Die prekäre Rolle der Technik.

Technikzentrierte versus 'anthropologische' Mediengeschichtsschreibung.

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Daß Henne/Ei-Fragen keineswegs trivial sind, merkt man immer dann, wenn es dennoch Streit über sie gibt. Und oft ist man schon einen erheblichen Schritt weiter, wenn man ein Problem als ein zirkuläres überhaupt erkennt. Hennen bedingen Eier, bedingen Hennen, bedingen Eier. Oder ist es so, daß sich Henne- und Ei-Perspektiven dennoch unterscheiden? Anhand gegensätzlicher Ansätze der Medientheorie versucht Hartmut Winkler deren vermeintliche Unvereinbarkeit zu überwinden.

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Es gibt also Streit. Unmißverständlich hat man mich darauf hingewiesen: "Medien bestimmen unsere Lage. Mit dieser lapidar formulierten, seine Forschungsergebnisse focusartig verdichtenden Aussage begann vor zehn Jahren das zunächst von der Zunft wenig beachtete Buch 'Grammophon Film Typewriter' [...] des Berliner Literaturwissenschaftlers Friedrich Kittler. Sie präzisierte das vom ihm zuvor nur plakativ betriebene Programm der 'Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften' von 1980." Und weiter: "Medientechnologien, die Muster der Wahrnehmung und Erfahrung vorgeben, nicht Reflexion und Selbstbewußtsein, legen nämlich die Normen und Standards fest, die einer existierenden Kultur die Auswahl, Speicherung und Übertragung relevanter Daten erlauben. Erst sie verwandeln Menschen in Subjekte. Nach diesen materiellen, technischen und historischen Ermöglichungsbedingungen gesellschaftlicher Kommunikationen zu fragen, bedeutet, jene medientechnischen Blindheiten zu entziffern, die Wissen und Macht jahrtausendelang kennzeichnete, den Blindflug des Geistes ermöglichte und die Humanwissenschaften seit den Tagen ihrer Erfindung um 1750 sprechen machen."

Medien also bestimmen unsere Lage, - "die", wie Kittler selbst dankenswerterweise ergänzt, "(trotzdem oder deshalb) eine Beschreibung verdient". "Medien", schreibt Kittler an anderer Stelle , "definieren, was wirklich ist". Und andere Autoren haben das Projekt aufgegriffen und radikalisiert: So glaubt Bolz in der Mediengeschichte das "physiologische Apriori des Denkens" aufgefunden, eine Formulierung, die wie eine Art Feldzeichen über der gesamten Debatte steht: "Die Frage nach dem physiologischen Apriori eines Denkens ist keine hermeneutische, sondern - man ist versucht zu sagen: im Gegenteil, eine medientechnologische."

Umstandslos direkt gilt die Suche der "Dimension des Signifikanten" (Bolz); und Nietzsche wird aufgerufen, um von der abgründigen Kategorie des Sinns endlich zu den "Tatsachen des Leibes" überzugehen. Belegstellen für ähnliche Äußerungen sind Legion.

Es wird als eine kopernikanische Wende angesehen - und als die Initialzündung der Medienwissenschaft selbst - den Blick umorientiert zu haben von der Ebene der Inhalte und der künstlerischen Formen auf jene Techniken, die eben keineswegs nur 'Werkzeug' oder 'Voraussetzung' kommunikativer Prozesse sind. Und ich stimme dem ausdrücklich zu: es war tatsächlich eine kopernikanische Wende; die zudem im Kernbereich der Geisteswissenschaften noch immer nicht mitvollzogen worden ist, trotz der Tatsache, daß es inzwischen kaum einen Philologen gibt, der nicht bei Gelegenheit auch über die 'Neuen Medien' schriebe.

