Die schwedische Corona-Strategie und die vielen (Un)wahrheiten darüber

Bild: Linus Mimietz/unsplash

Spekulationen über das schwedische Modell werden zur Stützung krassester Anschauungen verwendet. Ein Überblick zur Lage

"Das Scheitern des 'schwedischen Modells' und seine dramatischen Folgen" war jüngst der Titel über einem Spiegel-Artikel hinter der Bezahlschranke, und man fragte sich: Ist er das nun, der endgültige Beweis? Spoiler: Nein, er ist es nicht.

Wer eine angemessene Auswertung des schwedischen Umgangs mit der Pandemie sucht, ist mit dem Bericht der Coronakommission umfassender und auch aktueller bedient.

Der Spiegel-Artikel bezieht sich auf eine Studie, die in Humanities and Social Sciences Communications erschienen ist: Evaluation of science advice during the Covid-19 pandemic in Sweden. Ausgewertet wird insbesondere die Arbeit der Behörde für öffentliche Gesundheit (Folkhälsomyndigheten), deren Epidemiologe Anders Tegnell es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat, auch wenn der Behördenleiter zu dieser Zeit Johan Carlson war.

Die Studie kommt zu dem Schluss, der schwedische Weg sei "durch einen moralisch, ethisch und wissenschaftlich fragwürdigen Laissez-faire-Ansatz" gekennzeichnet gewesen. Man sei mehr bestrebt gewesen, ein gewisses Bild von Schweden aufrechtzuerhalten, als Menschenleben zu retten.

Diese Studie wurde fleißig in den sozialen Medien geteilt, alternativ die Artikel darüber. Zur Glaubwürdigkeit der Studie trug bei, dass sie auf dem Portal nature.com erschienen ist, über das diverse Publikationen veröffentlicht werden. Flüchtige Leser setzten dies mit dem Journal Nature gleich, das das Flaggschiff dieses Portals ist. Aber darin ist die Studie nicht erschienen, sondern eben im weit weniger bekannten Humanities and Social Sciences Communications.

Und es handelt sich eben nicht um eine naturwissenschaftliche Studie mit Zahlen und Modellrechnungen.

Der veröffentlichte Text transportiert zum großen Teil unbestrittene Fakten, die jeder kennt, der in den vergangenen zwei Jahren die schwedische Coronapolitik verfolgt hat, insbesondere solche aus dem ersten Teilbericht der Coronakommission im Herbst 2020 und der Untersuchung von IVO, der schwedischen Aufsichtsbehörde über die sozialen Dienste. Letztere untersucht konkrete Vorwürfe gegen einzelne Einrichtungen.

Die Coronakommission, ein von der Regierung eingesetztes, aber unabhängiges Gremium, hatte schon damals bemängelt, das zögerliche Handeln von Politik und Behörden habe zur großen Virusverbreitung beigetragen, was sie auch in der Gesamtbewertung wiederholte. Die Kritik von IVO bezieht sich darauf, dass es Fälle gab, in denen alte Menschen ohne individuelle Arztbeurteilung palliativ behandelt wurden.

Zwischen diesen Fakten fallen aber immer wieder Formulierungen auf, die nicht Fakten, sondern Wertungen transportieren. Die schwedische Wissenschaftsjournalistin Amina Manzoor meint deshalb, der Text sei "eher geschrieben wie ein Meinungsartikel als wie eine Studie". Die Autoren beschränken sich zudem in ihrer Betrachtung nur auf das Jahr 2020. Das sei bequem, so Manzoor – das Jahr danach passe nämlich nicht genauso gut in ihr Narrativ.

Das selbsterklärte Ziel dieser Studie ist ein Urteil darüber, inwieweit die verantwortlichen Akteure in ihren Empfehlungen und Maßnahmen wissenschaftlichen Standards gefolgt sind – und dieses fällt vernichtend aus.

