Die letzten Bundeswehr-Streitkräfte haben Afghanistan verlassen
Auslands-Mission zur "Verteidigung unserer Sicherheit" beendet. Flüge zum Hindukusch nur mehr mit abgeschobenen Afghanen? Kommentar
Gestern Nacht haben die letzten Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr Afghanistan verlassen, verkündigte die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zu einem Zeitpunkt, als die mediale Aufmerksamkeit noch ganz beim EM-Fußball-Match England gegen Deutschland war.
Sie fügte der Kurzmeldung auf Twitter eine Zahl hinzu, die die größere, nicht auf die Vorgänge in Afghanistan spezialisierte Öffentlichkeit überraschen dürfte: Insgesamt etwa 150.000 Bundeswehrsoldatinnen - und -soldaten waren in den letzten knapp zwanzig Jahren am Hindukush im Einsatz. Das ist eine erstaunlich große Zahl an Menschen, die "unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt" haben, wie der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) am 11. März 2004 den Einsatz begründete.
Das Zitat zog danach größere Runden, irgendwann wurde es dann mehr oder weniger vergessen. Wie auch die jahrelange Diskussion darüber, ob man das, woran sich die Bundeswehr beteiligte, tatsächlich "Krieg" nennen dürfe.
Viele der Bundeswehrstreitkräfte wurden "mehrfach eingesetzt", ergänzt ein Tagesschau-Bericht die Infos der Verteidigungsministerin. Zur Bilanz gehört auch, dass 59 von ihnen in Afghanistan ums Leben kamen, "35 von ihnen wurden im Gefecht oder durch Anschläge getötet" (Tagesschau).
Eine genaue namentliche Auflistung des "verlustreichsten Auslandseinsatzes der Bundeswehr-Geschichte" unternimmt das Blog Augen gerade aus. Dort werden alle diejenigen genannt, die seit 2003 "durch Feindeinwirkung gefallen" sind.
Diese Einzelschicksale zeigen auf ihre Weise, was Krieg bedeutet - anders als es die Reklamepostkarten der Bundeswehr suggerieren, die an 17-Jährige verschickt werden, sie mit Vornamen ansprechen, mit Kino-Plakatbildern tolle Action-Karrieren suggerieren und harmlos fragen: "Nach der Schule schon was vor?"
Die grässliche Fratze des Krieges
Doch ist die Liste der gefallenen Bundeswehrsoldaten (es findet sich keine Soldatin darunter) nur ein Ausschnitt, er zeigt nur einen minimalen Teil der grässlichen Fratze des Krieges in Afghanistan. Die ärztliche Friedensorganisation IPPNW ergänzt das Bild:
Erschütternd sind die humanitären "Kosten" des Afghanistankrieges. Allerdings gibt es bisher keine repräsentativen Studien wie im Irak, mit denen man die Gesamtzahl der Opfer abschätzen könnte. Dem "Costs of War Project" zufolge, das sich auf registrierte Todesfälle stützt, starben in Afghanistan und Pakistan mindestens 238.000 Menschen in direkter Folge von Kriegshandlungen, über 71.000 davon Zivilist*innen. Nach der Analyse der IPPNW-Studie "Body Count" liegt die tatsächliche Zahl der zivilen Opfer jedoch vermutlich fünf- bis achtmal so hoch. Hinzu kommt eine noch weit höhere Zahl von Verwundeten und Millionen von Geflüchteten und Vertriebenen.
IPPNW
Es werden sicher noch große Analysen zur Bilanz des Bundeswehreinsatzes am Hindukusch folgen, bleibt man aber dabei, dass der Blick auf Einzelschicksale die Leiden und das Monströse am Krieg auf besondere Weise vor Augen führen, die nicht nur "gerade aus" schauen, dann fällt auf, dass zur Bilanz des deutschen Einsatzes auch gehört: Der Bombenbefehl des damaligen deutschen Bundeswehr-Oberst Klein Anfang September 2009, bei dem rund 140 Menschen starben. Der größte Teil davon waren Zivilisten, die sich Benzin aus festgefahrenen Tankwagen abzapfen wollten.
Die Überprüfung dieses in der Geschichte der Bundeswehr wohl tödlichsten Angriffs verlief anfangs zögerlich und endete nach fünf Jahren für die Opfer enttäuschend. Die zuständige Generalanwaltschaft Dresden gab alsbald das Verfahren an die Bundesanwaltschaft ab, die ein halbes Jahr nachdem Angriff am 15. März 2010 die Ermittlungen begann, aber schon am 16. April wieder einstellte, da ein Verstoß gegen das deutsche Strafrecht oder das Völkerstrafrecht nicht erkennbar sei.
Norman Paech
"Keine Entschädigung für die Opfer: Es fehlt ein eindeutiger Kodex zur Entschädigung von Kriegsunrecht", resümierte Norman Paech an dieser Stelle im März dieses Jahres: EUGMR zum Massaker am Kundus-Fluss 2009.
Zur "lateralen" Bilanz gehört auch der Umgang der deutschen Stellen mit den Afghanen, die sich durch ihre Unterstützung der deutschen Einsatzkräfte in Gefahr gebracht haben für die Zeit nach dem Abzug der Bundeswehr. Offenbar musste da erst eine Initiative angeschoben werden:
Grotian (der Vorsitzender des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte, Einf. d.A.) und eine weitere Initiative, die ich mit auf den Weg gebracht habe, hatten sich dafür eingesetzt, die von den Taleban bedrohten und mit Visas ausgestatteten afghanischen Ortskräfte der Bundeswehr und anderer deutscher Aktivitäten in Afghanistan von Masar aus sicher auszufliegen und dafür Bundeswehrkapazitäten zu nutzen (mehr siehe hier).
Offenbar hat die Bundesregierung diese Lösung so lange verschleppt, bis sie nicht mehr in Frage kam. Der Spiegel sprach von "systematischer Verantwortungsvermeidung". Die Ortskräfte sollen sich nun selbst Flugtickets besorgen und ihre Ausreise selbst organisieren.
Thomas Ruttig
Der Afghanistan-Kenner Ruttig fügt dazu an, dass es weiter deutsche Flüge nach Afghanistan geben wird: Die Bundesregierung plane bereits die nächste Sammelabschiebung nach Afghanistan "für Anfang Juli 2021".
Offenbar hält man im deutschen Innenministerium die Lage in Afghanistan für sicher genug. Auch diese Einschätzung erfolgt aus einer etwas begrenzten Perspektive (vgl. Afghanistan: Kriege ohne Ende, ohne Sieger).
Während sich die internationalen Truppen aus den meisten Gefechten heraushalten, ist eine zunehmende "Afghanisierung" des Krieges zu beobachten, sprich, Afghanen töten Afghanen.
Emran Feroz
Da Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sich in den letzten Monaten häufiger für mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr starkmachte, kommt es auf eine genaue und kritische Bilanz des deutschen Einsatzes in Afghanistan an.
Umso mehr als sich zeigt, dass auch der Einsatz für Minusma sehr viel komplizierter ist und mit größeren politischen Problemen zu tun hat, als der größeren Öffentlichkeit hierzulande deutlich gemacht wird (Verwundete in Mali: Informations- und Wahrnehmungsblockade).