Die Humanwissenschaften sind für die technische Seite ihres Gegenstandes nach wie vor weitgehend blind; es ist noch immer möglich, ein Germanistikstudium zu absolvieren, ohne von der Geschichte der Schrift und der Drucktechniken das Geringste gehört zu haben, versprengte Seminare über die 'Literatur im Netz' müssen die Lücke füllen und selbst die Film- und Fernsehwissenschaften haben einige Schwierigkeiten, die Technik in ihre Curricula tatsächlich einzubeziehen.

Die Technik selbst in den Blick zu nehmen, also war ein wichtiger Schritt. Und dennoch: ich behaupte, das Paradigma hat sich in seiner Substanz verändert. Seit 1985 sind mehr als zehn Jahre vergangen, und was einmal ein berechtigter, kritischer Einwand war, ist zu einer positiven Gewißheit verkommen. Der Verweis auf die Technik ist schlecht geworden, im durchaus lebensmittelrechtlichen Sinn. Und er bedarf, wenn nicht der Revision, so doch einer theoretischen Besinnung, die das Argument - und sei es zu seinem eigenen Besten -wieder verflüssigt.

Technikzentrierte versus anthropologische Ansätze

Es geht also darum, von welchem Ort und mit welcher Ausgangsintuition man Mediengeschichte schreibt. Parallel zu den genannten 'technikzentrierten' Ansätzen hat es immer auch andere, alternative Modelle gegeben, die eher die Medienpraxen, gesellschaftliche, soziale oder massenpsychologisch/psychologische Strukturen in den Mittelpunkt gestellt haben. In einer ersten Polarisierung möchte ich also die 'technik-zentrierten' Ansätze von den 'anthropologischen' unterscheiden, wohl wissend, daß es sich bei diesen Etikettierungen bereits um Zuschreibungen, und zwar jeweils der Gegenseite, handelt.

'Anthropologisch' werden die Alternativansätze genannt, weil sie 'am Menschen' als Subjekt auch der Mediengeschichte festhalten, und, sei es naiv oder kritisch, nicht in der Medientechnik selbst, sondern in den menschlichen Praxen den Motor der Entwicklung sehen. 'Anthropologisch' in diesem Sinne wären nahezu alle Medientheorien bis zum historischen Bruch bei McLuhan, der neben Benjamin als Hauptzeuge der theoretischen Wende in Anspruch genommen wird; 'anthropologisch' wären die Mediensoziologie, Medienpsychologie und - pädagogik, aber auch und vor allem die Tradition der Ideologiekritik, von der sich die gegenwärtigen Autoren in scharfer Form distanzieren; und ebenso Texte, die moralische Kategorien in Anschlag bringen, wie der späte Virilio, der den Weg des frühen, technikzentrierten Virilio verläßt. Und 'anthropologisch' wären auch jene elaborierteren Modelle , die von mentalitätsgeschichtlichen oder wunschtheoretischen Prämissen ausgehen. All diesen Ansätzen ist gemeinsam, daß sie ein medientechnisches 'Apriori' kultureller Prozesse vehement bestreiten würden.

Verschränkung der Ansätze

Meine erste These - und mein erster Vorschlag zur Moderation - ist eben, daß es sich um eine Henne/Ei-Frage handelt, um zwei theoretische Perspektiven, die jeweils unterschiedliche Gegenstände in den Blick nehmen und einen unterschiedlichen Geltungsbereich haben. Und zum Zweiten und weitergehend, daß beide zyklisch und deshalb letzlich unentscheidbar miteinander verbunden sind, und nur in wechselseitiger Ergänzung überhaupt Sinn machen. Es erscheint mir deshalb notwendig, ein Modell zu skizzieren, das beide Denkweisen einigermaßen zuverlässig aufeinander bezieht.