Neben unbestrittenden Fakten und etwas zweifelhaften Wertungen gibt es aber auch eine Behauptung darin, die einfach falsch ist:

The precautionary principle followed by most countries, was not followed, since officials even said symptomatic individuals could go to work and pick up their children at school.

Das in den meisten Ländern geltende Vorsorgeprinzip wurde nicht befolgt, da die Behörden sogar erklärten, dass Personen mit Covid-Symptomen zur Arbeit gehen und ihre Kinder von der Schule abholen könnten.

Zu keinem Zeitpunkt, bis heute nicht, gab es in Schweden grünes Licht dafür, dass Leute mit Covid-Symptomen zur Arbeit gehen können. Im Gegenteil: "Stanna hemma om du är sjuk" - "Bleib zu Hause, wenn du krank bist" - war und ist die wichtigste und am meisten propagierte "Maßnahme" der schwedischen Pandemiebekämpfung.

Damit die Leute auch wirklich schon auf Verdacht zu Hause bleiben, zu Zeiten, als es noch nicht für jeden einen Test gab, ersetzte der Staat mit einer Pauschale den finanziellen Abzug, den ein Angestellter durch seine Krankmeldung hat ("karensavdrag"). Dieser finanzielle Zuschuss ist Ende März 2022 ausgelaufen, aber die Aufforderung, mit Covid-Symptomen zu Hause zu bleiben, gilt bis heute.

Dass die schwedische Behörde für öffentliche Gesundheit die Auswirkungen des Coronavirus unterschätzt hat, bestreitet im Nachhinein auch niemand. Dass das Wissen über das Virus damals rudimentär war und Vorhersagen schwierig, musste die Hauptautorin Nele Brusselaers aber selbst erfahren.

Sie war im Frühjahr 2020 an einer Modellrechnung beteiligt, die bis Ende Juni 2020 für Schweden 96.000 Tote prognostizierte, wenn man nicht schnell zu massivsten Maßnahmen greife. So ist es bekanntlich nicht gekommen – es waren unter 6000, und auch nach zwei Jahren Pandemie sind es "erst" 18 600.

Ein Fokus der Autoren liegt auf den Altenheimen, in denen sich das Virus anfangs schnell verbreitete und in denen in dieser Anfangsphase der Pandemie nicht alle adäquat versorgt wurden. Das ist unbestritten. Im umfangreichen Anhang widmen sich die Autoren noch einmal diesem Thema, unter anderem mit dem Vorwurf "einige Leben hätten gerettet oder verlängert werden können, wenn sie Sauerstoff statt Morphium bekommen hätten." Konkrete Zahlen gibt es dazu allerdings nicht.

Die Autoren kritisieren außerdem mehrfach, dass es keine Schulschließungen gab – obwohl die Pläne für eine Pandemievorbereitung diese vorsahen. Tatsächlich fiel die Entscheidung gegen Schulschließungen auf genau der wissenschaftlichen Basis, die die Autoren einfordern. Man erinnere sich: Es geht um die erste Phase, das erste Virus. Kinder waren damals tatsächlich weit weniger betroffen.

Die Behörde war in ihrer Abwägung zu dem Schluss gekommen, dass es für die Kinder weit schädlicher sei, nicht in die Schule zu gehen. Die älteren Kinder, die stärker gefährdet waren, bekamen Fernunterricht. Inzwischen werden die Folgen des Schulausfalls in anderen Ländern immer sichtbarer und es ist Konsens, dass dieses Mittel so weit wie möglich vermieden werden soll – obwohl die aktuellen Virusvarianten auch für Kinder viel stärker ansteckend sind.

Lesen, was man lesen will

Die Rezeption von "Evaluation of science advice during the Covid-19 pandemic in Sweden" wäre ein Forschungsprojekt für sich.

Als Extrembeispiel sei hier die australische Professorin Raina MacIntyre genannt: Sie zitierte Schweden als abschreckendes Beispiel, als ein Land, in dem alte Leute Morphium statt Sauerstoff bekamen und massenweise unfreiwillig euthanasiert wurden.

