Die unsichtbaren Bilder oder der Dicke mit der Knarre im Colony Pub von Aurora
Auf der Suche nach Amerika IV
Mir scheint, dass Amerika sich verändert hat. Oder es liegt vielleicht einfach daran, dass die in meinem Kopf abgespeicherten Bilder der vergangenen Jahrzehnte so gar nicht mehr mit der erfahrenen Realität übereinstimmen wollen. Was natürlich auch an Bildern liegen mag, die einfach falsch sind. Denn: Was an gesellschaftlicher Realität aus Deutschland erfährt man, wenn man Tatort guckt?
In Oregon gibt es nicht nur ein Flugzeug-Museum in McMinnville (siehe Teil II: Von Pinkelproblemen, Nazi-Bildern und den kulturellen Symbolen des Reichtums), sondern auch in Tillamock. Am beeindruckendsten dabei ist der wahrhaft gigantische Hangar, in dem sie im Zweiten Weltkrieg Luftschiffe, sogenannte Blimps, untergebracht hatten.
Und neben diesem Hangar steht ein seltsam modernes, eher flaches Gebäude. Grün, mit hohen, schmalen, schießschartenartig aussehenden Fensteröffnungen, umgeben von Stacheldraht. Es ist eines der Gefängnisse des Staates Oregon, und wie das drüben in Washington oder in Lousiana oder in Florida umgibt es eine seltsame Aura der Unwirklichkeit. Oft stehen sie allein in der Landschaft und wirken so modern wie eine Kartonagenfabrik oder ein Lager für den Internetbuchhandel. Wären da nicht der Stacheldraht und das Flimmern der Luft über den Schächten der Klimaanlagen.
Der Eindruck ist der, dass die Kriminalität in den USA nicht mehr so sichtbar ist wie einst. Die Statistik sagt dazu: Die Mordrate ist in vielen Städten rückläufig, in New York etwa von 2000 auf 500 pro Jahr. Und es gibt insgesamt weniger Verbrechen in den USA. Und die Statistik sagt: Die Gefängnisse sind voll wie nie zuvor. Die Zahl der Insassen wuchs von 1991 auf 2008 um zwei Drittel. Man kann das so ausdrücken wie der Soziologe Loïc Wacquandt (Vier Strategien zur Eindämmung der Gefängniskosten): Die halbe Million Häftlinge, die jeden Tag über eine Schwelle der 3300 Haftanstalten in den USA treten, stammen im wesentlichen aus den farbigen Familien des Subproletariats in den großen Städten.
Draußen, im Lande, siehst du wenig davon. Auch nicht in den Kleinstädten und den Suburbs der Mittelklassen mit ihren von der Stange produzierten Reihenhäusern, die sich schneckenförmig über die Hügel und Täler der Vororte ziehen. An diesen Orten werden die anderen geboren, die Amokläufer aus der weißen Mittelschicht, die eines plötzlichen Tages losziehen und mit Pumpguns und Revolvern ihre Klassenkameraden erschießen.
Ich habe allerdings nicht viele Waffen gesehen, auch wenn an den öffentlichen Gebäuden in Helena/Montana jenes Schild mit durchgestrichener Schusswaffe hängt: Knarren sind verboten. Gilt aber nicht für die Kneipe. Während ich in der Colony Bar in Aurora/Oregon ein frittiertes Kabeljaufilet mit Krautsalat esse, tastet der Dicke an der Theke nach dem Ding an seiner rechten Seite und unter seinem grünen T-Shirt. Es ist nicht die Geldbörse, sondern eine schwarze Schusswaffe. Dann also Mahlzeit.
Omega Suites
Ich habe sie nicht gesehen, aber Lucinda Devlin hat sie fotografiert. Die 1947 geborene amerikanische Fotografin arbeitet mit einem strikt sachlich-neutralen Stil, ohne dass Menschen in ihren Bildern auftauchen. Dies gilt auch für ihre wohl berühmteste Serie, den "Omega Suites". Hinter dieser Bezeichnung verbergen sich die Aufnahmen von den Tötungsorten in Gefängnissen, die Devlin Anfang der 1990er Jahre in 22 Bundesstaaten der USA machte.
Die Bilder zeigen in bestechender Perfektion Gaskammern ("Florence, Arizona", 1992), elektrische Hinrichtungsstühle ("Atmore, Alabama", 1991), einen Galgen ("Smyrna, Delaware", 1991), die Pritschen, auf denen den Todeskandidaten das Gift injiziert wird ("Huntsville, Texas" 1992), die Zelle, in denen sie ihre letzten Stunden verbringen ("Jarratt, Virginia", 1991).
In diesen räumlichen Anordnungen ist die visuelle Perspektive eine Perspektive von höchster Evidenz: Der zum Tode Verurteilte sieht andere Dinge als sein Henker oder die Zeugen, der Blickwinkel ist wahrlich existenziell mit der "Funktion" verwoben. Und wer diesen Ort betritt, hat in der Regel "funktional" mit diesem Ort zu tun: Von den bisher angesprochenen "Protagonisten" bis zu den Ärzten, die den Tod des Delinquenten bescheinigen, den Vollzugsbeamten, die die Leiche abtransportieren, dem Reinigungspersonal und den Technikern der Firmen, welche die Tötungsmaschinen warten. Wo also jeder Blick funktional und jeder Blickwinkel äußerst bedeutsam ist, stellt sich die Frage, aus welchem Blickwinkel oder Standpunkt heraus bildet die Fotografin diese Orte ab? Sie zeigt diese Orte unter den Kriterien der Neuen Sachlichkeit: Gegenstände in zentraler Perspektive und in neutralen Lichtverhältnissen aufgenommen, eben "sachlich"; Menschen erscheinen in den Abbildungen nicht.
Ich habe diese Orte nicht gesehen und ich wüsste auch nicht, unter welcher Perspektive. Nachgefragt habe ich aber schon, bei der Besichtigung des Capitols von Pierre, der Hauptstadt von South Dakota. Der US-Bundesstaat mit seinen lediglich 800.000 Einwohnern glaubt, sich die Todesstrafe erlauben zu können. Danach zu fragen, ist aber ähnlich unangebracht wie nach dem Weg zum Klo, der hier immer nur "Restroom" heißt.
Ach ja, ich habe noch eine Schusswaffe gesehen, beim Wein-Senator von South Dakota. Der heißt eigentlich Eldon Nygaard, sitzt für die Republikaner im Senat und war früher Politik-Professor an einer örtlichen Uni. Heute mischt er im Keller seiner Verkaufsräume Weine zusammen, die zum Beispiel aus einer Traube namens "Edelweiß" stammen. Er war auch Hubschrauberpilot im Vietnamkrieg und davon zeugen im Verkaufsraum des Weingutes diverse Auszeichnungen und Medaillen – und eine Pistole.
So fährt man durch ein Land, das über viele ungesehene Bilder verfügt - und die muss man sich irgendwie dazudenken, wenn man auf den Mississippi hinabblickt oder auf die Skyline von Minneapolis. Und zu den Bildern gehören auch die abgeschotteten Räume, in den Drohnen gesteuert und in denen Datenflüsse abgehört werden. Sie werden aber leicht verdrängt durch das Bilder-Rauschen, das stetig aus den Flachbildschirmen in den Wohn- und Hotelzimmern dringt.