Unterschiedlich ist zunächst die Richtung, in der die medienhistorische Recherche geht. Die technikzentrierten Ansätze - die ich 'Henne'-Positionen nennen möchte - gehen von einer immer schon konstituierten Technik aus und fragen - 'Medien bestimmen unsere Lage' - nach den Wirkungen dieser Technik auf die Praxen, den sozialen Prozeß und die sozialen Vollzüge. Sie haben Ihre Stärke darin, die Härte der Technik ernstzunehmen, die relative Blindheit der Technikentwicklung, ihren präskriptiven Charakter, insofern Technik über Zukunft immer schon verfügt hat und, wie Luhmann sagt, einen offenen Horizont kontingenter Möglichkeiten limitiert. Sie rücken damit in die Nähe der Technikfolgenabschätzung, gegen die Kittler interessanterweise polemisiert. Ihre Schwäche ist, daß die Entwicklung der Technik selbst aus dem Modell weitgehend herausfällt, und entweder in Richtung einer vollständigen Autonomie stilisiert werden muß - dies in der These der Emergenz oder 'Evolution' - oder in eine relativ schlichte Erfinder-Geschichte zurückfällt.

Henne-Positionen werden als "technik-deterministisch" angegriffen, weil sie eine einseitige Kausalität von der Technik hinein in den sozialen Prozeß behaupten. Oder als Fetischisierung nach dem Marxschen Diktum, daß die fertige Ware den Prozeß ihrer Hervorbringung verdeckt.

Die anthropologischen 'Ei'-Positionen dagegen verfahren fast komplementär. Von einer existierenden Technik fragen sie zurück, was diese Technik allererst in die Welt gebracht hat. Technik wird begriffen nicht als Ausgangspunkt sondern als Resultat, und zwar notwendig außertechnischer Prozesse; die vorfindliche Struktur einer Technik wird zurückgeführt auf die Praxen, die sie hervorgebracht haben; und diese Praxen werden gerade nicht einzelnen Erfindern zugeschrieben, sondern einem größeren gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß, in dem sich ebenfalls blinde und intendierte Prozesse überlagern. 'Ei'-Theorien können die Fetischisierung vermeiden, sind aber in Gefahr, die Technik selbst soweit zu verflüssigen, daß sie verfügbar erscheint ...

Das verbindende Schema, das ich vorschlagen will, also wäre dasjenige einer zyklischen Einschreibung. Technik ist das Resultat von Praxen, die in der Technik ihren materiellen Niederschlag finden; Praxen (einige, nicht alle Praxen!) schlagen um in Technik: dies wäre die erste Phase des Zyklus. Und gleichzeitig eben gilt das Gegenteil: dieselbe Technik ist Ausgangspunkt wiederum für alle nachfolgenden Praxen, indem sie den Raum definiert, in dem diese Praxen sich ereignen. Dies ist die zweite Phase des Zyklus. Einschreibung der Praxen in die Technik und Zurückschreiben der Technik in die Praxen.

Abgelauscht wäre diese Vorstellung dem Modell der Sprache: Die Sprachtheorie sagt uns, daß das Sprechen sich in der Sprache niederschlägt, so daß das sprachliche System als ein verdichtetes Protokoll aller vorangegangenen Sprechakte betrachtet werden muß. Und umgekehrt eben determiniert das System der Sprache alles spätere Sprechen: Diskurs (Ereignis, Sprechen) schlägt in Sprache um, die Sprache wiederum in Sprechen. Diachronie und Synchronie, Diskurs und Struktur sind auf systematische Weise miteinander verbunden.

Auf dem Hintergrund dieser Vorstellung nun sind die genannten Theorien einigermaßen präzise zu lokalisieren: Focus der 'anthropologischen' Positionen wäre die erste Phase, der Umschlag von Diskurs in Struktur; Focus der technikzentrierten 'Henne'-Positionen dagegen die zweite Phase, das Wiederumschlagen von Struktur in Diskurs. Zyklisch, wie gesagt, miteinander verbunden, wären beides Vereinseitigungen, Verengungen der theoretischen Perspektive; und vielleicht notwendige Verengungen, wenn die Reduktion von Komplexität die notwendige Voraussetzung und Leistung der theoretischen Arbeit ist. Lösen das Problem und der Widerspruch sich also vollständig auf?

