Die raue Stimme Russlands
Der russische Barde Vladimir Vysotzkij starb vor 25 Jahren und ist immer noch ebenso populär wie aktuell
Es gibt Künstler, die für ganze Epochen stehen. Die "68er-Bewegung" in Westeuropa und in den USA ist undenkbar ohne die Beatles oder Bob Dylan. Diese Musiker richteten sich allerdings an ein Publikum, das sich durch die Kombination jung, gebildet und – irgendwie - gesellschaftskritisch auszeichnete.
Anfang der 60er Jahre entstand in der damaligen Sowjetunion eine Musikkultur, die sich von der offiziellen Fokussierung auf die Klassiker, vertonten Agitprop und seichtes "Estraden"-Geträller abhob. Schnell prägte sich der Begriff "Gitarrenlyrik" – es handelte sich eher um musikalisch unterlegte Gedichte als um eigentliche Lieder.
Zum Selbstmord lasse ich mich nicht verleiten,
Vom Tod zu singen bin ich auch nicht scharf...
Was die Popularität bei den Russen und die Nachhaltigkeit seiner Werke angeht, ist Vladimir Vysotzkij sicherlich der bedeutendste Gitarrenlyriker. Die Superlative seiner Anhänger kennen keine Grenzen. So ist die Rede vom "größten Liedermacher des 20. Jahrhunderts oder vom "Puschkin unserer Zeit". Wie der geniale Poet des frühen 19. Jahrhunderts hat auch Vysotzkij literarische Wegmarken gesetzt, ähnlich schäbig wurde er von den Machthabern behandelt.
Im Dezember 2003 war ich als Wahlbeobachter in Russland unterwegs. Während der langen Tage "auf Achse", auf den Fahrten von Wahllokal zu Wahllokal, war im Autoradio immer wieder eine raue Stimme zu hören. Meinen beiden russischen Begleiter, Menschen um die 30, war diese Musik vertraut. Denn nach wie vor gehört er zum kulturellen Fundus des russischen Volkes: Vladimir Vysotzkij, geboren 1938, gestorben am 25. Juli 1980. Gestorben an gebrochenem Herzen, auch an gebrochener Seele.
Schriftsteller, Liedermacher, Schauspieler
Noch eine Woche vor seinem Tod hatten die sowjetischen Kulturbürokraten es abgelehnt, ihn in den Schriftstellerverband aufzunehmen. Dadurch hätte Vysotzkij jene Publikationsmöglichkeiten gehabt, die seinem Werk zukommen. Denn zu Lebzeiten des Künstlers wurden von seinen geschätzten 700 Gedichten ganze zwei veröffentlicht. Gleichzeitig sackten drittklassige Verbandsschreiberlinge hochdotierte Lenin-Preise ein – als wollten sie das bestätigen, was Vysotzkij in seinem Land mit beißendem Sarkasmus kritisiert hat.
Bis zur Ära von Michail Gorbatschov erschien keine Langspielplatte des Barden. Seine Popularität entsprang den millionenfach kopierten Tonbandaufnahmen seiner Konzerte in Studentenclubs und privaten Wohnküchen. Die feineren sowjetischen Kulturtempel blieben ihm verschlossen.
Er war ein Liedermacher, er trat aber auch in "seinem" Moskauer Taganka-Theater mit gewagten Inszenierungen von Brecht oder Shakespeare auf. Landesweit populär machten ihn seine Rollen in Filmkomödien oder als zynischer Cop in einer TV-Krimiserie.
Vladimir Vysotzkij hat sich mit seinen Liedern, als Dichter und Schauspieler ein "Denkmal stärker als Erz" im Herzen seiner Landsleute gebaut. In einer landesweiten Umfrage vom Juli 2004 erklärten 96 Prozent der Russen zwischen 36 und 54 Jahren, den Barden und sein Werk gut zu kennen. Lediglich zwei Prozent aller Befragten wussten mit dem Namen nichts anzufangen. Vier Fünftel erklärten, die Lieder von Vysotzkij zu mögen – und zwar quer durch alle Altersklassen und Berufsgruppen. Dies macht wohl auch den Unterschied zu den westlichen Musikidolen der 60er Jahre aus.
