Die repräsentative Demokratie frisst ihre Kinder

Das Volk vertreten die Volksvertreter jedenfalls nicht - Teil 2

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In dieser Folge seiner demokratiekritischen Artikelreihe setzt sich der Allensbacher Politologe und Wissenschaftsjournalist Wolfgang J. Koschnick mit der Tatsache auseinander, dass die etablierten repräsentativen Demokratien das Volk nicht repräsentieren (können oder wollen). Die Abgeordneten spiegeln in ihrer Zusammensetzung nicht die Bevölkerung, sondern im günstigsten Fall die "gehobenen Schichten".

Mehr als ein Drittel der gesamten Bevölkerung ist in den Parlamenten überhaupt nicht vertreten. Aber noch schlimmer ist: Die Abgeordneten vertreten ihre eigenen wirtschaftlichen und sozialen Interessen. Und die liegen ihnen am Herzen: Wenn es sein muss, auch gegen das Volk. Die Interessen der breiten Bevölkerung gehen ihren Repräsentanten völlig an der Rückseite vorbei.

Als die Gründerväter der Bundesrepublik Deutschland über das neu zu gründende Staatsgebilde nachdachten, entschieden sie sich für eine besonders rigide Variante der repräsentativen Demokratie, in der die Repräsentanten des Volks sehr viel zu entscheiden haben und das Volk selbst so gut wie nichts zu sagen hat.

Sie taten das aus Misstrauen gegen das Volk; denn sie meinten, die Weimarer Republik sei an zu viel direkter Demokratie, an den vielen Volksbegehren und Volksentscheiden und der Radikalisierung der breiten Massen zu Grunde gegangen. Dem Volk könne man nicht trauen.

Die repräsentative Demokratie beruht also auf einem tief sitzenden Misstrauen der Regierenden gegenüber dem Volk. Das ist schon mal eine Grundhaltung, die das Volk mit größtem Misstrauen gegenüber den Regierenden erfüllen sollte. Weshalb eigentlich sollte das Volk den Regierenden trauen, wenn die nicht einmal dem Volk trauen, von dessen Gnaden sie ihre Herrschaft ableiten?

Ob das Misstrauen der Gründerväter nicht ohnehin eine historische Fehlinterpretation war, soll hier nicht entschieden werden. Tatsache ist, dass die Entscheidung für ein starkes System der Repräsentation ohne nennenswerte Beteiligung der repräsentierten Bevölkerung getroffen wurde.

Ein solches System steht und fällt mit dem Maß der Repräsentation. Wenn die Repräsentanten die Repräsentierten nicht ordentlich repräsentieren, bildet sich unweigerlich ein Sumpf aus Korruption, Kungelei und Vetternwirtschaft - der ideale Nährboden für eine Ochlokratie.

Doch was bedeutet Repräsentation? Viele Beobachter gehen davon aus, dass Repräsentation im Parlament dasselbe sei wie Repräsentation in der Stichprobentheorie: Die Abgeordneten im Parlament sollen ein möglichst genaues Spiegelbild der Bevölkerung darstellen. Männer, Frauen, Junge, Alte, Arme, Reiche, Beamten, Angestellte, Arbeiter, Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger, Rentner, Hausfrauen, Katholiken, Protestanten, Atheisten, Heterosexuelle und Homosexuelle usw., usw. seien danach also im Parlament ebenso stark oder schwach vertreten wie in der Gesamtbevölkerung - oder sollten es im Idealfall zumindest sein.

Nach diesem Maßstab taugt die Repräsentation im Deutschen Bundestag und in den 16 deutschen Länderparlamenten überhaupt nichts und die im Europa-Parlament schon gar nichts; denn große Teile der Bevölkerung sind im Bundestag und in den anderen Parlamenten überhaupt nicht vertreten. Das ist übrigens in allen Parlamenten der Welt ebenso.

Bei einigen Berufsgruppen wie Schülern, Studenten und Auszubildenden mag das vielleicht noch hingehen, weil sie erst am Anfang ihres Werdegangs stehen, aber schon bei Arbeitslosen, Rentnern, Hausfrauen, Hartz-IV-Empfängern und allein erziehenden Müttern sieht das ganz anders aus: Je nach konjunktureller Lage sind das viele Millionen Menschen - weit mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung - und im Bundestag sitzt kein einziger Abgeordneter, der ihre soziale Situation aus eigener Erfahrung kennt. Im parlamentarischen Alltag kommen sie gar nicht vor.

