Die paradoxen Lehren der Ukraine-Kämpfe für die Kriegsführung der Zukunft

Ukrainische Artillerieeinheit bei Haubitze des Typs FH70 im Juni 2023, die u.a. von Deutschland entwickelt wurden. Die Reichweite beträgt bis zu 25 Kilometer. Bild: АрміяInform

Der Ukraine-Krieg enthält eine Warnung an die Nato. Moderne Waffen und Technologien sind wichtig, aber Kriege werden an anderer Stelle gewonnen. Über die blinden Flecken der Militärstrategen.

Die bisherigen militärischen Lehren aus dem Krieg in der Ukraine besitzen einen paradoxen Charakter. Sie haben gleichzeitig die überragende Bedeutung sowohl der modernsten als auch der archaischsten Elemente der Kriegsführung bestätigt.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft.

Diese Lehren sollten auch eine Warnung für die Nato sein. Denn ein Land, das in einem Bereich überragend gut ist, kann in einem anderen ohne jegliche Aussichten auf Erfolg kämpfen.

Einerseits haben die Ukrainer mithilfe modernster Militärtechnologie, die hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) vom Westen geliefert wurde, einer anfangs sehr viel größeren Zahl russischer Panzer und Flugzeuge widerstanden. Ein wichtiger Faktor waren die von den Vereinigten Staaten bereitgestellten Satelliten- und Kommunikationsdaten.

Immer wieder wurden russische Truppenkonzentrationen und russische Hauptquartiere ausfindig gemacht, sodass die Ukrainer sie gezielt angreifen konnten. Dies ist unter anderem die Ursache für die erstaunlich hohe Zahl der in den ersten Kriegsmonaten getöteten hochrangigen russischen Offiziere. Auch Überwachungsdrohnen haben zu den ukrainischen Erfolgen beigetragen.

Ferner wurden hochmoderne unbemannte Killerdrohnen in großer Zahl eingesetzt, die sich selbst gegen modernste, schwer geschützte Panzer als äußerst effektiv erwiesen haben. Beide Seiten haben Drohnen eingesetzt, um feindliche Soldaten mit Granaten zu beschießen.

Doch all das wäre natürlich nicht möglich gewesen ohne Napoleons alte "Königin des Schlachtfelds", die Artillerie – nicht nur hochmoderne Systeme wie das vom Westen zur Verfügung gestellte M142 Himars (High Mobility Artillery Rocket System), sondern auch Geschütze aus der Zeit des Kalten Krieges, deren grundlegende Konstruktion sich seit 1918 kaum verändert hat und die von beiden Seiten in großem Umfang eingesetzt wurden.

Zu Beginn des Krieges, insbesondere in dem Gebiet nördlich von Kiew, das ich im März besucht habe, spielte auch das einfache Instrument der modernen Kommunikation, das Mobiltelefon, eine äußerst wichtige Rolle. Ukrainische Zivilisten auf der russischen Seite der Kampflinien riefen direkt die ukrainische Artillerie an, um sie über den genauen Standort der russischen Truppen zu informieren.

Es erforderte jedoch Patriotismus und Mut, denn die russischen Truppen reagierten mit Erschießung von jenen, die sie verdächtigten, sie auf diese Weise auszuspionieren.

In dieser Hinsicht ist der Krieg in der Ukraine eine Art verspätete Rechtfertigung der "Revolution in Military Affairs" (RMA, "Revolution des Militärs") der 1980er-Jahre, als die Fortschritte in der US-amerikanischen Satelliten-, Informations-, Automatisierungs- und Kommunikationstechnologie – zusammengefasst in einem sogenannten "System der Systeme" – es den US-Kommandeuren (und dem militärisch-industriellen Komplex) ermöglichten, sich damit zu brüsten, dass der "Kriegsnebel" abgeschafft worden sei und "alles auf dem Schlachtfeld identifiziert und alles, was identifiziert wird, zerstört werden kann".

Die RMA wurde auch als "netzwerkzentrierte Kriegsführung" bezeichnet, und wenn die Notwendigkeit einer engen Koordinierung zwischen Nachrichtendiensten, Bodentruppen und Luftstreitkräften schon seit 1940 offenkundig war, so wurde sie durch das (zumindest anfänglich) katastrophale russische Versagen in dieser Hinsicht sicherlich noch einmal unterstrichen.

Die Bedeutung der RMA wurde erst mit dem Krieg in der Ukraine in vollem Umfang gewürdigt, da es sich um den ersten großen Krieg der jüngeren Zeit handelt, in dem etwa gleichstarke moderne Gegner gegeneinander antreten. Die Siege der USA gegen den Irak in den Jahren 1991 und 2003, die damals von einigen amerikanischen Kommentatoren hochgejubelt wurden, sind wenig aussagekräftig.

Die irakische Armee in offener Feldschlacht in Wüsten und Halbwüsten zu besiegen, wäre für jede Armee mit einer überwältigenden Überlegenheit an Panzern und Flugzeugen ein Leichtes gewesen.

Die Bedeutung der RMA wurde auch durch die späteren Misserfolge der USA im Irak und in Afghanistan gegen lokale Aufständische, die mit einfachen Waffen ausgestattet waren, eingetrübt: durch Kalaschnikows und improvisierte Sprengsätze (IEDs).

Die Begeisterung des US-Militärs und der militärisch-zivilen Führung für die RMA ist nicht allein auf militärische Einschätzungen zurückzuführen. Sie entspricht auch in hohem Maße dem leidenschaftlichen Wunsch moderner demokratischer Staaten nach Militärtechnologien, mit denen gesiegt werden kann, ohne dass viele ihrer eigenen Soldaten geopfert werden müssen, was zu Protesten in der Bevölkerung führen würde.

Diese Idealvorstellung geht auf das 19. Jahrhundert zurück, als moderne Waffen es den westlichen imperialen Armeen ermöglichten, eine weitaus größere Zahl von Feinden mit sehr geringen Kosten zu besiegen.

Unter diesem Gesichtspunkt ist der Krieg in der Ukraine jedoch eine Lehre, die den westlichen Hoffnungen auf die RMA direkt widerspricht. Denn er hat auch gezeigt, wie wichtig – nach dem Vorbild von Stalingrad, Verdun und Austerlitz – nach wie vor der Zugang zu einer großen Zahl gut ausgebildeter Infanteristen ist, die in modernen Gesellschaften nur durch Wehrpflicht generiert werden können. Erst die Ukraine und dann Russland haben auf die Masseneinberufung zurückgegriffen und diese mit zunehmenden Verlusten immer weiter ausgedehnt.