Auffällig ist zunächst, daß scheinbar eindeutig lokalisierte Protagonisten sich plötzlich, zumindest mit einzelnen ihrer Projekte, auf der anderen, der unvermuteten Seite wiederfinden; Kittler , Exponent und Hauptzeuge aller Henne-Positionen, etwa argumentiert - näher betrachtet - über weite Strecken seiner Texte im Rahmen von 'Ei'-Schemata; dann zum Beispiel, wenn er in Software-Strukturen die Bürokratien wiedererkennt, die dieser Software ihre Form gegeben haben, oder Chiparchitekturen zurückführt auf die Entscheidungsprozesse, die in ihnen untergegangen sind. Ebenso finden sich in fast beliebiger Menge 'Henne'-Einsprengsel in Texten, die als Grundprojekt einer Ei-Linie folgen würden. Beides ist Anzeichen, daß die Autoren die angesprochene Dialektik durchaus sehen und die Fronten auf der Ebene der Einzelaussagen vielleicht weniger verhärtet sind, als es scheint.

Zum Zweiten aber bleibt es selbstverständlich bei der Differenz beider Thesen; behauptet ist schließlich nicht mehr und nicht weniger als eine unterschiedliche Kausalität: Wer bei der Auskunft 'Medien bestimmen unsere Lage' endlich Ruhe gefunden hat, wird sich kaum damit anfreunden, daß das, was er 'Lage' nennt, auch die zukünftigen Praxen bestimmt, und damit die zukünftige Medientechnik. Der Zyklus selbst erscheint als eine Rückkehr der Bedrohung, die in der Entscheidung für eine Seite gebannt werden sollte.

Materialistische Verführungen des technikzentrierten Ansatzes

Hinter dem Gegensatz beider Positionen, davon bin ich überzeugt, stehen nicht allein Differenzen der inhaltlichen Einschätzung oder der politisch/theoretischen Orientierung. Darüber hinaus, und dem, denke ich, lohnt es nachzugehen, stellt sich die Frage nach Henne und Ei u. a. als ein Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst.

Henne-Positionen haben den unbestreitbaren Vorteil, daß ihr Ausgangspunkt, die Technik, immer schon Gegenstandscharakter hat; er ist reifiziert, Teil der materiellen Welt, und damit einer unmittelbaren Beobachtung zugänglich. Theorien, die sich mit Mentalitäten einlassen, mit Strukturen des Sozialen oder gar der Psychologie, haben diesen Vorteil nicht. Ihr 'Gegenstand' ist entweder dispers oder allenfalls einer indirekt-symptomatischen Beobachtung zugänglich. Das Sammeln der Fakten selbst wird zum Methodenproblem und das zu Erkennende scheint vom erkennenden Zugriff immer schon kontaminiert. Die Differenz zwischen den harten Natur- und den weichen Humanwissenschaften scheint sich hier ein weiteres Mal, nun auf dem Terrain der Humanwissenschaften selbst, zu reproduzieren. Und vielleicht ist dies der Grund, daß viele Henne-Theoretiker, ihrer philologischen Herkunft zum Trotz, einen meist wenig glücklichen Flirt mit den Naturwissenschaften unterhalten. Daß die Technik eine materielle Niederlegung ist, nicht flüssige Praxis, sondern eben Ding, scheint sich darin zu bewähren, daß sie - wie die zu sezierende Leiche - zumindest stillhält.

Knut Hickethier allerdings hat darauf hingewiesen, daß auch dieser Eindruck sich einer Stilisierung verdankt. So ist Bedingung, daß das Augenmerk eingegrenzt wird auf das einzelne Gerät - 'der Fernseher', 'der Computer', 'die Kamera': jeweils im Singular und isoliert gegen seine vielfältigen Interdependenzen -, für eine Struktur eintreten muß, die insgesamt betrachtet unendlich viel komplexer wäre, und fast ähnlich dispers und der Beobachtung feindlich wie die Gegenstände der Humanwissenschaften, mit denen sie am Rande notwendig verschmilzt. 'Das Fernsehen' z.B. muß freigestellt werden gegen seine Institutionenstruktur, ohne die der Schirm zweifellos dunkel bliebe, und gegen das Programm, das als schlichter 'content' einen Henne-Wissenschaftler gerade nicht interessiert.

