"Die ganze Odyssee ist absurd"
Interview mit Mahmoud Abu Hashhash (Qattan Foundation, Ramallah) und Iman Aoun (Ashtar Theater, Ramallah) zu den Auswirkungen der israelischen Besatzung auf Kunst und Kultur in Palästina
Der Blick auf Israel/Palästina ist in der Bundesrepublik Deutschland durch die Geschichte von Antisemitismus und Judenvernichtung geprägt. Das führt dazu, dass nicht nur Deutsche, sondern auch Palästinenser und jüdische Israelis immer wieder pauschal delegitimiert werden, wenn sie die israelische Besatzungspolitik oder Diskriminierung palästinensischer Israelis kritisieren, selbst wenn sie sich dabei auf die Menschenrechte und das Völkerrecht beziehen.
Dies trifft in den letzten Jahren in besonderem Maße auf die BDS-Kampagne zu. Diese fordert Boykott und Sanktionen gegen Israel, bis das Land Resolutionen der Vereinten Nationen hinsichtlich einer Zwei-Staaten-Regelung umsetzt. Die Boykottforderung richtet sich auch gegen israelische Künstler und gegen aus staatlichen israelischen Mitteln finanzierte Kulturveranstaltungen.
Der Bundestag, viele Landtage und Stadträte haben beschlossen, BDS sei antisemitisch und dürfe nicht mit öffentlichen Geldern, Räumen, etc. unterstützt werden. In Folge müssen Veranstaltungen zum Thema Palästina/Israel oft abgesagt werden, weil bereits zugesagte Räume entzogen werden - aus Angst von Vermietern, öffentliche finanzielle Unterstützung zu verlieren oder selbst in die Kritik zu geraten.
Zugleich setzt Israel seit über 50 Jahren militärische und administrative Maßnahmen gegen die palästinensische Bevölkerung in Westjordanland und Gazastreifen um, die in ihrer Wirkung mit einem umfassenden Boykott und Sanktionen vergleichbar sind. Dies führt in Deutschland jedoch nicht zu einer entsprechenden Ausgrenzung.
Mit einer Reihe von Interviews thematisieren wir die Auswirkungen entsprechender israelischer Politik in verschiedenen Bereichen, zuletzt auf die palästinensische Wirtschaft (Es geht schon lange um Annexion).
"Uns fehlt der kollektive Traum"
Mahmoud Abu Hashhash arbeitet seit 1999 für die Qattan-Stiftung in Ramallah und leitet heute deren Programm für Kunst und Kultur.
Die Qattan-Stiftung ist wohl die größte und bekannteste Förderorganisation für Kunst und Kultur in Palästina. Sie wurde 1994 in London gegründet und hat 1999 ihre Arbeit von Ramallah aus aufgenommen. Wo steht die Stiftung heute?
Mahmoud Abu Hashhash: Wir fördern Künstler finanziell, mit Kursen und Auslandsstipendien und unterstützen Kulturinstitutionen und Künstlerkollektive in der Produktion. Wir führen aber auch Lehrer in neue Unterrichtsmethoden ein und über unser Zentrum in Gaza bieten wir künstlerische, literarische und wissenschaftliche Aktivitäten für Kinder, außerdem eine große Bibliothek.
Was bedeutet Kulturarbeit in einem Umfeld, in dem Land und Bewegungsfreiheit immer weiter eingeschränkt werden?
Mahmoud Abu Hashhash: Kultur und Bildung haben bei uns schon immer eine große Rolle gespielt, schon unter osmanischer und britischer Herrschaft. Manche Pädagogen von damals sind bis heute bekannt, wie Khalil Sakakini und Ahmad Sameh Al-Khaldi. Palästinensische Städte verfügten alle über kulturelle Infrastruktur wie Theaterhäuser, Kinos, Verlage, Wochenmagazine, Tageszeitungen. Die Kunst- und Literaturszene wuchs und war eingebettet in das Kulturleben der Levante.
Aber nach der Nakba (dem Verlust Palästinas 1948) kam der Kultur eine neue Bedeutung zu. Als 750.000 Palästinenser aus ihren Städten und Dörfern vertrieben wurden und alles verloren, wurde schnell klar, dass Bildung und Kultur zur Existenzsicherung und zur Darstellung des Erlebten lebenswichtig wurden. Das ist etwas, was einem nicht mehr weggenommen werden kann. Und es hilft dabei, Humanität zu bewahren angesichts der Entmenschlichung durch den kolonialen Apparat Israels.
