Die virtuelle Gesellschaft
Noch ein soziologisches Großmodell.
Die Zeit der großen Gesellschaftsentwürfe ist anscheinend noch nicht vorüber, doch die Halbwertzeiten von größeren Erklärungsmodellen sind nicht sehr lang. Informations-, Wissens-, Risiko-, Erlebnis- oder Verantwortungsgesellschaft - stets wird eine komplexe Transformationsbeschreibung der Gesellschaft versucht. Mit dem Modell der virtuellen Gesellschaft versucht der Soziologe Achim Bühl in seinem Buch, in eine direkte Konkurrenz zu Modellen des Typus "Nachindustrielle Gesellschaft" (Bell) zu treten, also zu älteren Konzepten wie der Informations- oder der Multioptionsgesellschaft.
Das qualitativ Neue der virtuellen Gesellschaft ist für Bühl die zentrale Idee der Parallelwelten, was das gleichzeitige Nebeneinanderbestehen von realen und virtuellen Räumen oder Kombinationen derselben meint, wobei der virtuelle Raum den realen überlagere, aber niemals als Ganzes ersetze. Der virtuelle Raum wird als "Gravitationszentrum" betrachtet, das auf alle gesellschaftlichen Bereiche auswirkt. So führe der Cyberspace zu einer "totalen Entkoppelung der Kommunikation in zeitlicher, räumlicher und sozialer Hinsicht". Die reale Öffentlichkeit verändere sich tiefgreifend durch den Cyberspace, vor allem unsere Raumvorstellungen würden sich gravierend wandeln. Entscheidend bleibt für ihn jedoch die stets doppelte Struktur, in der wir uns bewegen. Im Fokus von Bühls Argumentationslinie stehen ökonomischen Betrachtungen, weil gerade hier der Transformationsprozeß am deutlichsten sei: die Verlagerung von Produktions-, Distributions- und Kommunikationsbedingungen in den virtuellen Raum und das Entstehen von virtuellem Geld, was eine Neuordnung der Sozialstrukturen bedinge.
Nicht etwa die gesellschaftlichen Veränderungen durch die globale Vernetzung stehen bei Bühl im Vordergrund, auch nicht die Konvergenz von verschiedenen Medien, sondern die Virtual Reality-Technologie (VR), denn diese generiert die neuen 3 D-Räume hinter dem Bildschirm, die auch mit dem eigenen Körper begehbar (Immersion) und interaktiv gestaltbar sind. Das Internet, die Neuroinformatik und KI sind weitere wichtige Technologien, die das Modell der virtuellen Gesellschaft mitkreieren.
Bühl belegt sein Theorem mit verblüffenden Details (VR in der Psychologie etwa), allerdings bleibt es bei seinem Rundumschlag nicht aus, daß die einzelnen Bereiche nur oberflächlich angerissen werden und z.T. willkürlich ohne Verbindung aneinandergereiht werden. So geht er im Kulturkapitel auf die Dialektik von Geschwindigkeit und Stillstand (Virilio) im Geistigen und Körperlichen, auf Subjekt-Objekt-Beziehungen (Fredric Jameson) und anschließend auf Bildung und Ausbildung in Deutschland ein. Bei einem so großen Wurf verzeiht man auch kleinere Fehler wie falsche Vornamen und Berufsbezeichnungen. Die Bereiche Science Fiction, Literatur und Filme bleiben in der Abhandlung nicht außen vor und auch ein interessanter Streifzug durch die VR-Historie fehlt nicht, erfährt man doch, daß die Ursprünge von VR in den 50er-Jahren liegen.
Erstaunlicherweise gibt Bühl wenig Hypertext-Qellen in seinen Anmerkungen an, wenn er auf andere Texte Bezug nimmt, und in seinem Literaturverzeichnis finden sich überhaupt keine. Das verwundert, da gerade der Hypertext eine qualitativ neue Dimension hat. Er greift häufig auf Bücher zurück (von Vilem Flusser bis Bill Gates), und so bleibt es nicht aus, daß der Autor nicht immer auf dem neuesten Stand argumentiert.
Die einzelnen Bereiche, in denen VR angewendet wird, ergeben auch zusammen noch keine virtuelle Gesellschaft, zumal VR-Systeme noch nicht weit verbreitet sind. Der Autor sieht die volle Entfaltung der virtuellen Gesellschaft im Jahr 2000 kommen. Nach seiner Einteilung befinden wir uns derzeit in der Phase der globalen Vernetzung. Über ein Abflachen der Interneteuphorie schreibt Bühl natürlich nichts. Der Stand der Forschung ist 1996, außerdem paßt derartiges auch nicht so recht in sein Theorem. Neuere Internetfrequenz-Studien zeigen, daß sowieso nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung die Netze nutzt. Es hat fast den Anschein, als ob die Zahl kommerzieller Sites stärker steigt als die der Benutzer.
Auch die Ökobilanz der computerisierten Gesellschaft wird erwähnt, kritisch hinterfragt und beim Stichwort Telearbeit nicht, wie sonst üblich, eine Ökoentlastung festgestellt, etwa durch verringerten Personenverkehr, da der Güterverkehr steige und andere Faktoren einen möglichen positiven Effekt ausgleichen. Das fällt positiv auf, weil der Autor hier nicht der üblichen Meinung hinterhertrottet. Allgemein stellt er fest, daß nicht nur der virtuelle Verkehr den physikalischen stimuliere, sondern auch das Virtuelle insgesamt fördernd auf den realen Raum wirke. In puncto elektronische Demokratie listet Bühl ausführlich das Pro und Contra auf, ohne jedoch zu fragen, wie der allgemeine und breite Zugang zum Internet realisiert werden kann, der dafür die Grundlage wäre. Wenigstens weist der Soziologe abschließend darauf hin, daß die virtuelle Gesellschaft ein Prozeß sei, sich also nicht einfach so ergebe, sondern einem sozialen Gestaltungswillen unterliege.
Achim Bühl: Die virtuelle Gesellschaft. Ökonomie, Politik und Kultur im Zeichen des Cyberspace, Opladen/Wiesbaden, 1997, Westdeutscher Verlag, 398 S., 58 DM.