"Diese Geschichte haben alle überblättert"

Versäumnisse von Biografen und Kulturredakteuren bei der Berichterstattung über die Vergangenheit von Günter Grass

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Günter Grass auf allen Kanälen und in allen Blättern. Nie zuvor ist in deutschen Medien so oft und umfangreich über den Schriftsteller berichtet worden, wie in den vergangenen Tagen; nicht einmal nachdem er 1999 den Literaturnobelpreis für sein Lebenswerk erhalten hatte. Seit Grass am vergangenen Freitag in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung explizit auf seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS im Alter von 17 und 18 Jahren hingewiesen hat, überschlagen sich deutsche Leitmedien mit Kommentaren und moralischen Bewertungen. Dabei wäre eine Reflektion der eigenen Versäumnisse bei den selbsternannten "Kulturpäpsten" in den Redaktionen mindestens ebenso angebracht.

"Spiegel exklusiv" steht über dem Beitrag "Grass räumte als Kriegsgefangener Waffen-SS-Mitgliedschaft ein", der am Dienstag im Online-Portal des Nachrichtenmagazins veröffentlicht wurde. Darin wird behauptet, dass "bislang unbekannte Dokumente ... neu aufgetaucht" seien, die belegen würden, dass Grass direkt nach Kriegsende gegenüber amerikanischen Militärbehörden seine Angehörigkeit in der Waffen-SS zu Protokoll gegeben hatte.

Nur - diese Dokumente, aus denen jetzt "exklusiv" zitiert wird, befinden sich seit Jahrzehnten in der früheren Berliner Wehrmachtsauskunftsstelle, die jetzt "Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen" heißt. Die jetzt "enthüllten" Dokumente wären für Grass-Biografen und Kulturredakteure jederzeit einsehbar gewesen. Entweder hat niemand bislang danach gefragt - oder, was wohl noch schlimmer wäre, die Erkenntnisse über Grass' Vergangenheit wurden in Einzelfällen schlichtweg verschwiegen.

Auch der aktuelle - vermeintliche Skandal - um den vielfach preisgekrönten Schriftsteller wäre vermutlich gar nicht aufgekommen, wenn Grass in dem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht ausdrücklich auf seine frühere Mitgliedschaft in der Waffen-SS eingegangen wäre. Der Schriftsteller Maxim Biller wunderte sich in einem ZDF-Beitrag zu Recht darüber, dass die bereits vor Wochen verschickten Rezensionsexemplare der Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" in den Kulturredaktionen offenbar nur oberflächlich gelesen wurden:

Diese Geschichte mit der Waffen-SS, über die jetzt alle sprechen, haben alle überblättert.

Grass vor "Poptitan" und "Schuhkrieg"

Doch die eigenen Versäumnisse in Sachen Grass spielen in der Berichterstattung kaum eine Rolle. Vielmehr konzentrieren sich die Redaktionen auf moralische Bewertungen des späten Grass-Eingeständnisses. Sogar in BILD wurden die Eskapaden von "Poptitan" Dieter Bohlen am Strand von Mallorca und der "Schuhkrieg" zwischen DFB und seinen Nationalspielern durch den "Aufmacher" Günter Grass am Mittwoch in den Hintergrund gedrängt. Schon am Tag zuvor durfte Hitler-Biograf Joachim Fest in einem Interview mit dem Boulevardblatt verkünden:

Ich würde nicht mal mehr einen Gebrauchtwagen von diesem Mann kaufen.

Die ARD zog für ein Interview mit Günter Grass die eigentlich erst für Anfang September geplante Premiere der neuen Sendereihe mit Noch-Tagesthemen-Moderators Ulrich Wickert, "Wickerts Bücher", auf diesen Donnerstag vor. Wie aus vorab veröffentlichten Passagen zu entnehmen ist, blieb Grass auch darin auf die entscheidende Frage nach seinem späten Outing eine Antwort schuldig und verwies vielmehr auf sein Buch, das bereits am Mittwoch vorzeitig in den Handel kam.

Bei der "Abendzeitung" hatte man offenbar schon vorab ein Exemplar der Autobiografie aufgetrieben. Zumindest kündigte das Münchner Boulevardblatt am Mittwoch per Schlagzeile an: "Günter Grass: Was wirklich in seinem Buch steht". Ob sich dafür wirklich noch jemand ernsthaft interessiert?