Deshalb ist Kulturarbeit heute noch wichtiger. Israel und seine Unterstützer wollen, dass wir unsichtbar sind. Durch unsere Kulturarbeit sind wir jedoch mit der ganzen Welt verbunden und zeigen, dass wir da sind, frei und unabhängig sein wollen und historische Gerechtigkeit fordern.
Von palästinensischen Künstlern höre ich oft, dass ausländische, auch deutsche Unterstützer palästinensischer Kulturarbeit verlangen, dass sie den "Konflikt hinter sich lassen" sollen. Offenbar ist es schwierig, Unterstützung für politische Projekte zu bekommen. Wie macht das Qattan?
Mahmoud Abu Hashhash: Generell fördern wir Kreativität und Innovation und nicht politische Rhetorik. In den 1960er, 1970er und 1980er Jahren waren Politik und Kultur in Palästina in einer Art katholischer Ehe miteinander verbunden. Leider resultierte jedoch die ganze Arbeit in den Osloer Verträgen, für viele der Künstler und Schriftsteller eine sehr frustrierende Erfahrung. Ihre künstlerische Produktion wurde durch Oslo sozusagen entwertet. Und die neuen politischen Debatten fanden auf einer sehr viel niedrigeren Ebene statt, verglichen mit den hohen Erwartungen aus der Zeit davor.
Qattan unterstützt deshalb einen kritischen Diskurs, der die neuen Werte und Konsequenzen aus den Osloer Verträgen in Frage stellt. Wir wollen eine neue Ästhetik, neue Praktiken und neue Kunstformen zeigen, tiefgreifender, als das Gemälde oder das Poster, die zuvor alles dominierten. Wir wollen die Komplexität der neuen Situation aufgreifen. Wir wollen, dass sich die Künstler frei ausdrücken. Es ist natürlich klar, dass in Palästina alles politisch ist. Dem kann man nicht entfliehen. Aber Dinge können subtiler dargestellt werden, so dass sie nicht nur in Palästina gut ankommen, sondern ein internationales Publikum finden.
Vor den Osloer Verträgen von 1994 waren politische, auf Befreiung zielende palästinensische Darstellungen durch Israel verboten und wurden bestraft. Nicht einmal die palästinensische Flagge durfte gezeigt werden. Man könnte doch deshalb sagen, die Osloer Verträge haben hier ganz neue Möglichkeiten eröffnet.
Mahmoud Abu Hashhash: Nein, das scheint nur so. Politische Betätigung für die Freiheit ist bedeutungslos, wenn sie von den Besatzungsbehörden erst lizenziert werden muss. Ihr kommt so keine emanzipatorische Rolle zu. Genau deshalb wurde die kulturelle Bewegung der 60er bis 80er Jahre als Widerstandsbewegung wahrgenommen, als viel relevanter für die palästinensischen Freiheitsforderungen. Zu jener Zeit waren Künstler wie Suleiman Mansour sehr einflussreich. Er war eine herausragende Figur in Palästina, außerhalb jedoch fast unbekannt. Manche aus der jüngeren Generation, also diejenigen, die Ende der 1990er loslegten, sind heute internationale Größen, jedoch kennt sie in Palästina kaum jemand. Aber ja, Oslo führte jedenfalls dazu, dass wir in Palästina auf einmal mit der Welt interagieren konnten.
Welche Rolle nimmt dann die jüngere Künstlergeneration ein?
Mahmoud Abu Hashhash: Obwohl es heute möglich wäre, sehen wir wenig politischen Ausdruck in der Kunst. Uns fehlt jetzt eben das gemeinsame Befreiungsprojekt oder der kollektive Traum. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) war einmal die Trägerin dieses kollektiven Traums, und auch jene, die nicht Teil der PLO oder einer politischen Partei waren, fühlten sich dazugehörig. Es war eine Art Gesellschaftsvertrag.
Jetzt hat die Kunst ihre eigene Ästhetik und subtile Politik entwickelt. Viele palästinensische Künstler sind heute weltweit bekannt, wie das Trio Jubran, die überall touren. Tayseer Batniji, Steve Sabella, Kamal Boulata oder Hani Zurob, Emily Jacir, Kamal Al Jafari, Elias Suleiman und viele andere mehr. Ihre Kunst ist ein Teil Palästinas, mit all den persönlichen und kollektiven Narrativen. Sie präsentieren sie hier, aber auch in Europa und den USA.
