Die repräsentative Demokratie frisst ihre Kinder
Seite 2: Wahlen sind ein aristokratisches, Entscheidungen durch Los ein demokratisches Verfahren
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Da passt ins Bild, was der französische Politikwissenschaftlicher Bernard Manin herausgefunden hat.9 Er behauptet, Wahlen seien schon immer ein aristokratisches Verfahren der Entscheidungsfindung gewesen. Dagegen seien demokratische Entscheidungen stets durch Los getroffen worden. So galten im antiken Athen und in Rom Entscheidungen durch Los als demokratisch, Entscheidungen durch Wahl als aristokratisch.
Auch in der Gründungsphase der amerikanischen Demokratie galt die Wahl von Amtsträgern nicht als demokratisch. Die amerikanischen Gründungsväter wollten den Einfluss des gemeinen Volks auf den Staat zurückhalten, und zwar durch die Wahl von Repräsentanten selbst. James Madison, einer der wichtigsten geistigen Führer der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, postulierte, dass sich im Repräsentativsystem eine Art höherer Vernunft manifestiert. Er schrieb in den "Federalist Papers": Durch gewählte Abgeordnete "kann es geschehen, dass die Stimme des Volkes, wenn sie von seinen Vertretern erhoben wird, eher zum Wohl des Ganzen ertönt, als wenn sie aus dem Volk selber spricht, das zu diesem Zweck zusammentritt." Das Repräsentativsystem sei ein Mittel, "als Regenten Männer zu finden, die genügend Weisheit besitzen, um das gemeinsame Wohl für die Gesellschaft zu erkennen, und genügend Tugend, um es zu verfolgen".
Während die amerikanischen Anti-Föderalisten meinten, der Abgeordnete solle den durchschnittlichen Bürger auch dadurch vertreten, dass er ihm in Herkunft, Denkart und Lebensweise ähnlich ist, proklamierte Madison das Distinktionsprinzip: Der Abgeordnete kann und soll vornehmer, klüger, gebildeter, besser und reicher sein als der Rest. "Das Repräsentativsystem errichtete man in vollem Bewusstsein, dass die gewählten Vertreter angesehene Bürger sein würden und sein sollten, die sich sozial von ihren Wählern abhoben." Das Ziel ist erreicht: Heute sind fast die Hälfte aller Mitglieder des amerikanischen Kongresses Millionäre.
Das Prinzip der Wahl macht einen Mandatsträger nach Manin zu einem "rätselhaften Zwitter", in dem sich demokratische und aristokratische Elemente vermischten. Alle Macht geht vom Volke aus - doch gewählt wird eine Elite der Wenigen.
Zu verschiedenen Zeiten wurden Wahlen immer wieder als Einschränkung der Demokratie, als im Grunde aristokratisch betrachtet. Schließlich war der ursprüngliche Grundgedanke der Volksherrschaft weiter gefasst als das moderne "one man, one vote", nämlich als gleicher Zugang zu politischen Ämtern.
Das Verfahren, das bis in die Neuzeit eingesetzt wurde, um die radikale Idee der Gleichheit des Zugangs zu Ämtern zu realisieren, war das Losen. Durch seine Neutralität und geradezu "göttliche" Unparteilichkeit befriedet das Losverfahren den Entscheidungsprozess und verhindert zudem, dass das politische Feld von Lobbyismus und Expertentum vereinnahmt wurde.
In der Gründungsphase der modernen Demokratien in Frankreich, den USA und Großbritannien geriet das Losverfahren in Vergessenheit. Die bewusste Auswahl der Repräsentanten war nun wichtiger als die Gleichheit des Zugangs zu Ämtern. Die "nicht-egalitären und aristokratischen Effekte der Wahl", so Manin, beruhen auf vier Aspekten: "Die ungleiche Behandlung der Kandidaten durch die Wähler, die durch eine Wahlsituation bedingte Unterscheidung der Kandidaten, der kognitive Vorteil herausragender Kandidaten und die Kosten der Informationsverbreitung."
In dieser Zeit stellt sich heraus, dass das klassische Losverfahren nicht zu einer ausdifferenzierten Gesellschaft passt. Manin erkennt in dem historischen Paradigmenwechsel dennoch einen Widerspruch:
Zur gleichen Zeit, als die Gründerväter die Gleichheit aller Bürger deklarierten, entschied man sich auf beiden Seiten des Atlantiks ohne die geringsten Bedenken für die uneingeschränkte Herrschaft einer Auswahlmethode, die seit langem als aristokratisch galt.
Die Wahl der Wahl habe eine nachhaltige "Kluft" zwischen den Bürgern und deren Repräsentanten gerissen. Denn "tief im Inneren des Wahlverfahrens", so Manin, "liegt eine Kraft, die dem Wunsch nach Ähnlichkeit zwischen Regierenden und Regierten entgegenwirkt."10
Tatsächlich bieten alle Parlamente ein Zerrbild der Sozialstruktur ihres Landes. Und je länger sie bestehen, desto stärker verzerrt sich das Bild. Die ohnehin schon überrepräsentierten Berufe richten sich in den Parlamenten ein und verstärken von Legislaturperiode zu Legislaturperiode ihre Machtpositionen. Die Parlamente sind Vertretungen gehobener und vorwiegend politischer Berufe. Je länger ein Parlament besteht, desto besser ausgebaut sind die Machtbastionen der vorherrschenden Berufe.
