Digitale Parallelwelten: Wie Smartphones die Jugend verändern

Die digitale Welt formt die Jugend neu. Smartphones prägen Wahrnehmung und Verhalten der jungen Generation. Droht eine verlorene Generation? (Teil 1)

Bereits heute ist erkennbar, dass die Wirklichkeit des dritten Jahrtausends der herrschenden Zeitrechnung mehr und mehr eine Rechner-Wirklichkeit sein wird.

Adam Deutsch, Philosoph, Essayist

Was passiert also mit (…) Kindern, die ihr erstes Smartphone (…) mit elf Jahren erhalten und dann für den Rest ihrer Teenagerjahre in der Kultur von Instagram, TikTok, Videospielen und Online-Leben sozialisiert werden?

Jonathan Haidt, Generation Angst

Wir werden nicht um eine Neudefinition der Wissensgrundlagen, um eine Neudefinition des eigentlichen Begriffs der Realität herumkommen (…).

Michel Houellebecq, Die Welt als Supermarkt

Glaubt man jüngsten Kassandrarufen, so sind wir dabei, dem Nachwuchs ein noch ganz anderes Erbe zu hinterlassen als die Glanzstücke zweifelhafter Menschenherrschaft, eine zerrissene Erde und ausgeplünderte Ressourcen.

Wir machen uns zu schaffen am Innenleben, an der Kognition, Emotion und an den nötigen Voraussetzungen für den Erwerb moralischer Kompetenzen, die Rede ist von unseren Nachfahren und deren mentaler Prägung und Verfassung.

Gespenstischer Umbau der Adoleszenz

Konkret gesagt, dank einer übermächtig (und weitgehend unkontrolliert) anwachsenden virtuellen Sphäre verändern sich signifikant Basiselemente menschlicher Wahrnehmung und Orientierung, worauf der Sozialpsychologe Jonathan Haidt ("Generation Angst") eindringlich aufmerksam macht.

Dazu gehören essenzielle Lern- und Reifeprozesse samt denjenigen strukturellen Parametern, die junge Menschen befähigen sollen, Welt-Teilhaber und -teilnehmer zu werden, um im besten Fall Mündigkeit (ein überaltertes Schlagwort, wie zu zeigen sein wird) an den Tag legen zu können.

Zumindest lassen wir das zu: In den internetbasierten Parallelwelten wandelt sich die Conditio humana unserer Jugend auf beängstigende Weise. Die schillernde Utopie einer gigantischen Leere, das ist ihr neues Zuhause. Ein verpixeltes, de-realisiertes Zuhause, eines, das den Anschein von Sein erzeugt, aber in Wahrheit unsere Kinder zu Phantomen macht.

Und der Cyber-Raum spiegelt sie, diese gewordene Welt unter ihrem Topfdeckel aus Macht, Habgier, Eitelkeit, Illusion, Neid und Apathie: Zur Übermacht der digitalen Scheinwelt gesellt sich eine unfähige Politik, die wegschaut, in unsrem Fall: Spätestens seit das Handy zum allgegenwärtigen Interface der jungen Generation wurde.

Eltern und Lehrer zucken die Achseln, jeder schiebt die Verantwortung dem anderen zu.

Die "große Neuverdrahtung"

Die Erwachsenen haben die Kontrolle abgegeben. Die klassischen Erziehungsinstanzen: Elternhaus, Schule, ein sich schrittweise erweiternder Lebenskreis, sind schleichend obsolet geworden.

Sie haben ihre Zeit hinter sich, mitsamt konstituierenden Eckpfeilern des Heranwachsens: Verlässliche (reale) Freundschaften, anhaltende Gültigkeiten, echte Begegnungen, Körperlichkeit, dazu eine Grundausstattung an humanen Werten, Sitten, Hemmschwellen.

Zu pessimistisch gedacht?

Jonathan Haidt spricht in seiner aufschreckenden Diagnose von der "große(n) Neuverdrahtung" der Jugend. Dem Professor für Sozialpsychologie in New York zufolge sind wir in einem gigantischen sozialen Experiment begriffen, in dem Heranwachsende, Kinder und Jugendliche, die Versuchskaninchen darstellen.

Es geht um die Generation Z, das heißt die nach 1995 Geborenen; es ist die Nachfolgegeneration der Millennials.

Die ältesten Vertreter dieser Generation Z, so Haidt, kamen um 2009 in die Pubertät, "als mehrere Tech-Trends zusammenliefen". Dazu zählte die Einführung des iPhone 2007. "Die letzte dieser Neuerungen", schreibt der Autor, "war die Einführung der Like- oder Share-Buttons, die die soziale Dynamik der Online-Welt verwandelten".

Der Kampf um Akzeptanz: "Sauerstoff der Adoleszenz"

Eine Dynamik, darf man sogleich ergänzen, mit mathematischer Folgerichtigkeit: Der nächstfolgende Trend mit Suchtpotenzial war die Ausstattung des Smartphones mit Frontkameras 2010, die Geburtsstunde des Selfies.

"Um in diesem Universum sozial erfolgreich zu sein", schlussfolgert Haidt, "mussten die Jugendlichen einen Großteil ihrer bewussten Aufmerksamkeit – rund um die Uhr – dem widmen, was zu ihrer Online-Marke wurde".

Dabei geht es nicht nur ums Betrachten, sondern zunehmend (und vor allem, schreibt der Autor) ums Beurteilen. Der Kampf um Akzeptanz wurde zum "Sauerstoff der Adoleszenz".

Das Zusammensein mit anderen, direkter Austausch, Spielzeiten mit Freunden oder Familienmitgliedern, Unterhaltungen mit Augenkontakt, körperliche Nähe, das sind die Dinge, die mit der allgegenwärtigen Verpixelung des Daseins im Schwinden begriffen sind.