Die Biographien über Vysotzkij füllen die Regale der großen Moskauer Buchläden. In ihren Erinnerungen streiten sich enge, nicht so enge und vielleicht überhaupt keine Freunde des Liedermachers, wer ihn besser und am besten kannte. Allmonatlich erscheinen "neue Enthüllungen" über sein Leben, immer wieder präsentieren sich Damen in der russischen Yellow Press als "die letzte große Liebe" des Vladimir Semjonovitsch.
Was ließ den Barden in der "bleiernen Zeit" ("vremja sastoja") des Leonid Breschnew so populär bei der Bevölkerung und so verhasst bei den Kulturbürokraten werden? Es war seine Wahrhaftigkeit und die Kraft, die von ihm ausging. Die Menschen im Lande spürten dies, vom Armeeoberst bis zum jüdischen Dissidenten, vom Akademiemitglied bis zum Kolchosbauern.
Kritiker, aber kein Dissident
Wenn Vysotzkij, Sohn eines Berufsoffiziers, über die Traumata und Phantomschmerzen des II. Weltkrieges sang, merkten die Veteranen: Da beschreibt einer unsere Erfahrungen mit Tod, Angst und Schmerz, jenseits des offiziellen Heldenkultes. Wenn Vysotzkij von der Liebe und von der enttäuschten Liebe sang, bedeutete dies nicht Schmalz oder Kitsch, sondern Trost. Wenn er in bitteren Attacken die Heuchelei und Scheinheiligkeit des Systems beschrieb, war dies die Erfahrung, die die Sowjetbürger von Kaliningrad bis Vladivostok tagtäglich machen mussten.
Vysotzkij kritisierte die herrschenden Verhältnisse, aber er war kein Dissident. Emigration oder ein dauerhaftes Leben jenseits der Grenzen kamen für ihn nie in Frage. Auch dann nicht, als er die französische Filmschönheit Marina Vlady heiratete und nach vielen verzweifelten Versuchen endlich ins Ausland reisen durfte. Die Ehe zwischen der zarten Tochter einer emigrierten russischen Adelsfamilie und dem wilden, im Westen nahezu unbekannten Sänger sorgte in Ost und West gleichermaßen für Aufregung: Im Westen in den Boulevardblättern, in Moskau bei den Kultur-Offiziellen.
"Anatomischer Atlas der wunden Punkte unserer Gesellschaft"
Noch sein Tod wurde zur Bestätigung der Feigheit der sowjetischen Führung und der Liebe der Bevölkerung zu ihrem Barden. Am heißesten Tag des Jahres 1980, genau in der Mitte der amputierten Olympischen Spiele in Moskau und sieben Monate nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, starb Vladimir Vysotzkij – nicht unerwartet, aber dennoch ein Schock für seine Verehrer. Zeitpunkt und Ort seiner Beerdigung wurden in der Presse nicht genannt. Gleichwohl strömten Zehntausende zum Vaganskovskoje-Friedhof – bis dahin die größte nicht-offizielle Versammlung in der UdSSR. Auch Polizeikordons konnten die Verehrer nicht stoppen. Der Schriftsteller Jurij Trifonov erklärte in seiner Grabrede: "Vysotzkijs Themen sind ein anatomischer Atlas der wunden Punkte unserer Gesellschaft."
Was Vysotzkijs Themen wären, wenn er noch leben würde, darüber kann spekuliert werden. Einige seiner Verehrer von einst sitzen heute im Kreml, der russische Präsident Vladimir Putin hat 2003 gar zum "Vysotzkij-Jahr" gekürt – pünktlich zum 65. Geburtstag. Ob sich der Barde allerdings der spezifisch russischen Form der Marktwirtschaft, Putins "gelenkter Demokratie" oder der ideologiefreien Re-Sowjetisierung Russlands viel abgewinnen würde, darf bezweifelt werden?
Noch heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des Dichters, Sängers und Schauspielers, liegen frische Blumen auf seinem Grab. Als würde das über ihn selbst zutreffen, was Vladimir Vysotzkij einst in einem Lied über die Erde gesagt hat: "Wer hat denn gesagt, dass die Erde gestorben ist? Nein, sie hält sich nur ein Weilchen verborgen..." - Russland braucht seinen großen Barden noch, auch wenn er sich ein Weilchen verborgen hat.