbeiten die Gefangenen täglich von 6.00 bis 24.00 Uhr und wird Nahrungsmangel systematisch als Mittel eingesetzt, um die Gefangenen willfährig zu machen. Dort werden sie derart unmenschlich behandelt, dass selbst ein Vergleich mit Tieren dem nicht gerecht wird. Tiere foltert man nicht im Namen einer Ideologie. Aus den Berichten weniger Flüchtlinge die nach ihren Jahren in diesen Lagern aus Nordkorea entkommen sind, sind darüber einige Grausamkeiten bekannt geworden.

Nach der offiziellen nordkoreanischen Führerdoktrin, der „Theorie des unsterblichen soziopolitischen Körpers“, darf ein Mensch nur als 100prozentig zur Führung loyaler Staatsbürger existieren. Wie am Körper eines Lebewesens alles einen Zweck hat und ihm vollständig dient, so hat auch jeder Mensch einen solchen Zweck in der Gesellschaft. Kim Jong Il, der Führer, ist nach dem Tod seines Vaters Kim Il-Sung das Gehirn dieses soziopolitischen Körpers und damit dieser Zweck, dem jeder Mensch vollständig dienen musste, sonst war er totes Fleisch. Nicht nur überflüssig, sondern hinderlich. Gefährlich wie ein Krebsgeschwür. Man musste es herausschneiden.

Die gesamte Gesellschaft muss fest zu einer geeinten politischen Kraft geformt werden, die im Einklang atmet und voranschreitet, mit nur einem Gedanken und nur einem Willen, unter der Leitung des obersten Führers.

Radioansprache vom 3. Januar 1986

In den nordkoreanischen Arbeitslagern erschießt man Personen, die ihr Arbeitspensum nicht erfüllen. Vor den anderen Gefangenen. Mit der Erklärung, dass dies sein muss, um den Körper nicht zu gefährden. Man erschießt auch Insassen, die den weißen Kreidekreis um ihren Arbeitsplatz übertreten. Ohne Warnung. Gefangene dürfen nicht reden und zum Wächter aufschauen, andernfalls werden sie schwer misshandelt. Die Folter überleben die meisten - wenn überhaupt - oft nur als Krüppel.

Dabei sind viele der Nordkoreaner selbst die in den Lagern von der Richtigkeit dieses Tuns überzeugt. Ohne ihren „geliebten Führer“ können sie sich eine Welt gar nicht vorstellen. Sie sind die Angehörigen einer gefährlichen Sekte, deren verrückter Chef sich selbst als Gott betrachtet. Die Konsequenzen sind für niemanden berechenbar.

Wenn Kim nun die Bombe hat, dann kann er sie verkaufen oder damit drohen. Er kann sie auch einsetzen. Gegen Japan, gegen Südkorea, gegen amerikanische Basen. Vielleicht auch gegen sein eigenes Volk. Es wäre nicht die erste Sekte die kollektiven Selbstmord begeht. Vielleicht ist das Regime in Pjöngjang aber auch gar nicht so verrückt, wie alle meinen.

Strategische Interessen der USA in Asien

Wer denkt, dass die Vereinigten Staaten nur auf eine günstige Gelegenheit warten, um militärisch gegen Nordkorea vorzugehen, der irrt. Die Existenz des Regimes unterstützt gleich mehrere wichtige amerikanische Interessen in Ostasien.

Divide et impera - teile und herrsche - ist die außenpolitische Devise großer Imperien seit Jahrtausenden. In Ostasien funktioniert diese Methode seit Ende des Zweiten Weltkrieges geradezu perfekt. Zwischen Südkorea, China, Taiwan, Russland, Japan und Nordkorea herrschen verschiedene Feindschaften und Ängste, die diese Länder voneinander trennen und somit die USA zum bevorzugten Partner der Region machen.

Da wäre China, das Taiwan wieder einverleiben will und gleichzeitig in Japan, welches im Zweiten Weltkrieg für den Tod von geschätzten 20 Millionen Chinesen verantwortlich war, immer noch einen Erzfeind sieht. Genauso wie Südkorea, dass ebenfalls sehr unter der japanischen Besatzungsmacht litt, sich gleichzeitig aber vor der wachsenden Macht des kommunistischen Chinas fürchtet. Außerdem herrscht natürlich Angst vor dem Irren aus Pjöngjang, der mit seinen über eine Million Soldaten und einer möglichen Atombombe eine existentielle Bedrohung darstellt.

Genauso wie Taiwan ist Südkorea nur durch die amerikanische Schutzmacht wahrscheinlich überhaupt noch existent. Auch Japan ist auf diese angewiesen. Zwar verfügt es mittlerweile wieder über hochgerüstete Streitkräfte (der Militäretat ist der sechsthöchste der Welt, auch wenn nicht offiziell von „Armee“ gesprochen werden darf), aber gegenüber den atomar bewaffneten Mächten China und Russland, zwei Jahrhunderte alte Erzfeinde, wäre es trotzdem schnell im Hintertreffen. Die amerikanischen Garantien für Japans Sicherheit sind also überlebensnotwendig.