Ausschluss ganzer Bevölkerungsteile von den Schalthebeln der Macht

Man kann die Lücke auch in einer knappen Formel zusammenfassen: Alles in allem ist das untere Drittel der Gesamtbevölkerung in den Parlamenten durch niemanden vertreten - weder durch eine nennenswerte Zahl von Abgeordneten noch durch Parteien.

Da nimmt es nicht weiter wunder, dass bei allen wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen der letzten Jahre und Jahrzehnte stets das untere Drittel besonders nachhaltig zur Kasse gebeten wurde. Die Einkommenskluft zwischen Arm und Reich in Deutschland ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich stärker gewachsen als in den meisten anderen Industrienationen. Das zeigte zuletzt auch eine im Dezember 2011 von der Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) veröffentlichte Studie.1

Ob bei Renten, Gesundheit, Bildung oder Steuern, überall wird stets den Leuten mit einem eher kleinen Einkommen in die Tasche gegriffen. Da kann man das machen. Denn die haben keine Repräsentanten in Berlin und können sich nicht wehren. Die Studie konstatiert: Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer.

In Deutschland ist diese Entwicklung besonders ausgeprägt: Die realen Haushaltseinkommen stiegen zwar jährlich um 0,9 Prozent, bei den Niedriglöhnen kamen davon allerdings nur 0,1 Prozent an, während die oberen zehn Prozent ihr Einkommen um 1,6 Prozent steigern konnten. Und die Politiker aller politischen Lager wirken bei der Umverteilung von unten nach oben tatkräftig mit - und behaupten in der Öffentlichkeit stets das Gegenteil: Sie lügen.

Die Untersuchung widerlegt die Behauptung, dass Wirtschaftswachstum automatisch allen Bevölkerungsgruppen zugute kommt und dass Ungleichheit soziale Mobilität fördert. Das Gegenteil trifft zu: "Zunehmende Ungleichheit schwächt die Wirtschaftskraft eines Landes, sie gefährdet den sozialen Zusammenhalt und schafft politische Instabilität", sagt der OECD-Generalsekretär Angel Gurría.

Personen, die sich selbst als Rentner bezeichnen, fehlen völlig im Bundestag - dabei sind sehr viele Abgeordnete im Rentenalter. 132 Bundestagsabgeordnete sind älter als 65 Jahre.2 Aber Rentner ist keiner. Doch "da draußen im Lande" leben über 25 Millionen Rentner - mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Im Bundestag kommen sie dennoch nicht vor.

Ganz ähnlich ist das bei Hausfrauen: Nur zwei Abgeordnete geben als Beruf Hausfrau an, in der Bundesrepublik aber leben über 15 Millionen Frauen, die sich ganz dem Haushalt und den Kindern widmen. Von den 631 Abgeordneten des 18. Bundestags sind 36,5 Prozent Frauen (230 Abgeordnete), und sie sind mit einem Anteil von rund einem Drittel deutlich unterrepräsentiert. In der Bevölkerung haben sie aber die Mehrheit. Im Bundestag schrumpft die Mehrheit zur Minderheit.

Die überwiegende Mehrheit der Bundestagsabgeordneten hat einen Hochschulabschluss: immerhin 564 von 620 Parlamentariern; rechnet man noch die Abgeordneten hinzu, die eine Universität besucht, aber ihr Studium abgebrochen haben, sind es sogar 611 Personen, also immerhin stolze 98,5 Prozent. Man kann auch sagen: so gut wie alle. Gerade mal neun Abgeordnete haben niemals studiert. Die Mehrheit der Bevölkerung hat aber keinen Hochschulabschluss: nur 6,8 Prozent haben einen. Sieht Vertretung des ganzen Volkes wirklich so aus?

Arbeiter, also Leute, die ihr Einkommen durch körperliche Arbeit verdienen, sind im Bundestag überhaupt nicht vertreten. Jedenfalls gibt kein einziger Bundestagsabgeordneter als Beruf "Arbeiter" an. In der Gesamtbevölkerung machen Arbeiter viele Millionen aus - wie viele genau es sind, lässt sich schwer bestimmen, seit die offizielle Statistik Arbeiter und Angestellte unter dem Oberbegriff "Arbeitnehmer" zusammenfasst.