Das System der freien und gleichen Wahlen unterminiert die Gleichheit der Rechte
Die Verzerrung in der Repräsentation ist das Ergebnis eines Machtkampfs, der mit friedlichen und demokratischen Mitteln ausgetragen wird. Und diesen Machtkampf haben schon vor Jahrzehnten all jene Schichten gewonnen, die im Parlament überrepräsentiert sind.
Die Frage ist: Können solche Abgeordnete dennoch die Interessen der Betroffenen vertreten? Und wenn ja, wie soll das gehen? Indem sie sich väterlich der Bedürfnisse der Armen, der Elenden und der Unterdrückten annehmen? Das kann doch niemand im Ernst behaupten.
Doch die Parlamentarier behaupten das mit dem allergrößten Nachdruck. Sie meinen, nur weil sie mal gewählt wurden, vertreten sie das ganze Volk. Aber aus welcher patriarchalisch-verbohrten Gutsherren-Mottenkiste stammen solche Vorstellungen?
Das System der repräsentativen Demokratie mit seinen Wahl- und Rekrutierungsverfahren und seinen politischen Parteien trägt von allem Anfang an den Keim zur allmählichen Aushöhlung der Demokratie in sich. Von Anfang an war zu erkennen, dass die Demokratien sich im Laufe der Zeit zu Ochlokratien entwickeln müssen, in denen bestimmte Schichten ihre Herrschaft nach und nach etablieren und verfestigen.
Die im Verlauf vieler Jahrzehnte fortschreitende Entfremdung der Repräsentanten von denen, die sie repräsentieren soll(t)en, ist kein unglücklicher Zufall. Sie ist systemimmanent. Das repräsentative System frisst seine Kinder. Die Kräfte der Selbstzerstörung gehören zum System und entfalten eine starke Eigendynamik. Sie kommen nicht von außen. Auf der Strecke bleibt das Volk. Die Repräsentanten hingegen überleben als vom Volk losgelöste "politische Kaste".
Das muss man sich einfach nüchtern vor Augen halten: Die demokratischen Wahlkämpfe führen zu Kräfteverhältnissen, die der realen Sozialstruktur der Bevölkerung immer weniger entsprechen, ja ihr zuwiderlaufen. Das System der freien und gleichen Wahlen unterminiert die Gleichheit der Rechte. Das ist ein eher schleichender Prozess, der im Verlauf vieler Jahre immer deutlichere Konturen annimmt. Deshalb besteht auch keine Hoffnung auf Besserung. Der Prozess schreitet unaufhaltsam voran, und er kennt nur eine Richtung.
Das Repräsentationsdefizit aller Parlamente verschärft sich im Verlauf der Zeit beständig. Immerhin stellte selbst ein ehemaliger Abgeordneter des Bundestags fest:
Ein Parlament wird vom Volk (…) erst dann als repräsentativ empfunden, wenn in ihm alle Schichten und Berufe der Gesellschaft vertreten sind. Der Deutsche Bundestag leidet nicht so sehr an Fleiß, gutem Willen und Charakter, es fehlen aber Repräsentanten der Eliten, und es fehlen Frauen und Arbeiter.
Hartmut Klatt
Das gehört übrigens auch zur parlamentarischen Folklore: Während sie dem Bundestag angehören, sind Abgeordnete meist ein unauffälliges Rädchen im Getriebe. Sie wursteln wie alle anderen auch im parlamentarischen Betrieb vor sich hin. Dann endet irgendwann ihr Mandat - aus welchen Gründen auch immer. Und gleich schreiben sie ein ätzend kritisches Buch über den Leerlauf im parlamentarischen Alltag. Politiker hängen auch im Ruhestand noch ihr Mäntelchen nach dem Winde. Wenn sie sich doch bloß vorher dafür eingesetzt hätten, am parlamentarischen Getriebe etwas zu ändern…
Teil 3: Wie die Maden im Speck.
Teil 3 beleuchtet die Rolle der politischen Parteien beim Ersticken der letzten Reste von Demokratie: Sie haben sich im demokratischen System bequem eingerichtet, lassen sich und ihre Abgeordneten üppig aus Steuermitteln und obskuren Kassen bezahlen und würgen durch Etablierung des Parteienstaats die Demokratie ab. Sie schrecken dabei auch vor Verfassungs- und Gesetzesverletzungen und vor Lügen und Betrügen sowieso nicht zurück und bereichern sich schamlos auf Kosten der Steuerzahler. Sie sind Schmarotzer des Systems.
Trotzdem verbreiten sie das Märchen, die armen Abgeordneten müssten unsäglich viel arbeiten und würden dafür auch noch schlecht bezahlt. Tatsächlich sind mindestens 80 Prozent aller Abgeordnetenaktivitäten nichts als - völlig nutzlose - blinde Betriebsamkeit, die vor allem dem eigenen Machterhalt dient. Und die lassen sie sich auch noch fürstlich bezahlen.