Tückisch ist, daß die Technik selbst diesen Weg vorvollzieht, in dem sie einzelne Geräte in einzelnen Deckelhauben verschließt, und in der Modularisierung und Typisierung, die es nahelegt, den einzelnen Fernseher prototypisch für alle Fernseher einstehen zu lassen. Und es ergibt sich - kurios - eine Entsprechung zu den Philologien, die im 'close reading' (zumindest in der naiven Variante einer Hochschätzung des 'Wortlauts') ja ebenfalls glaubten, am einzelnen Text ihr Genügen zu finden und seinen Dingcharakter, seine Textgrenzen als Bollwerk gegen das Schwirren des Umraums in Anspruch nehmen zu können. Hier wie dort geht die Rechnung nicht auf, und die intelligenteren Techniktheorien haben darauf aufmerksam gemacht, daß es selbst innerhalb der Technik thematisierte und nicht-thematisierte Techniken gibt, und damit ein, wie Comolli sagt, technisch-Unbewußtes. Dies bedeutet, daß der 'materialistische' Vorteil der Hennepositionen sich in dem Maße verflüchtigt, wie die strategischen Grenzziehungen als solche erkannt und die Technik in ihrem tatsächlich-möglichen Volumen wahrgenommen wird.

Die Ei-Positionen wissen zumindest, daß sie ein Problem haben und ohne externes Wissen, Grundannahmen, und ohne jene Modellierungen des Sozialen und des Psychischen, die die Tradition der Kulturwissenschaften ihnen liefert, nicht auskommen. Insofern ist der Unterschied vielleicht ein hermeneutischer: Beide Theorien gehen von der Technik aus. Indem sie unterschiedliche Richtungen einschlagen, und entweder eben Ursachen oder Folgen in den Blick nehmen, handeln sie sich unterschiedliche Probleme ein.

Fortsetzung der Ideologiekritik mit anderen Mitteln

Geht man noch einen weiteren Schritt zurück, stellt man fest, daß hinter der Frage des Gegenstandes und seiner Beobachtbarkeit die allgemeinere steht, die in der Philosophiegeschichte als die Konfrontation von 'Idealismus' und 'Materialismus' ausgetragen worden ist. Die gegenwärtig dominierenden Medientheorien - wie gesagt durchweg 'Henne'-orientiert - beziehen einen Großteil ihrer Suggestion aus der Tatsache, daß sie an materialistische Traditionen anknüpfen, oder zumindest an das, was an diesen Traditionen so einzigartig evident erscheint.

Unter der Oberfläche beerben sie damit die Ideologiekritik, der ansonsten die frontale Ablehnung gilt. Und zweifelsohne hat der Inhalt der 'materialistischen' Intuitionen sich verschoben. Nicht mehr die Gesellschaft und ihre materialen Vollzüge stehen im Mittelpunkt des Interesses, sondern nun die Technik. In der marxistisch/materialistischen Tradition stellte sie als Teil der Produktionsmittel zwar die 'Basis' von Gesellschaft und Kultur, dies aber eng verknüpft mit der Ökonomie und der lebendigen Arbeit, die die gegenwärtigen Theorien ebenfalls weitgehend ausschließen.

Es ist also ein äußerst reduzierter 'Materialismus', der die meisten Henne-Positionen kennzeichnet. Verblüffend direkt aber kehrt zurück, was eine Art Zentrum jeder trivial-marxistischen Vorstellung wäre, und was als trivial und als in jeder Weise unzureichend zur Beschreibung kultureller Phänomene vielfach kritisiert worden ist: Die heutigen Henne-Positionen wiederholen jenes Verhältnis von 'Basis' und 'Überbau', in dem die Basis den Überbau 'determiniert'.