Es wird ja gern argumentiert, so ein ordentlicher Akademiker sei nun einmal wortgewandt, weltoffen und versiert in vielen Dingen - hingegen sei ein einfacher Arbeiter, der am Fließband stets die gleichen Flansche zusammenmontiert oder tagaus, tagein in einem Klärbecken mit einer langen Stange herumrührt, damit das Klärgut sich gleichmäßig verteilt, eher wortkarg, verschlossen und beschränkt.

Das mag ja durchaus wahr sein. Doch es ändert nichts daran, dass genau so und nicht anders Herrschaft entsteht und sich verfestigt, nämlich durch den Ausschluss ganzer Bevölkerungsteile von den Schalthebeln der Macht.

Akademiker und eine lange Reihe ähnlicher Berufe und Sozialschichten sind in repräsentativen Demokratien eindeutig besser für die Übernahme und Ausübung von Herrschaft ausgestattet. Kein Wunder also, dass die Akademiker und gehobenen Sozialschichten vor lauter Begeisterung über die Segnungen der Demokratie geradezu überschäumen. Ihnen geht es ja sehr gut damit.

Aus dem moralischen, sozialen und politischen Dilemma, das aus dieser Erkenntnis resultiert, kommt man eigentlich nur heraus, wenn man argumentiert, dass Akademiker nun einmal die besseren Menschen sind oder wenigstens doch die besser ausgebildeten Menschen und Nichtakademiker schlechtere Menschen, auf jeden Fall aber ein Stück doofer sind, und die Vorherrschaft der Akademiker gewissermaßen von der Natur oder gar von Gott gewollt sei.

Da wird jeder akademisch Gebildete sofort freudig zustimmen. Aber gilt das auch für die vielen anderen Berufe und Schichten, die in allen demokratisch gewählten Parlamenten überrepräsentiert sind? Für Männer? Für Beamten? Für öffentliche Angestellte? Für Lehrer? Für Juristen? Für Partei-, Gewerkschafts- und Verbandsfunktionäre? Stellen die wirklich den Funktionsadel der repräsentativen Demokratien dar? Eher doch nicht.

Beamte, Angestellte des öffentlichen Dienstes und Juristen dominieren das Parlament

Angehörige des öffentlichen Dienstes sind in allen repräsentativen Demokratien sehr stark überrepräsentiert. Daneben bilden Angestellte von politischen Parteien, Fraktionen und Verbänden sowie Rechtsanwälte und Notare die größten Berufsgruppen. Überrepräsentiert sind auch bestimmte Kategorien von Selbstständigen und freiberuflich Tätigen.

Parlamente sind Organisationen, in denen Akademiker, Lehrer und Juristen und überdurchschnittlich gebildete Menschen unter sich bleiben. Ein Spiegelbild des deutschen Volkes stellen die auch zusammen auf gar keinen Fall dar.

Die Zusammensetzung der Parlamente hat sich seit 1949 markant, aber kontinuierlich verändert. Diejenigen, die heute deutlich überrepräsentiert sind, waren es in den 1950er Jahren noch nicht. Aber diejenigen, die es sind, haben ihre Position im Laufe vieler Jahre Stück für Stück ausgebaut.

Fest im Sattel sitzen heute vor allem Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes, die in der Frühzeit der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik - zum Beispiel im 2. Bundestag von 1953 bis 1957 - nur 24,4 Prozent der Abgeordneten stellten. Heute stellen sie 34,6 Prozent - über ein Drittel aller Abgeordneten.

Deutlich ausgebaut haben ihre Repräsentanz auch die Juristen: Von den 622 Abgeordneten im 17. Bundestag sind 143 Juristen. Sie machen 22 Prozent aller Abgeordneten aus. 78 sind Lehrer: immerhin auch noch 12,5 Prozent.

Die Überrepräsentation von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes ist geradezu ein Skandal. Darüber schreibt der Politikwissenschaftler Arnulf Baring3:

Ein Symptom dieser Entartung ist die Tatsache, dass rund achtzig Prozent unserer Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst, aus den Gewerkschaften kommen. Im Bundestag sitzen unter sechshundert Abgeordneten bestenfalls ein Dutzend, die wirklich etwas von Wirtschaft verstehen. Ein bürokratischer Apparat lenkt seinen Staat ohne klare ordnungspolitische Vorstellungen, ohne je die Welt gesehen, ohne je eigene Erfahrungen im Wirtschaftsleben machen zu müssen: eine drohnenhafte Herrschaftskaste.