Zumindest so lange, bis Feinde nicht zu Verbündeten werden. Die amerikanische Befürchtung eines Geheimpaktes zwischen Peking und Tokio würde die Machtverhältnisse in der Region sehr zuungunsten der USA (und auch der anderen genannten Länder) verschieben. Die tiefgehenden Ressentiments zwischen China und Japan könnten vielleicht darüber zurückgedrängt werden, so sehr würden beide davon profitieren. Wir erinnern uns: Auch der Jahrhunderte lange Konflikt zwischen Frankreich und England fand mit dem Ersten Weltkrieg ein Ende. Trotz vieler Unterschiede und Vorurteile, die bis heute nicht ganz beseitigt sind.

Taiwan würde sich dann in sein chinesisches Schicksal ergeben, Südkorea sich vielleicht Japan schnellstmöglich annähern, vielleicht aber auch als vereintes Korea eine Mittlerrolle spielen. Russland müsste auf lange Sicht einen Überfall in Sibirien und den Verlust seiner Zugänge zum japanischen Meer befürchten und die Amerikaner wären komplett raus aus dem Spiel. Natürlich wären auch andere Achsen möglich. Zwischen Tokio und Russland beispielsweise. Da sich dann aber - mit China auf der anderen Seite - zwei starke Blöcke in Ostasien gegenüberständen, wären die Amerikaner immer noch wichtig als Verbündeter. Das wäre nicht das Horrorszenario für die Strategen in Washington.

Ist Nordkorea der „Alliierte“ der Amerikaner in Ostasien?

Solange der Sektenführer in Pjöngjang es nicht übertreibt, verhindert er wirksam eine chinesisch-japanische Allianz. Seine Nähe zu China und seine gleichzeitig aktive Bedrohung Japans (z.B. Rakete über Japan 1998) sorgen eher für Spannungen zwischen beiden Ländern.

Ein Kollaps des Regimes in Pjöngjang würde für China außerdem das Problem nordkoreanischer Migranten verschärfen und das Reich der Mitte destabilisieren. Millionen halbverhungerte nordkoreanische Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen, würde der offiziell kommunistischen Politik Chinas hochgradig widersprechen, ganz abgesehen davon, dass der Flüchtlingsstrom kaum beherrschbar wäre, ja auch jetzt schon nicht ist. Ein Problem, das in vergleichbarem Ausmaß dann auch auf Südkorea zukäme. Nordkorea hat 23 Millionen, jetzt schon halb verhungerte Einwohner. Ein ideologisch so vollständiger Regimewechsel, mit dem dann schon obligatorischen Chaos, würde eine Wanderungsbewegung in Gang setzen, die die Nachbarstaaten schnell überforderte.

Der Zerfall der ideologischen Blöcke nach dem Ende des Kalten Krieges, hat vor allem die unideologischen Machtinteressen der einzelnen Staaten und uralten Konflikte wieder neu zum Vorschein gebracht. Die Karten der Weltpolitik werden nun neu gemischt und wohl dem, der immer noch ein As im Ärmel hat. Nordkoreas Politik der gefährlichen Unberechenbarkeit und aktiver Bedrohung der Mächtigen Ostasiens ist deshalb auch keineswegs so verrückt, wie man vermuten könnte. Sie ist vielmehr wohldurchdacht und weckt Erinnerungen an die Chrustschow -Ära. Kim Jong Il deswegen einen „Verrückten“ zu nennen, wäre ein Fehler. Einen Führer jedoch, der sein eigenes Volk mit dem Argument es zu schützen, in den massenhaften Hungertod treibt und derart grausam unterjocht, ist selbst nach den sehr allgemeinen moralischen Maßstäben der unterschiedlichen Kulturen auf unserem Globus nur als Verrückter zu bezeichnen.

Die Nichteinmischung in interne Angelegenheiten anderer Staaten ist mit gutem Grund vom Völkerrecht untersagt, doch Völkermord darf deswegen nicht einfach hingenommen werden. Die nordkoreanische Sekte ist nicht nur eine Bedrohung für die benachbarten Staaten, sie ist es auch vor allem für ihre Mitglieder. Folter und Ermordung eines großen Teils der eigenen Bevölkerung durch dessen Führung, zur Aufrechterhaltung ihrer Macht, musste schon als Grund für einige Angriffskriege des Westens herhalten. Als Beispiel sei hier nur der Kosovokrieg genannt. Keines dieser Regime war jedoch nur annähernd so unmenschlich wie das nordkoreanische. Eine Duldung gerade hier offenbart die Doppelmoral des Westens bei der Auswahl der angegriffenen Staaten. Nicht der Kampf gegen Unmenschlichkeit, sondern strategische Interessen und der Zugriff auf Rohstoffreserven regieren das Handeln. Andernfalls dürfte es Kim Jong Ils Regime schon nicht mehr geben.