Digitale Immigration in die Kleinkunst
Im Universum der kostenlosen Browserspiele eröffnen Spielexperimente junger Designer außerhalb der Industrie eine neue, alte Nische zwischen Spiel und (Klein-)Kunst
Das größte kommerzielle Potenzial für die Spieleindustrie liegt allen Analysen zufolge in den „Digital Immigrants“, jenen Menschen, die erst seit kurzem einen Zugang zur Welt des Computers gefunden haben. Sony bemüht sich seit Jahren mit Spielen und Spielzeugen wie EyeToy, Singstar und Buzz! um die große Zahl von Spielern abseits der traditionellen Zielgruppen jener Hardcore-Spieler, die das Universum der Computer- und Videospielindustrie von Kindesbeinen an bevölkern und andere, differenziertere und komplexere Erwartungen an die immer komplexer werdenden Erzeugnisse der Spieleindustrie knüpfen. Auch Nintendo geht mit seinem Revolution und dem neuen Konzept des Controllers vor allem auf die große Zielgruppe der Videospielneulinge ein, die trotz des gewaltigen Wachstums der Industrie immer noch das größte potenzielle Zielpublikum darstellen.
Hat man als Computernovize erst gerade eben die Welt der elektronischen Unterhaltung entdeckt, wird man von den Komplexitätswundern der Spieleindustrie eher abgeschreckt als angezogen. Auch die rein manuelle Fertigkeit, die vonnöten ist, um ein aktuelles Actionspiel zu spielen, ist den meisten der „Digital Immigrants“, die sich zum großen Teil auch aus älteren Semestern rekrutieren, nicht gerade von Natur gegeben, sondern müsste durch langes, oft frustrierendes Üben erst entwickelt werden.
Kein Wunder also, dass viele der potenziellen Neo-Spieler deshalb die Welt des hochgezüchteten, auf Highend-Hardware setzenden kommerziellen Computerspiels links liegen lassen und ihren Spieltrieb mit den kleineren Freuden befriedigen: im bescheidensten Fall mit den Windows-eigenen Arbeitszeitvernichtern Solitär und Minesweeper, doch immer mehr auch mit Browserspielen auf Flash- oder Shockwavebasis.
Die kleinen Spiele, die komplementär dazu auch durch die Spieleplattformen Handy oder Handheld-Konsolen wieder verstärkt ins allgemeine Bewusstsein gelangten, schließen dabei – wegen der relativen technischen Beschränktheit der Plattformen – spieltechnisch oft an die „Urzeiten“ des Computer- und Videospiels an. Die Zahl der kostenlosen Spiele im Internet ist inzwischen unüberschaubar, und auch die Bandbreite an Qualität ist enorm. Erfreulicherweise finden sich inzwischen auch viele unabhängige Spielproduzenten, die nicht nur Althergebrachtes, sondern oft auch Unkonventionelles, Experimentelles oder einfach komplett Neues im Gestalt kleiner Spiele veröffentlichen.
Auch die diversen Hochschulen und Lehrgänge für Computerspieldesign bringen frischen Wind in eine Industrie, die angesichts riesiger Entwicklungskosten inzwischen längst lieber Fortsetzung an Fortsetzung reiht, statt sich mit innovativen Konzepten zu beschäftigen - Ausnahmen wie Katamari Damacy beweisen, dass es wohl nicht an den mangelnden Ideen der Spieledesigner liegt, dass die meisten große Spiele zwar grafisch immer brillanter, aber konzeptmäßig immer stromlinienförmiger aussehen, sondern schlicht, wie so oft, an der Marktanalysenhörigkeit und Risikoscheu der Produzenten. Der wegen seines Überraschungserfolges zum Superstar und Spieldesign-Guru aufgestiegene Katamari-Erfinder und gelernte Bildhauer Keita Takahashi beklagte folgerichtig auch die Produktionsbedingungen der großen Spielehersteller, die Kreativität und individuellen Aufdruck oft den angeblichen Marktbedingungen opfern würden.