Die Abstandnahme von dieser schlichten Kausalität war, neben dem Vorwurf des 'Fetischismus', der Kern einer neomarxistischen Neuorientierung, wie sie in den Apparatustheorien formuliert wurde. "Intelligent idealism is more intelligent than stupid materialism", polemisierte Comolli , um seine Herleitung des Mediums Kino aus so immateriellen Dingen wie Wünschen und Mentalitäten zu rechtfertigen. Daß die Apparatus-Theorien, ihrem marxistisch/materialistischem Anspruch zum Trotz, unter die 'Ei'-Theorien gerechnet werden müssen, hat hier seinen Grund. Der Materialismus selbst sah sich gezwungen, auch solche Fakten einzubeziehen, die einer direkten Beobachtung keineswegs zugänglich waren. Der Widerspruch aus den eigenen Reihen ließ nicht lange auf sich warten; zu einem geringeren Preis aber war eine anspruchsvolle Techniktheorie nicht zu haben, und trotz einer veränderten Landschaft und gut 20 Jahren Abstand sollten gegenwärtige Medientheorien solche Erfahrungen einbeziehen.

Stellung des Menschen

Theoretische Perspektiven, wie gesagt, dienen der Reduzierung von Komplexität. Gleichzeitig aber beinhalten sie Wertsetzungen. Im Falle der Henne-Ei-Frage scheint mir die zentrale Wertentscheidung sein, welche Stellung 'dem Menschen' im Modell zugewiesen werden soll. Henne-Positionen verbinden ihre Technikfaszination häufig mit einer Dezentrierung 'des' Menschen, die von einem fröhlichen, ästhetisch motivierten Anti-Humanimus bis hin zu aggressiven Flucht-Phantasien à la Moravec reicht, die sich weniger gegen die Menschen als gegen das Organische insgesamt wenden. Die poststrukturalistische Erkenntnis, daß der Mensch keineswegs das Subjekt seiner Geschichte ist, daß die Subjektposition immer nur eine angemaßte sein kann, limitiert durch das Unbewußte und das Unbewußte der Sprache, wird verlängert in den Versuch, sich gleich auf die Seite dieses Unbewußten zu schlagen, um zumindest mit der eigenen Theorie, wenn schon nicht als human being, auf der Seite der siegenden Maschinen zu sein.

Die 'anthropologischen' Postionen müssen demgegenüber tatsächlich blaß aussehen. In der Tat gehört so etwas wie Trotz dazu, an einem naiven Humanismus festzuhalten, wie er Basis zumindest eines Teils der anthropologischen Medienmodelle ist. Wer die Technik nach wie vor als 'Mittel' definierter Zwecke betrachtet, muß der Kritik schlicht anheimfallen; Moral oder Sympathie für 'den' Menschen wird weder einen Kommunikationsbegriff fundieren können, der auf dem Stand der Dinge ist, noch jener Kälte gerecht werden, die der Schrift und den Maschinen keineswegs nur von ihren Gegnern zugeschrieben wird. Am Medium Film allein die handelnden Menschen zu sehen, nicht aber die Kälte der technischen Reproduktion, die in der mechanischen Wiederholung unabweisbar hervortritt, unterbietet das Medium, das in der Spannung beider Momente seine Pointe hat.

Es gibt gegenwärtig, denke ich, kein Modell, das die Kritik souverän durchschritten hätte und zwischen beiden Abgründen sich halten könnte. Wenn gleichzeitig wahr ist, daß beide Positionen nur in wechselseitiger Ergänzung überhaupt Sinn machen - spricht dies nicht dafür, auf die Ebene der Einzelargumente überzugehen und, ganz in der Tradition des close reading, den Frontverlauf im Großen bewußt zu vernachlässigen?

