Leben in Bagdad

"Operation forward together"

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"Einmal drinnen hat es mir die Augen geöffnet. Ich sah die Zukunft des Irak zumindest die von Bagdad. Innerhalb der Barrikade hinter dem Checkpoint war ein Stück des alten Bagdad. Geschäfte voller Menschen, alle entspannt und lächelnd. Jeder wollte reden und mir von seinem Leben erzählen; ich wurde zum Tee eingeladen und nahm die Einladung an, ohne zu denken, dass dieser Mann meine Kamera gesehen hatte und mich einfach etwas aufhalten würde, bis die Kidnapper kommen." Das Viertel, in dem der berühmte irakische Blogger, Salam Pax, die friedliche Zukunft Bagdads "offenbart" wurde, heißt Kadhimiya.

Es ist ein Viertel mit schiitischer Mehrheit, wie es immer heißt. Liest man die Blog-Notizen von Salam Pax zu seinem Besuch des Viertels, wo er Filmmaterial für seinen Videoblog im BBC-Programm "Newsnight" sammelte, kann man sich schwer vorstellen, dass dort überhaupt noch Sunniten leben. Der Zugang zum Viertel ist stark gesichert, eine eigene Geheimpolizei soll über Sicherheit im Viertel wachen, und schon ein sunnitischer Name ist ein handfestes Hindernis auf dem Weg in die "Festung" mit dem friedlichen Innenleben, das Salam Pax zu seiner Zukunftsvision von Bagdad anregte:

So people I give you the future of Baghdad. Districts will become tightly controlled fortresses that are ethnically/religiously homogeneous. Outsiders are only let in after being inspected and checked. I really want to go back to Kadhimiya but only after I get my fake Shia ID.

Und dennoch wurden vorgestern mehr als ein Dutzend Menschen von einer Granate auf einem frequentierten Markt in Kadhimiya verletzt; in anderen Stadtvierteln und in der näheren Umgebung Bagdads kamen bei Anschlägen am Freitag mindestens 16 Menschen ums Leben: Kommentatoren sehen darin eine Reaktion der Guerillas auf die großangelegte Operation "Operation forward together", die einen Tag nach dem Besuch von US-Präsident Bush im Irak begann.

Mit zusammen über 70.000 Mann wollen US-Militäreinheiten und irakische Sicherheitstruppen die chaotische Situation in der Hauptstadt unter Kontrolle bringen. "Die Terroristen können gegen ein solche Macht und Stärke nichts ausrichten", wird die eine Seite zitiert und die andere Seite, die Widerständler/Guerillos/Terroristen, beweisen wieder einmal das Gegenteil.

Zwar konnten sämtliche Großoffensiven der letzten Jahre ihr Versprechen, das "Rückgrat des Widerstands" zu brechen, nicht einlösen, aber die "Operation forward together" hängt ihre Ziele niedriger, von Turning Points ist weder auf der amerikanischen (vgl. Break Point Bagdad) noch auf der irakischen Seite die Rede. Mit zahlreichen neuen Checkpoints, mehr Patrouillen, einer rigideren Durchsetzung des Waffengesetzes, Razzien gegen terroristische Zellen, Ausgangssperren und Fahrverboten will man mehr Sicherheit schaffen, kündigte Premierminister al-Maliki an.

Die neue Regierung und die Besatzer haben durch den Sarkawi-Effekt etwas Rückenwind gewonnen und ein verhaltener Optimismus gegenüber den neuen Maßnahmen setzt sich bis zu manchen skeptischen Kommentatoren und gut gewillten Bloggern aus Bagdad fort; die große Schwierigkeit aber zeigt sich in einem kurzen Satz al-Malikis, der gegen den gegenwärtig überall lauernden Argwohn im Land gerichtet ist: "Wir haben keine sektiererische Agenda."

Die Frage ist, was kann die Regierung und deren Sicherheitskräfte, die von sektiererischen Gegnerschaften und Agendas unterminiert werden, gegen eine sektiererische Dynamik ausrichten, die in den unterschiedlichen Bagdader Viertel schon längst heimisch geworden ist?

Der große schiitische Vorort im Nordwesten Bagdads, Sadr-City, ist seit langem unter der Kontrolle von Muqtada as-Sadr und seiner Mahdi-Miliz. Jeder Versuch von amerikanischer Seite oder irakischer hier etwas Entscheidendes, geschweige denn ein Waffenverbot für die Miliz, durchzusetzen, ist bislang gescheitert. Nach Angaben eines Bloggers aus der Hauptstadt sind Vorstädte und Viertel im Westen Bagdads wie Dora, Amiriya, Ghazaliya mit sunnitischer Mehrheit unter "voller Kontrolle von radikalen Islamisten", Saidiya, Jihad, Jamia, Khadhraa und Adil unter "beinah voller Kontrolle", ihr Einfluss habe sich in den letzten Wochen auf Mansour, Yarmouk, Harthiya und Adhamiya ausgedehnt.

Keine offiziell autorisierte Information gewiß; allerdings findet sich vieles, was im Blog mit dem Namen "Healing Iraq" an lokalen Einsichten, Erlebnissen, Informationen und auch Gerüchten zu lesen war (der Blogbetreiber Zeyad hat den Irak vor kurzem verlassen, um in den USA ein Journalistikstudium zu beginnen) in einigen anderen bestätigt.

Wer Zeit dazu hat, der langen Irak-Blog-Link-Liste, die allein bei Zeyad zu finden ist, nachzugehen und sich einzelne Erlebnisse der Bagdader Ciizen Journalists durchzulesen, dem wird die Erkenntnis der Bagdader Bloggerin Riverbend - "Es ist eine etnische Säuberung am Laufen und man kann das unmöglich leugnen. Die Menschen werden nach ihren Pässen (ID-Cards) getötet" - anschaulich nahegebracht.

Manchmal reicht anscheinend schon eine zu kurze Hose, eine Jeans, eine Frau, die mit dem Handy telefoniert, Haargel oder Eisessen in der Öffentlichkeit (ganz zu Schweigen vom fehlenden Kopftuch bei Frauen), um lebensgefährliches Mißfallen bei selbsternannten Ordungshütern im Viertel zu erregen.

Mag sein und das ist die optimistischste Annahme, dass die Zeit günstig ist und die Willkürherrschaft der "Islamischen-Emirats-Gründer" in den Vierteln, die Hausbewohnern Drohzettel mit strengen Vorschriften an die Tür heften, von vagabundierenden Terroristen ausgeübt wird, die Verbindungen zu Sarkawis irakischer Qaida-Version hatten und jetzt nach dem Tod von Sarakawi leichter zu vertreiben sind.

Was aber passiert in den Vierteln, die viele Flüchtlinge aufgenommen haben - sei es aus der Anbar-Region, sei es aus Basra - , in denen die Trennung nach Religionszugehörigkeit schon weit fortgeschritten ist und eine Art sicherer Statusquo Kraft religiöser Gruppierungen etabliert ist, läßt man ihnen die Bürgerwehr und den Milizen die Waffen? Behält Salam Pax recht, könnte das künftige Bagdad dann vorwiegend aus verschiedenen Sicherheitszonen nach dem Vorbild der "Green Zone" bestehen und der Besuch eines anderen Viertels mit dem falschen Vornamen zu einer riskanten Expedition werden.