Die sterbende Stadt

Bagdad: Machtspiele, Milizenkrieg und verzweifelte Großaktionen

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Operation „Forward Together“ (vgl. Mit dem falschen Pass am falschen Ort), 2.Stufe: Zusätzliche 12 000 Soldaten, irakische Sicherheitskräfte und amerikanische Truppen, versuchen derzeit dem gewalttätigen, anarchischen Chaos in der irakischen Hauptstadt Bagdad Herr zu werden. Wie groß der Erfolg dieser Großaktion ist, lässt sich aus Berichten über die gegenwärtigen Verhältnisse in Bagdad schwer ablesen.

Reportagen von Korrespondenten, die langjährige Erfahrungen in Bagdad gemacht haben, und Blogs aus der Hauptstadt weisen eher auf eine scheinbar unaufhaltsame Verschlechterung hin: Der Strom derjenigen Bewohner, welche die Mittel dazu haben und abreisen können (der für den Wiederaufbau wichtige Mittelstand), reisst nicht ab, und für diejenigen, die dableiben, wächst das Risiko, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden.

Residents of Baghdad are systematically being pushed out of the city. Some families are waking up to find a Klashnikov bullet and a letter in an envelope with the words “Leave your area or else.” The culprits behind these attacks and threats are Sadr’s followers- Mahdi Army. It’s general knowledge, although no one dares say it out loud. In the last month we’ve had two different families staying with us in our house, after having to leave their neighborhoods due to death threats and attacks. It’s not just Sunnis- it’s Shia, Arabs, Kurds- most of the middle-class areas are being targeted by militias.

Riverbend

Wie eine aktuelle Meldung zeigt, ist die Situation in der Stadt unübersichtlich; zu jedem Vorfall, zu jedem Gefecht, kursieren verschiedene Versionen. Gegenüber dem Chaos scheinen die US-Truppen nur wenig ausrichten zu können. Ihre Taktik, ein Stadtviertel erst von gewalttätigen Elementen zu säubern, es dann unter Kontrolle zu bringen, die mit einem Truppenteil, das dort bleibt, gesichert werden soll, um dann das nächste zentrale Viertel - "Hotspot" - unter die eigene Herrschaft zu bringen, scheint nicht so recht zu gelingen.

Auch in Bagdad wiederholt sich anscheinend ein Muster, das aus früheren Auseinandersetzungen mit dem seinerzeit sogenannten „Widerstand“ bekannt ist: Die Guerillas ziehen sich angesichts des übermächtigen Gegners zunächst zurück, um später, sobald sich der Schwerpunkt der Kampfhandlungen verlagert hat, ins Viertel zurückzukehren. Die Zeitrechnung der Okkupationsgegner ist dabei eine andere als die der Besatzer, die unter anderem Erfolgszeitdruck stehen.

Wie das Beispiel Falludscha in diesem Zusammenhang aktuell illustriert, können sogar viele Monate zur Rückkehr verstreichen. Von einer friedlichen, von allen widerständigen, kriminellen, terroristischen Elementen gereingigten Zone kann man jetzt nicht mehr sprechen, wie ein gestern erschienener Bericht in der Los Angeles Times indiziert.

Zu jedem Gefecht kursieren verschiedene Versionen

In Bagdad wird die Taktik der kooperierenden irakischen und amerikanischen Verbände offenbar schneller unterlaufen. Zu wenig Truppenstärke der Amerikaner ist eine Begründung, unverlässliche irakische Sicherheitskräfte, die im Bürgerkrieg parteiisch vorgehen und deren Loyalität fragwürdig ist, da das zuständige Innenministerium von Milizen unterwandert ist, die andere. Wie ein irakischer Blogger aus Bagdad kritisiert, wurde bei dieser Taktik, die sich auf einzelne Viertel konzentriert, ein augenfälliger Punkt ganz außer acht gelassen, nämlich die Kontrolle der Hauptzugänge zur Stadt. Der Nachschub an Guerillakämpfern und Waffen kann demnach ohne große Hindernisse von Außen, beispielsweise aus der berüchtigeten Anbar-Provinz („Hotbed of Terrorists“), in die Stadt gelangen.

Wer da genau gegen wen aus welchen Interessen um die Vorherrschaft eines Viertels, vielleicht auch nur eines Straßenzugs kämpft, bzw. Kapital aus kriminellen Aktionen schlägt - am bekanntesten sind hier die notorischen Entführungen (die größtenteils Iraker betreffen), ist wahrscheinlich nur den allerwenigsten einsichtig. Auch lokale Blogs geben hier oft nur Gerüchte wieder.

Am häufigsten wird in diesem Zusammenhang die Mahdi-Armee von Muqtada as-Sadr als bedeutendeste, unheilvolle Kraft (siehe Zitat oben) erwähnt. Doch scheint sich auch hier die vorgeblich geschlossene Einheit als eine undurchsichtige Pluralität mehrere Verbandsführer mit unterschiedlichen Interessen zu erweisen.

Jüngst erschienene Reportagen und Berichte in amerikanischen Magazinen stützen die Annahme, dass der absolute Machtanspruch Muktada as-Sadrs in seiner Miliz umstritten ist, dass er Gegenspieler hat – und wie kolportiert wird, „sogar um sein Leben fürchten muss“. Welche Rolle in diesem Machtspiel die Badr-Brigaden und die Bürgerwehren haben, verstärkt die Unübersichtlichkeit.

Ob diesem Chaos mit dem neuesten Plan des US-Militärs, die Uniformen - und auch die Polizeiwagen - der irakischen Polizei genauer von allen anderen zu unterscheiden, um „Verwechslungen mit Milizen“ und Missbrauch vorzubeugen, erfolgreich zu begegnen ist, wäre eine falsch gewichtete Frage. Es ist ein erster Schritt. Zweifel bleiben an anderer Stelle: Ob die Mittel dafür aufgebracht werden? Wie ein gestern erschienener Bericht von einer „Modelleinheit“ der irakischen Armee dokumentiert, scheinen die Anstrengungen des US-Kommandos in dieser Hinsicht bei weitem hinter den selbst gestellten Ansprüchen zurückzubleiben.