Massenmord und Euthanasie an schwedischen Altenheimbewohnern? Der australische Arzt Simon Rowe grub nach der dramatischen Anschuldigung von MacIntyre in den Quellen und war nicht überzeugt – zwei Ärzte und zwei Krankenschwestern als Hauptquelle, hauptsächlich Artikel aus der Laienpresse und die Zahl der betroffenen Personen von "einige bis mehr als 10". Anschuldigungen wie von MacIntyre erhoben würden von den Autoren selbst nicht gemacht und seien mit den Quellen auch nicht zu belegen.

MacIntyre versuchte in ihrem Debattenbeitrag, die Landsleute von stärkeren Maßnahmen gegen Covid zu überzeugen. Die realen Verhältnisse in Schweden früher oder heute interessieren dabei gar nicht.

Dies mag ein besonders krasses Beispiel sein, zeigt sich aber immer wieder an der internationalen Berichterstattung über schwedische Coronapolitik: Man legt den Fokus auf das, was man gerade braucht, meist ein abschreckendes Beispiel. Aber auch diejenigen, die glauben, Schweden habe "alles richtig gemacht", blenden Faktoren aus.

Corona in Schweden heute

Wo steht Schweden heute? Aus der öffentlichen Diskussion ist das Thema Corona praktisch vollständig verschwunden.

Jetzt geht es um den Krieg in der Ukraine und ob man der Nato beitreten soll oder nicht. Sämtliche Maßnahmen sind seit dem 9. Februar aufgehoben. Die Krankheit gilt nicht mehr als gesellschaftsgefährdend und auch das Pandemiegesetz ist ausgelaufen.

Bei Symptomen müssen sich nur noch folgende Personengruppe testen lassen: Beschäftigte im Gesundheitswesen und in der Altenpflege, Heimbewohner und solche, die ambulante Hilfe erhalten, wer ins Krankenhaus muss sowie all jene, für die es vom Arzt empfohlen wird.

Diese Zahlen sinken langsam. Überwacht wird das Virus außerdem über Stichproben in der Bevölkerung. Es befinden sich noch zwischen 20 und 30 Personen auf der Intensivstation. Wie viele das Virus nun ein, zwei- oder gar dreimal gehabt haben, ist unmöglich zu wissen aufgrund der hohen Dunkelziffer.

Im europäischen und internationalen Vergleich sind die schwedischen Coronazahlen nicht mehr auffällig, nicht einmal in der Gesamtbilanz der Toten. Norwegen und Finnland liegen allerdings weiterhin deutlich niedriger.

In der Studie wird versucht, die zuständige Behörde und die Politiker moralisch für die Toten zur Verantwortung zu ziehen – über die Konstruktion, ob die Ratschläge denn auch richtig waren. Von einer allgemeinen Empfehlung bis zum frühzeitigen Tod im Altenheim ist es jedoch ein langer Weg.

Dies hat die Coronakommission umfassender aufgearbeitet, unter Berücksichtigung der etwas komplizierten Strukturen des schwedischen Gesundheitssystems und der Pflege. Betrachtet wird auch der komplette Zeitraum bis zur Aufhebung der Maßnahmen, abgesehen von der Impfkampagne, die nicht Teil des Auftrags war.

Die Kommission wünschte sich in ihrer Gesamtbewertung schnellere und wirksamere Maßnahmen in der ersten Phase der Pandemie, um angesichts eine neuen, unbekannten Gefahr zunächst auf Nummer sicher zu gehen.

Wiederholte Lockdowns hielt sie allerdings nicht für zielführend, die Freiwilligkeit der Maßnahmen sei richtig gewesen, ebenso, dass es keine Schulschließungen gab.

Als Hauptverantwortliche werden im Abschlussbericht allerdings ebenfalls die Regierung, inbesondere der ehemalige Ministerpräsident Stefan Löfvén, und der ehemalige Behördenchef Johan Carlson benannt. Praktischerweise sind beide nicht mehr im Amt.