Absurd ist es, dass die Zahl der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes seit der Wiedervereinigung kräftig sank, und zwar von 6,74 Millionen im Jahr 1991 bis auf 4,5 Millionen4 im Jahr 2010.5 Mit anderen Worten: Um volle 2,24 Millionen ist die Zahl der Beamten geschrumpft.

Das sind ziemlich genau 50 Prozent des gegenwärtigen Bestands und ein Drittel des Bestands von 1991. Doch an der Vertretung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes in den Parlamenten hat sich absolut nichts geändert. Sie stieg beharrlich von Wahl zu Wahl, so als ob sich da draußen im wirklichen Leben nichts geändert hätte. Von Repräsentativität kann keine Rede sein.

Wäre die repräsentative Demokratie eine Demokratie, in der die Bevölkerung in ihrer Struktur auch nur einigermaßen repräsentiert wird, so hätte der Anteil der Angehörigen des öffentlichen Dienstes zwischen 1991 und 2010 sinken müssen und auf gar keinen Fall steigen dürfen. Wenigstens wäre das so, wenn die politische Repräsentation etwas mit wirklicher Repräsentation zu tun hätte.

Aber es geht ja überhaupt nicht um demokratische Repräsentation. Es geht um politische Macht und um die Nähe zu den Futtertrögen. Und die muss um jeden Preis ausgebaut werden. Schwindet der Anteil von Vertretern einer herrschenden Schicht, so wächst natürlich die Notwendigkeit, die Machtposition im Parlament umso stärker zu festigen.

Auch dies zeigt deutlich, dass die schleichend zunehmende Verzerrung der Repräsentation nichts mit den Wechselfällen von Wahlausgängen zu tun hat: mal geht’s ’rauf, mal wieder ‘runter. Nein, der Anteil der Angehörigen des öffentlichen Dienstes steigt beharrlich und unabhängig vom Bevölkerungsanteil: Da haben sich mehrere soziale Gruppen nach und nach eine Machtbastion erobert und bauen sie von Wahl zu Wahl weiter aus.

Die Überrepräsentation der Angehörigen des öffentlichen Dienstes und vor allem der Beamten im Bundestag und in den Länderparlamenten ist dermaßen markant, dass fundamentale Grundprinzipien der parlamentarischen Demokratie in den Grundfesten erschüttert sind: der Grundsatz der Gewaltenteilung und der Grundsatz, dass alle Bürger die gleiche Chance haben sollten, als Volksvertreter gewählt zu werden.

Davon kann schon lange keine Rede mehr sein. Die Verbeamtung der Parlamente hat die innere demokratische Struktur der repräsentativen Demokratie ad absurdum geführt. Fast die Hälfte der Abgeordneten kommt aus der staatlichen Exekutive. Wie soll man von der Legislative noch ernsthaft erwarten können, dass sie die Exekutive kontrolliert, wenn darin die gleichen Leute wie in der Exekutive sitzen?

Das ist aber in der Theorie eine der vornehmsten Aufgaben der Legislative in der Demokratie. Wenn alle Staatsgewalt in der Hand von politischen Parteien ist, wird die Gewaltenteilung allein dadurch unterlaufen, dass ein und dieselbe Partei im Parlament die Gesetze macht, sie als Regierungspartei anwendet und durch parteiangehörige Richter überprüfen lässt.

Das politische System begünstigt die Verzerrung der Repräsentation

So oder so sind Exekutive und Legislative miteinander verschmolzen; denn beide stehen unter der Dominanz einer politischen Partei oder Koalition und fassen keine wirklich selbstständigen Entschlüsse. Regierung und Bundestag werden faktisch aus der Parteizentrale der Mehrheitspartei oder der Koalitionsrunde gelenkt.6 Damit ist die Gewaltenteilung nicht bloß zerlöchert. Sie existiert nicht mehr. Die politischen Akteure haben sie unter lautem Absingen von Bekenntnissen zu ihr und zur Demokratie abgeschafft.

Wenn sich in der politischen Wirklichkeit eines Staates nicht mehr wie bei Montesquieu Legislative und Exekutive als miteinander echt konkurrierende Gewalten gegenüberstehen, sondern einerseits ein Konglomerat aus Regierung und parlamentarischer Mehrheit und andererseits die Opposition als parlamentarische Minderheit, die zudem durch das Mehrheitsprinzip jederzeit überstimmt werden kann, kann von einer Gewaltenteilung vernünftigerweise nicht mehr die Rede sein.