Wenn Kittler am Ende eines 15-Seiten-Plädoyers für die Hardware schreibt: "Navigare necesse est, viviere non. Laut Aristoteles 'ist es nämlich unsinnig, wenn einer behauptet, die politische Wissenschaft sei die höchste Wissenschaft. Denn der Mensch ist nicht das Beste, was es im Kosmos gibt'", so ist dies nur sehr scheinbar mit einem Moravec kompatibel. Sehr im Gegenteil kann man dies auch als eine ökologisch-ethische Stellungnahme lesen; als eine Art negative Theologie, die gegen den Menschen argumentiert, um, was es im Kosmos außer ihm gibt, vor seiner Selbstüberschätzung zu retten.

Feier der Technik - Entlastung des Menschen?

Der Vorschlag, die gängigen Modelle der Mediengeschichtsschreibung zunächst nach 'Henne-' und 'Ei'-Positionen zu polarisieren, um sich dann durch die verdeckten Interdependenzen, Überschneidungen und Verwandtschaften irritieren zu lassen, führt deshalb zu einem Plädoyer, die fraglichen Texte noch einmal zu lesen, und zwar gegen ihren Strich und gegen die Deutung, die sie selbst auf ihrer Oberfläche nahelegen.

Die futuristische Begeisterung des frühen Virilio schien ebenso eindeutig wie ansteckend zu sein. Durch die Erfahrung der späteren Texte hindurch gelesen, tritt unter ihrer Oberfläche bereits der Gestus des moralisierend/kulturkritischen Warners hervor. Und dieselbe Erfahrung, so denke ich, kann man bei vielen der Henne-Projekte machen. Die fröhliche Affirmation eines Bolz erscheint so exaltiert, so übertrieben, daß sie den Blick auf ihr Gegenteil, den kulturkritischen Subtext förmlich erzwingt. Eine 'Entlastung' der Subjekte durch die Medientechnik etwa müßte nicht feiern, wer die Last, die Belastung dieser Subjekte nicht allzu gut kennt und für korrekturbedürftig hielte.

Die Psychoanalyse hat uns gelehrt, dem emotiven Vorzeichen einer Erfahrung nicht allzu viel Bedeutung zuzumessen. Eine übertriebene Technikaffirmation, eine Feier der Technik, wie sie uns in vielen Texten gegenübertritt, könnte durchaus auf ihr Gegenteil verweisen; eine Art Identifikation mit dem Aggressor, der als Aggressor gerade darin aber wahrgenommen und thematisiert wird; und dies möglicherweise präziser, als in allen wohlmeinenden Statements, die 'den Menschen' vor 'der Technik' in Schutz nehmen wollen.

Es geht mir durchaus nicht darum, die schlichte Polarität 'Mensch versus Technik' noch einmal einzuführen, die vor allem Tholen mit Blick auf die Sprache sehr wirkungsvoll demontiert hat. Ohne Zweifel aber wird man auch die aggressive Seite der Technik wahrnehmen müssen, die alle menschlichen Zwecke rigoros überschreitet und die der Ansatzpunkt aller Technikkritik ist. Und diese aggressive Seite scheint mir in Kittlers Kriegsfaszination, vom Vorzeichen abgesehen, sehr deutlich zur Sprache zu kommen.

Ich selbst habe radikale Henne-Positionen lange allein als eine Verdrängung, ein Ausweichen vor den Anforderungen des Sozialen gelesen. Mein Alternativvorschlag nun ist, sich für den kulturkritischen Subtext in diesen Texten zu interessieren. All dies allerdings geht zum Ganzen auf die Kosten meines eigenen, hier skizzierten Modells. Denn wofür die saubere analytische Trennung zwischen Hennen und Eiern, wenn gegen Schluß beide bis zur Unkenntlichkeit ineinander verschwimmen?

Vortrag auf der Jahrestagung der GFF im Oktober '97 in Mainz