Doch es gibt die Welt abseits der millionenschweren Spielehersteller. Regelmäßig stattfindende „Underground-Game“-Festivals wie die Slamdance Guerrilla Gamemaker Competition oder das Universitätsprojekt Experimental Gameplay Project leisten hier Pionierarbeit, die von den Großen der Spieleindustrie nach den Erfolgen dieses Undergrounds wohl inzwischen aufmerksamer beobachtet wird. Dabei fällt auf, dass bei vielen der Spielkonzepte die Grenzen zwischen traditionellem Spiel als „Test“ des Spielers (eine Aufgabe muss gelöst werden) zur oft recht zweckfreien, aber spielerisch erfahrbaren Umgebung durchlässig werden. So bietet etwa Cloud eine liebevoll programmierte Traumerfahrung – den Menschheitstraum vom unbeschwerten Durchfliegen des Himmels –, ohne den Spieler allzusehr mit dem Lösen von Aufgaben zu behelligen.
Geflogen wurde auch schon in einem Klassiker, im grafisch wesentlich unspektakuläreren, aber dafür originellen FlyGuy, und hier zeigen sich schon die Bruchstellen des Mediums Computerspiel. Ist das schon ein Spiel – oder nur halbwegs interaktiver Zeitvertrieb? Oder ist es gar Kunst? Auch der Gewinner des diesjährigen Slamdance-Spielefestivals, Facade, lässt sich mit seiner Simulation einer Paarbeziehung schließlich überhaupt nur mehr schwer als Spiel einordnen – die Entscheidungen, die der Spieler trifft, haben Auswirkungen, die Beurteilung derselben bleibt aber auch dem Spieler überlassen – der mit dem (Beinahe-)Aussterben der Textadventures fast verschwundene Begriff der „interactive fiction“ erhält hier eine beeindruckende Neuinterpretation.
Ein weiterer Anwärter auf den Kleinkunstthron im jungen Gebiet der avancierten Browserspiele ist der 28-jährige Tscheche Jakub Dvorsky, der mit seinem jüngsten Werk Samorost 2 immerhin die Sponsoren von ProSieben auf sich aufmerksam gemacht hat. In der Tradition der großen tschechischen Trickfilmer erschafft „Samorost“ eine einfache, aber faszinierend detaillierte Welt aus Präsentation und Interaktion. Grafisch bezaubernd und musikalisch humorvoll-avanciert ist das Spiel mit seinen beschränkten Handlungsmöglichkeiten wohl für viele Nicht-Spieler die ideale Abstraktion eines Adventures. Computerspielhistoriker werden als Inspiration sofort auf Coktel Visions „Gobliins“-Reihe verweisen (vier Teile, Teil eins 1991), doch als Browserspiel kam schon Samorost 1, 2003 als Abschlussarbeit für die Filmhochschule in Brünn realisiert, der Bezeichnung „interaktive Kunst“ näher als dem Big Business der Spieleindustrie.
Tatsächlich werden die Veteranen der bislang hermetisch abgeschlossenen Hardcore-Gamerszene wohl nur mit Verachtung auf die Minimalspiele herabblicken, doch für Millionen außerhalb dieses zugegeben großen Spezialistenkreises dürften diese Spiele ein erster Zugang zum Spielen am Computer überhaupt sein. Dass dieses Segment nebenher die scheinbar feststehenden Fundamente dessen, was Spielen überhaupt bedeutet, ins Wanken bringen könnte, sollte für die Industrie-Trendscouts viel mehr von Interesse sein.
Projekte wie „Cloud“ oder The Endless Forest, sozusagen die MMORPG-Variante des experimentellen Spielens, verzichten auf fast alle definierenden Elemente herkömmlicher Spiele und verwischen so die Grenzen zum weiten, heterogenen Feld der Kunst. Dass die zu Beginn der Neunziger gehypte „Netzkunst“ aus den hermetischen Gefilden der Kunst- und Medienphilosophiehochschulen in der Form von „digialer Kleinkunst“ inzwischen in die Hände Tausender Menschen gelangt, kann als Beitrag zur Demokratisierung nur willkommen sein. Die Kreativität der „Guerrilla“-Spielprogrammierer könnte sich, die notwendige Risikobereitschaft der Großen der Spielindustrie vorausgesetzt, als Hoffnungsschimmer im ansonsten oft recht eintönigen Reigen der Shooter-Fortsetzungen und Renn-Simulationen erweisen.