Roman Herzog

Alle Gewalten sind von Mitgliedern derselben politischen Parteien besetzt. Sie sind der Staat.

Festzuhalten bleibt: In der Zusammensetzung des Bundestags - wie im Übrigen auch der Länderparlamente - nach Beruf, Alter oder Geschlecht wird die "soziale Struktur der Bevölkerung … nicht einmal annähernd widergespiegelt"7. Die Parlamente sind ein Spiegelbild der "gehobenen Schichten" - wie immer man die auch definieren mag. Sie sind Instrumente der Herrschaft dieser Schichten über den Rest des Volks.

Natürlich gibt es bei der Beurteilung der Repräsentativität von Parlamentsabgeordneten eine Reihe von Schwierigkeiten. Im statistischen Sinne repräsentativ waren historisch bisher nur die "Volksvertretungen" totalitärer Staaten wie der DDR. Sie haben die statistische Repräsentativität politisch erzwungen, indem sie im Vorhinein einen Verteilungsschlüssel für die zu besetzenden Sitze in der Volkskammer festlegten. Das kann nicht erstrebenswert sein.

Die Verzerrung der Repräsentativität in einem freiheitlich-demokratischen System liegt gewissermaßen in der Natur der Sache, weil bestimmte Berufsgruppen und Sozialschichten eher wählbar sind und andere eben nicht. Ein Hauptschulabsolvent oder ein Bergarbeiter ist für die meisten Wähler nun einmal nicht so ohne weiteres wählbar wie ein Akademiker. Die Zahl der Beispiele ließe sich endlos vermehren.

Das bedeutet aber auch: So oder so begünstigt das politische System die Verzerrung der Repräsentation aus einer Vielzahl von Gründen: zum Beispiel dem Umstand, dass Akademiker meist redegewandter als ungelernte Arbeiter mit Migrationshintergrund sind. Oder weil es für Beamten sehr viel leichter ist, ein politisches Amt auszufüllen als für einen Unternehmer oder auch einen Arbeiter, weil Beamten viel mehr Zeit haben.

Das ist zwar ohne jeden Zweifel so und wohl auch so gut wie unvermeidlich, läuft aber dennoch darauf hinaus, dass die repräsentative Demokratie bestimmte Schichten der Bevölkerung benachteiligt und andere bevorzugt.

Mag sein, dass sich daran wenig ändern lässt. Die Tatsache bleibt dennoch bestehen: Die Schieflage benachteiligt eindeutig die Mehrheit der Bevölkerung. Die Verteilung politischer Macht bedient sich undemokratischer Mechanismen und schreibt Privilegien von vornherein fest.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Elmer Eric Schattschneider fasste diese Erkenntnis in der klassischen Formulierung zusammen: "The flaw in the pluralist heaven is that the heavenly chorus sings with a strong upperclass accent."8 (Der Makel des pluralistischen Himmels ist es, dass der himmlische Chor mit einem deutlichen Oberschichtakzent singt.)

Wahlen sind ein aristokratisches, Entscheidungen durch Los ein demokratisches Verfahren

Da passt ins Bild, was der französische Politikwissenschaftlicher Bernard Manin herausgefunden hat.9 Er behauptet, Wahlen seien schon immer ein aristokratisches Verfahren der Entscheidungsfindung gewesen. Dagegen seien demokratische Entscheidungen stets durch Los getroffen worden. So galten im antiken Athen und in Rom Entscheidungen durch Los als demokratisch, Entscheidungen durch Wahl als aristokratisch.

Auch in der Gründungsphase der amerikanischen Demokratie galt die Wahl von Amtsträgern nicht als demokratisch. Die amerikanischen Gründungsväter wollten den Einfluss des gemeinen Volks auf den Staat zurückhalten, und zwar durch die Wahl von Repräsentanten selbst. James Madison, einer der wichtigsten geistigen Führer der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, postulierte, dass sich im Repräsentativsystem eine Art höherer Vernunft manifestiert. Er schrieb in den "Federalist Papers": Durch gewählte Abgeordnete "kann es geschehen, dass die Stimme des Volkes, wenn sie von seinen Vertretern erhoben wird, eher zum Wohl des Ganzen ertönt, als wenn sie aus dem Volk selber spricht, das zu diesem Zweck zusammentritt." Das Repräsentativsystem sei ein Mittel, "als Regenten Männer zu finden, die genügend Weisheit besitzen, um das gemeinsame Wohl für die Gesellschaft zu erkennen, und genügend Tugend, um es zu verfolgen".

