Die neue Geopolitik

Seite 3: Auf der Schwelle zu einer multipolaren Ordnung

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Soweit zu den regionalen Auswirkungen. Doch auch global könnte sich mittelfristig ein ganz neues Bild ergeben. In den letzten 15 Jahren war auf der Welt eine sich zuspitzende neue Blockkonfrontation zu beobachten, die sich grob auf die Formel "NATO und Verbündete vs. SCO und Verbündete" bringen ließ. An den Nähten kam es dabei immer wieder zu Auseinandersetzungen, "Revolutionen", und (Bürger-)Kriegen. Diese drohten zunehmend, mehr als nur Scharmützel zwischen Stellvertretern zu sein, insbesondere in der Ukraine und in Syrien/Irak. Eine weitere Verschärfung dieses Antagonismus' hätte früher oder später unweigerlich die Großmächte in direkten militärischen Konflikt zueinander gebracht - aufgrund der damit verbundenen klassischen Eigendynamiken mit unkalkulierbaren Folgen.

Das ist nicht passiert, und es ist nicht mehr davon auszugehen, dass es noch kommen wird. Der "Atomstreit" mit dem Iran war das Symbol eines gordischen Knotens an Verwicklungen, und seine Auflösung signalisiert eine weitreichende Lockerung der zuvor erstarrenden globalen Bipolarität. Zumal gleichzeitig die ukrainische Regierung, ganz offensichtlich aufgrund westlichen Drucks, damit begonnen hat, schnell und konsequent das Minsker Abkommen umzusetzen: Das Land wird wie gefordert dezentralisiert, Waffen werden von der Front abgezogen und die unberechenbaren rechten Milizen werden auf Anordnung des Präsidenten entwaffnet.

Für die Ukraine erleichtert das eine konstruktive Lösung des inneren Konflikts, für Russland bedeutet es hingegen eine Entspannung seines Verhältnisses zu Europa und das Ende der unmittelbaren Kriegsgefahr an seiner südlichen Grenze. Der Preis, den Russland dafür (an Deutschland oder die USA?) bezahlt, scheint die Nichtunterstützung Griechenlands in seinem Kampf mit den Eurozonen"partnern" zu sein. Außerdem dürfte dieser Tausch Moskau bewogen haben, seinen Einfluss auf den Iran geltend zu machen und auch selbst für das nun geschlossene Abkommen zu garantieren, was schon in der Vergangenheit für Teheran ein gewichtiges Argument war.

Sicherlich bestehen die beiden großen Blöcke bis auf Weiteres fort, aber der Antagonismus zwischen ihnen hat sich deutlich abgeschwächt, da nun auch Allianzen von Staaten(-gruppen) über die Blockgrenzen hinweg denkbar geworden sind. Mittelfristig wird dieser duale, ja manichäische Gegensatz damit an Bedeutung verlieren, auch wenn er formal sicher noch eine Weile bestehen bleiben dürfte. Längerfristig ist es denkbar, dass die Blöcke einem System relativ eigenständiger Mächte Platz machen werden, die sich in einem gewissen Gleichgewicht befinden und situationsbedingt mehr oder minder dauerhafte Allianzen eingehen - mithin einer tatsächlich multipolaren Ordnung.

Wenn das geschieht, und trotz aller Anzeichen gibt es selbstverständlich die Wahrscheinlichkeit unvorhergesehener Ereignisse, die dies verhindern, dann dürfte das Atomabkommen der "P5+1" mit dem Iran als Geburtsstunde dieser neuen Weltordnung in die Geschichte eingehen. Es würde damit zum wesentlichen Bestandteil eines "Vertrags von Tordesillas" des 21. Jahrhunderts.

Die noch bestehende große Herausforderung auf dem Weg dorthin ist eine kooperative Lösung der Rivalitäten in Ostasien, insbesondere des Territorialstreits im Südchinesischen Meer. Da jedoch der westliche Druck auf Russland stark nachlässt, wird dieses China nicht mehr bedingungslos unterstützen (müssen) und somit auch hier eine vermittelnde Position einnehmen können, was Beijing zu Zugeständnissen bewegen dürfte - vorausgesetzt, die USA halten sich halbwegs zurück, anstatt auch hier wieder den Konflikt zu suchen.

Sie täten gut daran: Denn bei alldem sollte nicht vergessen werden, dass das aktuelle Weltwirtschafts- und Weltwährungssystem einer heraufziehenden multipolaren Ordnung kaum angemessen wäre und dringend überarbeitet werden müsste, und hierbei ist Washington nicht zuletzt auf (wohlwollende) chinesische Kooperation angewiesen, wenn die USA ihre Rolle als globales Finanzzentrum nicht völlig verlieren sollen. Diese komplexe Problematik soll hier nicht genauer ausgeführt werden, aber unter der Annahme, dass ein Wirtschaftssystem lediglich bestehende Machtverhältnisse in eine bestimmte ökonomische Form überführt, würde sich bei einer so deutlichen Veränderung des globalen politischen Systems zwingend auch ein anderes ökonomisches und Finanzsystem herausbilden - was sicher genauso wenig ohne Konflikte vonstatten ginge.