Palästinensische Kunst bewegt sich also ungehindert in der Welt. Wie sieht das zu Hause aus, im Kontext der israelischen Mobilitätsbeschränkungen, mit denen Sie in den besetzten Gebieten leben?
Mahmoud Abu Hashhash: Oslo, der sogenannte Friedensprozess, ist ein politischer Prozess, der von einer politischen Partei gemanagt wird, der Fatah. Hamas hat sich auf der Gegenseite positioniert. Die Bevölkerung ist dabei ausgeschlossen nach dem Motto: "Ihr macht euer Ding und wir regeln das mit dem Friedensprozess für euch." Dieser Frieden ist für uns ein endloser, absurder Prozess, der nur wenigen dient und den Weg für eine schnellere Ausdehnung israelischer Siedlungen und Landnahme geebnet hat.
Jetzt stecken aber alle fest, selbst unsere politische Führung. Sie merken, dass sie 30 Jahre auf eine lokale Scheinautonomie verschwendet haben, ohne Kontrolle über Land, Wasser, Luftraum, nichts. Die israelische Armee kann nach problemlos nach Ramallah fahren und Mitglieder unseres Parlaments verhaften, direkt neben dem Amtssitz des Präsidenten. Sie werden verstehen, dass solch ein politisches Projekt hier nicht sehr glaubwürdig ist.
"Wir haben de facto kein Recht auf Mobilität"
Wie beeinflusst das Kunst und Kultur?
Mahmoud Abu Hashhash: Logistisch ist es eine große Herausforderung. Der Gazastreifen ist seit über 13 Jahren isoliert und abgeriegelt. Wir unterstützen hunderte Projekte in Gaza, aber es ist fast unmöglich, hinzufahren und Leute zu treffen. Oder die Arbeiten aus dem Gazastreifen herauszubekommen, einmal abgesehen von den Künstlern selbst.
Zum Beispiel: Wir haben drei Jahre lang versucht, den Künstler Abdullah Ruzzi für ein Stipendium nach Frankreich aus dem Gazastreifen zu bekommen. Nach drei Jahren hat das französische Konsulat eine Erlaubnis von Israel bekommen, dass Ruzzi ins Westjordanland reisen konnte. Palästinenser aus Gaza und dem Westjordanland dürfen ja den Flughafen in Tel Aviv nicht benutzen. Dann stellte sich heraus, dass es keine Koordination mit dem israelischen Grenzposten zwischen dem Westjordanland und Jordanien gab. Als das geklärt war, ließ ihn Jordanien nicht einreisen. Als dann all diese Hindernisse ausgeräumt waren, ordnete Präsident Abbas an, dass alle Angestellten der Regierung im Gazastreifen, die nicht an ihrem Arbeitsplatz erscheinen, ihren Job verlieren. Dieses Thema hat einen politischen Kontext und beschäftigt uns schon seit vielen Jahren. Ruzzi hat jedenfalls so einen Job und wollte natürlich sofort nach Gaza zurückkehren. Aber dann ließ ihn Israel nicht mehr aus dem Westjordanland ausreisen und er musste hier bleiben, was nach israelischem Gesetz für ihn als Einwohner Gazas eigentlich illegal ist. Diese ganze Odyssee ist absurd.
Und das ist nur ein Fall von vielen. Wenn wir einen Künstler aus Gaza auswählen, müssen wir immer einen aus dem Westjordanland in der Hinterhand haben, weil deren Chance auf eine israelische Reiseerlaubnis minimal ist.
Können Sie denn Ihre Projekte in Gaza besichtigen?
Mahmoud Abu Hashhash: Vor ein paar Monaten habe ich von Israel die Erlaubnis bekommen; das erste Mal in 20 Jahren. Die Stiftung beantragt das regelmäßig für uns, normalerweise für eine Gruppe. Aber Israel gibt uns dann nur eine Erlaubnis für eine oder zwei Personen. Und nicht notwendigerweise für den beantragten Zeitraum. Das heißt, wir wollen zu einer Konferenz oder einem Treffen nach Gaza und sie geben uns die Reiseerlaubnis für die Woche danach. Sie regulieren, wann wir nach Gaza ein- und ausreisen.
Behindert werden aber nicht nur Menschen. Qattan begann im Jahr 2000 mit dem Bau seines Kulturzentrums in Gaza, das 2003 fertiggestellt sein sollte. Es dauerte aber zwei Jahre länger, weil es sehr schwierig war, Baumaterial einzuführen. Und in Bezug auf Bücher und Bildungsmaterial hängen wir von Diplomaten ab, die das mit nach Gaza nehmen. Sonst wäre es unmöglich.