Während die amerikanischen Anti-Föderalisten meinten, der Abgeordnete solle den durchschnittlichen Bürger auch dadurch vertreten, dass er ihm in Herkunft, Denkart und Lebensweise ähnlich ist, proklamierte Madison das Distinktionsprinzip: Der Abgeordnete kann und soll vornehmer, klüger, gebildeter, besser und reicher sein als der Rest. "Das Repräsentativsystem errichtete man in vollem Bewusstsein, dass die gewählten Vertreter angesehene Bürger sein würden und sein sollten, die sich sozial von ihren Wählern abhoben." Das Ziel ist erreicht: Heute sind fast die Hälfte aller Mitglieder des amerikanischen Kongresses Millionäre.

Das Prinzip der Wahl macht einen Mandatsträger nach Manin zu einem "rätselhaften Zwitter", in dem sich demokratische und aristokratische Elemente vermischten. Alle Macht geht vom Volke aus - doch gewählt wird eine Elite der Wenigen.

Zu verschiedenen Zeiten wurden Wahlen immer wieder als Einschränkung der Demokratie, als im Grunde aristokratisch betrachtet. Schließlich war der ursprüngliche Grundgedanke der Volksherrschaft weiter gefasst als das moderne "one man, one vote", nämlich als gleicher Zugang zu politischen Ämtern.

Das Verfahren, das bis in die Neuzeit eingesetzt wurde, um die radikale Idee der Gleichheit des Zugangs zu Ämtern zu realisieren, war das Losen. Durch seine Neutralität und geradezu "göttliche" Unparteilichkeit befriedet das Losverfahren den Entscheidungsprozess und verhindert zudem, dass das politische Feld von Lobbyismus und Expertentum vereinnahmt wurde.

In der Gründungsphase der modernen Demokratien in Frankreich, den USA und Großbritannien geriet das Losverfahren in Vergessenheit. Die bewusste Auswahl der Repräsentanten war nun wichtiger als die Gleichheit des Zugangs zu Ämtern. Die "nicht-egalitären und aristokratischen Effekte der Wahl", so Manin, beruhen auf vier Aspekten: "Die ungleiche Behandlung der Kandidaten durch die Wähler, die durch eine Wahlsituation bedingte Unterscheidung der Kandidaten, der kognitive Vorteil herausragender Kandidaten und die Kosten der Informationsverbreitung."

In dieser Zeit stellt sich heraus, dass das klassische Losverfahren nicht zu einer ausdifferenzierten Gesellschaft passt. Manin erkennt in dem historischen Paradigmenwechsel dennoch einen Widerspruch:

Zur gleichen Zeit, als die Gründerväter die Gleichheit aller Bürger deklarierten, entschied man sich auf beiden Seiten des Atlantiks ohne die geringsten Bedenken für die uneingeschränkte Herrschaft einer Auswahlmethode, die seit langem als aristokratisch galt.

Die Wahl der Wahl habe eine nachhaltige "Kluft" zwischen den Bürgern und deren Repräsentanten gerissen. Denn "tief im Inneren des Wahlverfahrens", so Manin, "liegt eine Kraft, die dem Wunsch nach Ähnlichkeit zwischen Regierenden und Regierten entgegenwirkt."10

Tatsächlich bieten alle Parlamente ein Zerrbild der Sozialstruktur ihres Landes. Und je länger sie bestehen, desto stärker verzerrt sich das Bild. Die ohnehin schon überrepräsentierten Berufe richten sich in den Parlamenten ein und verstärken von Legislaturperiode zu Legislaturperiode ihre Machtpositionen. Die Parlamente sind Vertretungen gehobener und vorwiegend politischer Berufe. Je länger ein Parlament besteht, desto besser ausgebaut sind die Machtbastionen der vorherrschenden Berufe.

Das System der freien und gleichen Wahlen unterminiert die Gleichheit der Rechte

Die Verzerrung in der Repräsentation ist das Ergebnis eines Machtkampfs, der mit friedlichen und demokratischen Mitteln ausgetragen wird. Und diesen Machtkampf haben schon vor Jahrzehnten all jene Schichten gewonnen, die im Parlament überrepräsentiert sind.

