Mit dem falschen Pass am falschen Ort

Die Karriere von klangvollen Militäroperationen und Willkürmorde in Bagdad

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Man braucht noch nicht einmal ein Langzeitgedächtnis, um zu erkennen, wie es um die Verfallsdaten von Versprechen im Irak bestellt ist, die den Bürgern Hoffnungen auf eine deutliche Besserung ihrer Lage machen. Das gilt vor allem für diejenigen Versprechen, die zum Ziel haben, mit einer größer angelegten militärischen Offensive für mehr Frieden und Ordnung zu sorgen. Die "Karriere" solcher Operationen, die wichtige Widerstands/Terroristennester räumen sollen, und meist sprechende Namen tragen, wird anscheinend immer kürzer.

Dominieren am Anfang der großen Anti-Terror-Militäraktionen noch die Presseerklärungen mit den griffigen Bezeichnungen der Militäroperation, aufgerüstet mit Superlativen wie "die größte Operation seit dem Sturz Saddam Husseins, seit der Offensive auf Falludscha..", wird die Operation in der Berichterstattung außerhalb der militärischen Fachwelt schon nach kurzer Zeit nicht mehr erwähnt und die Schlagzeilen gehören wieder den Bomben und der Waffengewalt der anderen, denen eigentlich die Grundlagen für ihren Terror entzogen werden sollte.

Knapp einen Monat ist es her, seit der irakische Premierminister Nuri al-Maliki die "Operation Forward Together" verkündete. Die Sicherheitsbedingungen in Bagdad sollten mit der Großaktion verbessert und humanitäre Hilfe geleistet werden, so lautete das oberste Ziel der Operation, bei der über 70.000 Soldaten, überwiegend irakische Sicherheitskräfte unterstützt von US-Einheiten, eingesetzt werden sollten. Ausgangssperren, eine massive Erhöhung von Checkpoints und Razzien gegen Terror-Zellen wurden am 14.Juni als zentrale Maßnahmen zur Wiedererlangung der Kontrolle in der Hauptstadt ausgegeben. Premier al-Maliki klang zuversichtlich, schließlich hatte man den Terrorzellen kurz zuvor einen spektakulären Schlag verpasst und den gefürchteten Terrorführer as-Sarkawi zur Strecke gebracht.

Auch gestern sprach das offizielle Statement aus Malikis Amt von der Überzeugung, dass die "Situation in Bagdad unter Kontrolle ist". Die Berichterstattung der internationalen Presse indes liefert ein anderes Bild: Selbst für irakische Verhältnisse seien die Massaker, die sich gestern in Bagdad ereigneten, eine ungewöhnliche Eskalation, so der Tenor. Die "Operation Forward together" wird namentlich nicht mehr erwähnt, hingewiesen wird einmal mehr auf die "wachsende Gefahr eines Bürgerkriegs" - trotz einer militärischen Großaktion, die vor vier Wochen zur Eindämmung der terroristischen Kräfte lanciert wurde.

Während Malikis Büro eine Übertreibung der Ernsthaftigkeit der Situation durch Presseberichte sehen will, hört man aus der Umgebung des irakischen Präsidenten andere Töne: "Der Irak ist jetzt wirklich eingetreten in einen konfessionellen Bürgerkrieg; die Angelegenheit ist aber nicht mehr hauptsächlich nur eine, die vom Hass der verschiedenen religiösen Gruppen untereinander bestimmt ist", so der Berater Talabanis, Muwafak as-Samarrai, gegenüber der arabischen Zeitung Al-Hayat. An ähnlich lautenden Lagebeurteilungen anderer irakischer Politiker herrscht kein Mangel. Von der viel beschworenen nationalen Einheit, der sich die Regierung Maliki verpflichtet fühlt, ist in den unterschiedlichen Statements nur wenig zu sehen.

Wie sonst auch bei Gewaltausbrüchen im Irak differieren die Zahlen der Opfer des gestrigen Mordens in der Hauptstadt. Der Sprecher einer amerikanischen Einheit gibt mit Berufung auf die irakische Polizei 11 Todesopfer an; andere Schätzungen berichten von 36 Toten; Nachrichtenagenturen in den USA sollen 42 Tote melden, Augenzeugen, von denen die Zeitung az-Zaman berichtet nennen gar 61 Tote, darunter Frauen und Kinder.

Auch darüber, wer für die tödlichen Gewaltausschreitungen verantwortlich ist, gibt es die üblichen unterschiedlichen Versionen. Aus den Berichten über die gestrigen Ereignisse geht als Kern hervor, dass bewaffnete Männer Checkpoints in der Umgebung des Bagdader Viertels Jihad aufgebaut haben, sich dann wahllos Männer aus Fahrzeugen und Häusern herausgegriffen und diese dann "exekutiert" haben sollen - aufgrund ihrer Identität als Sunniten. In einem australischen Radioprogramm berichtete eine Zeugin:

I had a call from the militia in Al-Jihad. Yesterday, a Shi'ite mosque and today, whoever was a Sunni was dragged out of his car and killed. They called me and asked if my husband was a Jabouri and I said yes, he is a Jabouri, but we are Shi'ites. They said they did not believe us. I called after a while and they said you would find your husband's body at the morgue.

Ein anderer Zeuge brachte die neue Dimension der gestrigen Vorgänge folgendermaßen auf den Punkt:

There have been some problems in this neighborhood. But it never reached killing because you showed the wrong identification card.

Wer nun die Milizen waren, die die Checkpoints im Jihad-Vertel aufgestellt haben und am helllichten Tag Menschen mit dem "falschen" Pass getötet haben, darüber gibt es die unterschiedlichsten Verdächtigungen. Verdächtigt wird vor allem die al-Mahdi-Miliz von Muktada as-Sadr, was von dessen Büro natürlich vehement bestritten wird. Augenzeugen sprechen generell von "Schiiten", welche die Straßensperre um sieben Uhr morgens aufgebaut und Nachbarn verschleppt haben. Und sunnitische Politiker machen ebenfalls unspezifizierte schiitische Kräfte für die brutale Aktion verantwortlich und streuen die üblichen Hinweise darauf, dass Uniformierte unter den "Evildoers" waren.

Vielleicht bringen die nächsten Tage mehr Klarheit darüber, welche Gruppierung hinter den Morden an Menschen mit dem falschen Pass am falschen Ort steht. Aber die Antwort darauf, mit welchen Mitteln man der Dynamik der religiösen und ethnischen Konflikte, die das Leben in Bagdad schon länger bestimmen, anders begegnen kann als einzig mit weiteren großen Militäroperationen, wird wohl noch viel länger ausstehen.