Aber diese Mobilitätsbeschränkungen beziehen sich für uns auch auf Jerusalem, Haifa, Nazareth und so weiter. Wir unterstützen auch dort Festivals und andere kulturelle Aktivitäten und wir müssten da ja eigentlich auch hin. Israel erlaubt das aber nicht.
Und Künstler aus dem Westjordanland, können die ins Ausland reisen?
Mahmoud Abu Hashhash: Israel kontrolliert unsere Grenzen und unter dem Vorwand der "Sicherheit" machen sie, was sie wollen, ohne Erklärung oder Beweis. So unterliegen in der Praxis viele Menschen einem Reiseverbot.
Letztens unterstützten wir eine junge Initiative namens "Radio ohne Frequenz", eine Art Radio-Performance. Es sollte nach Tunesien gehen, aber der Kopf der Gruppe, Faris Shomali, durfte nicht ausreisen. Er ist Musiker und Komponist und hatte die Idee zur Initiative. Solche Dinge passieren häufig.
Wir aus dem Westjordanland müssen über Jordanien. Aber wenn zum Beispiel jemand früher im Gefängnis saß - und Sie wissen, dass israelisches Militärgesetz keine Anklage für Verhaftung braucht -, dann wird diese Person viele Jahre lang nicht ausreisen dürfen. Wir haben de facto kein Recht auf Mobilität.
"Wir werden unser Publikum doch nicht als Sicherheitsrisiko betrachten"
Iman Aoun ist eine in Palästina bekannte Schauspielerin und die Intendantin des Ashtar Theaters in Ramallah.
Wie reagiert Ihr Theater darauf, dass sich die Bevölkerung im Westjordanland nur eingeschränkt bewegen kann?
Iman Aoun: Da das Publikum nicht zu uns kommen kann, fahren wir zum Publikum. Aber leicht ist das nicht. Eigentlich arbeiten wir im Westjordanland, Ost-Jerusalem und im Gazastreifen. Unser Team darf jedoch wegen der Abriegelung nicht nach Gaza. Wir beantragen das zwar immer wieder, bekommen aber von Israel keine Genehmigung, zu Aufführungen nach Gaza zu fahren. Die Kollegen, die einen Personalausweis aus dem Westjordanland haben, lässt Israel ja nicht einmal nach Ost-Jerusalem. Und wenn wir zu einem Festival im Ausland eingeladen sind, bedeutet das für uns immer eine Verdopplung von allem: Reiseorganisierung, Budget, weil wir den Flughafen in Tel Aviv nicht nutzen dürfen und über Jordanien reisen müssen, und natürlich Zeit.
Sie arbeiten auch mit internationaler Unterstützung. Bedeutet das, dass Sie bestimmten Bedingungen unterworfen sind, auch politisch?
Iman Aoun: Ja. Ein Thema ist, dass die Europäische Union ihren Verträgen einen Zusatz hinzugefügt hat, der unseren Widerstand gegen die israelische Besatzung kriminalisiert. Das heißt, die EU duldet die israelische Besatzung, aber nicht das internationale Recht auf Widerstand gegen diese Besatzung. Einige Staaten haben diesen Passus ebenfalls in ihren Verträgen übernommen. Wir führen das auf israelischen Druck zurück, der das Ziel hat, die palästinensische Zivilgesellschaft ruhigzustellen und unsere politische Rolle in der Verteidigung palästinensischer Rechte zu kontrollieren.
Wie verhalten sich die verschiedenen Organisationen? Gibt es ein gemeinsames Vorgehen gegen diese Bedingungen?
Iman Aoun: Natürlich. Die zivilgesellschaftlichen Netzwerke wie auch das der Darstellenden Künste arbeiten gegen diese Bedingungen an. Sollen wir unser Publikum einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen, bevor wir auftreten? Wir machen Theateraufführungen und helfen zum Beispiel Kindern und Jugendlichen durch Forumstheater, Traumata zu bewältigen. Sollen wir vorher überprüfen, was sie über Israel denken? Wir werden unser Publikum doch nicht als Sicherheitsrisiko betrachten, wo kommen wir denn da hin! Und die Europäische Union muss uns auch wieder als Menschen mit Rechten zu betrachten, die nicht stumm dabei stehen, wenn Israel seine Besatzung über unser Land ausbaut.
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