Die Frage ist: Können solche Abgeordnete dennoch die Interessen der Betroffenen vertreten? Und wenn ja, wie soll das gehen? Indem sie sich väterlich der Bedürfnisse der Armen, der Elenden und der Unterdrückten annehmen? Das kann doch niemand im Ernst behaupten.

Doch die Parlamentarier behaupten das mit dem allergrößten Nachdruck. Sie meinen, nur weil sie mal gewählt wurden, vertreten sie das ganze Volk. Aber aus welcher patriarchalisch-verbohrten Gutsherren-Mottenkiste stammen solche Vorstellungen?

Das System der repräsentativen Demokratie mit seinen Wahl- und Rekrutierungsverfahren und seinen politischen Parteien trägt von allem Anfang an den Keim zur allmählichen Aushöhlung der Demokratie in sich. Von Anfang an war zu erkennen, dass die Demokratien sich im Laufe der Zeit zu Ochlokratien entwickeln müssen, in denen bestimmte Schichten ihre Herrschaft nach und nach etablieren und verfestigen.

Die im Verlauf vieler Jahrzehnte fortschreitende Entfremdung der Repräsentanten von denen, die sie repräsentieren soll(t)en, ist kein unglücklicher Zufall. Sie ist systemimmanent. Das repräsentative System frisst seine Kinder. Die Kräfte der Selbstzerstörung gehören zum System und entfalten eine starke Eigendynamik. Sie kommen nicht von außen. Auf der Strecke bleibt das Volk. Die Repräsentanten hingegen überleben als vom Volk losgelöste "politische Kaste".

Das muss man sich einfach nüchtern vor Augen halten: Die demokratischen Wahlkämpfe führen zu Kräfteverhältnissen, die der realen Sozialstruktur der Bevölkerung immer weniger entsprechen, ja ihr zuwiderlaufen. Das System der freien und gleichen Wahlen unterminiert die Gleichheit der Rechte. Das ist ein eher schleichender Prozess, der im Verlauf vieler Jahre immer deutlichere Konturen annimmt. Deshalb besteht auch keine Hoffnung auf Besserung. Der Prozess schreitet unaufhaltsam voran, und er kennt nur eine Richtung.

Das Repräsentationsdefizit aller Parlamente verschärft sich im Verlauf der Zeit beständig. Immerhin stellte selbst ein ehemaliger Abgeordneter des Bundestags fest:

Ein Parlament wird vom Volk (…) erst dann als repräsentativ empfunden, wenn in ihm alle Schichten und Berufe der Gesellschaft vertreten sind. Der Deutsche Bundestag leidet nicht so sehr an Fleiß, gutem Willen und Charakter, es fehlen aber Repräsentanten der Eliten, und es fehlen Frauen und Arbeiter.

Hartmut Klatt

Das gehört übrigens auch zur parlamentarischen Folklore: Während sie dem Bundestag angehören, sind Abgeordnete meist ein unauffälliges Rädchen im Getriebe. Sie wursteln wie alle anderen auch im parlamentarischen Betrieb vor sich hin. Dann endet irgendwann ihr Mandat - aus welchen Gründen auch immer. Und gleich schreiben sie ein ätzend kritisches Buch über den Leerlauf im parlamentarischen Alltag. Politiker hängen auch im Ruhestand noch ihr Mäntelchen nach dem Winde. Wenn sie sich doch bloß vorher dafür eingesetzt hätten, am parlamentarischen Getriebe etwas zu ändern…

Teil 3: Wie die Maden im Speck.

Teil 3 beleuchtet die Rolle der politischen Parteien beim Ersticken der letzten Reste von Demokratie: Sie haben sich im demokratischen System bequem eingerichtet, lassen sich und ihre Abgeordneten üppig aus Steuermitteln und obskuren Kassen bezahlen und würgen durch Etablierung des Parteienstaats die Demokratie ab. Sie schrecken dabei auch vor Verfassungs- und Gesetzesverletzungen und vor Lügen und Betrügen sowieso nicht zurück und bereichern sich schamlos auf Kosten der Steuerzahler. Sie sind Schmarotzer des Systems.

Trotzdem verbreiten sie das Märchen, die armen Abgeordneten müssten unsäglich viel arbeiten und würden dafür auch noch schlecht bezahlt. Tatsächlich sind mindestens 80 Prozent aller Abgeordnetenaktivitäten nichts als - völlig nutzlose - blinde Betriebsamkeit, die vor allem dem eigenen Machterhalt dient. Und die lassen sie sich auch noch fürstlich bezahlen.