Mit dieser Art Schwund reduzieren sich diejenigen Austauschprozesse, die wechselseitig nötig sind, um soziales Lernen eigentlich zu ermöglichen.

Was abstirbt, ist die soziale Verwurzelung in der wirklichen Welt

Die "spielbasierte Kindheit" bildet so das ideelle Gegenstück zur "smartphonebasierten Kindheit": Es war einmal.

Die Schwundprozesse betreffen die Körperlichkeit (in der Kommunikation: Fehlen körperlicher Synchronizität), Mangel an direkter Eins-zu-eins-Kommunikation / Eins-zu-mehreren-Kommunikation, schrumpfende Anteile sozialer Zugehörigkeit auf der Basis eigener und ernsthafter Anstrengung, z.B. durch aktives persönliches Investment in Beziehungen, kurzum: Was abstirbt, ist die soziale Verwurzelung in der wirklichen Welt.

Dieser Prozess einer sich grundlegend verwandelnden Adoleszenz nimmt weiter an Fahrt auf. Der Screen trennt vom Rest der Welt: Rund ein Viertel der 10- bis 17-Jährigen, nämlich 24,5 Prozent, nutzt hierzulande die virtuellen Angebote (wie Messenger- und Videodienste) "riskant viel".

Hochgerechnet seien es 1,3 Millionen Kinder, und damit dreimal so viele wie im Vor-Corona-Jahr 2019, zeigt eine DAK-Studie, die Anfang des Jahres in Hamburg vorgestellt wurde.

Diese Zahlen bedeuten aber nicht, dass die anderen drei Viertel im realen Leben verankert wären. Etwa sechs Prozent erfüllen schon Suchtkriterien; das bedeutet Derealisationsstörungen, die pathologisch werden und mit Suizidneigungen einhergehen können.

Die Betroffenen durchleben exemplarisch den Horror der Leere und des bodenlosen Falls.

Das gekaperte Selbst

Im bunten Universum der digitalen Wirklichkeiten wird das destruktive Potenzial der künstlichen Infrastrukturen offensichtlich unterschätzt: Stumme Akzeptanz allerseits. Es sind erfundene, synthetische Strukturen, die das reale Subjekt kapern und seine Einheit in instabile Bestandteile auflösen. Man weiß es, aber es formiert sich kein Widerstand.

Jan Philipp Reemtsma erfand das Bild vom Dach (Haus), das wir – vermeintlich stabil – aus Aufklärung und Zivilisation gebaut haben. Mit Balken aus Moral und Erziehung.

Diese Balken existieren im Netz nicht. Es ist ein Netz ohne Boden.

Mit all diesen Widrigkeiten vor Augen rückt der Kern der Sache in den Blick. Er betrifft zusammen mit der grundlegenden, unerbittlichen Metamorphose der Wirklichkeitsbegegnung und -auffassung (Was ist "real"?) den fortschreitenden Abbau des Subjekts, anders: derjenigen Essenz der Persönlichkeit, um deren Definition Philosophie, Sozialwissenschaften und nicht zuletzt Psychologie, heute auch moderne Disziplinen wie die Neurologie und Neuropsychologie, seit Jahrhunderten ringen.

Mit einem Ausspruch des französischen Skandalautors Michel Houellebecq möchte man so formulieren: Bis es (das vormalige Subjekt) sich wiederfindet als "irregeführter Geist auf der Suche nach dem Gewicht des Seins", nach "Tiefe, Dauerhaftigkeit, Beständigkeit" (M. Houellebecq, Die Welt als Supermarkt: Interventionen, Köln, zuerst 1999).

Permanente Beschleunigung der Wahrnehmung

Die für das Subjekt tödlichen Infrastrukturen, die das Individuum in seiner Wertigkeit zersplittern, atomisieren, deklassieren und letztendlich auflösen, samt seinem geistigen moralischen Kern, finden sich in der Hand einiger weniger Tech-Giganten, die keine Ruhe geben, bis letzte Anzeichen von Eigenständigkeit eingeebnet sind.

Es gilt die Logik des Supermarkts:

Du musst begehren. Du musst begehrenswert sein. Du musst am Wettkampf teilhaben, am Kampf, am Leben der Welt. Wenn du aufhörst, existierst du nicht mehr. Wenn du zurückbleibst, bist du tot.

M. Houellebecq, Die Welt als Supermarkt: Interventionen

Das, auf den Punkt gebracht, ist der Imperativ. Er definiert die herrschende, an die virtuellen Lehrmeister abgetretene Pädagogik, ein sich drehendes Rad, ein irisierender Lauf ohne Ziel.

Die traditionellen Instanzen von Erziehung und Sozialisation zeigen sich machtlos, haben ausgedient, sie überlassen den Raum den irrwitzigen CEOs und Entrepreneuren samt ihrem Heer von hippen Designern, Programmierern, Neuromechanikern und rastlosen Helfershelfern mit ihrer sie einigenden Vision eines digitalen Utopia.

Das Erzeugnis: Permanente Beschleunigung der Wahrnehmung, Ortlosigkeit, fluktuierende Nichtigkeit, Verlust der Mitte; systemisch gesehen, die Ermöglichung der direkten Kontrolle, vorbei an Elternhäusern und Schulen, die als tragende Säulen sozialer Erziehung und moralischer Qualifikation aufgehört haben zu existieren.

In den digitalen Parallelwelten definieren neue Autoritäten, was soziales Lernen ausmacht.

"Eine Katastrophe"

Die Reichweite und Fähigkeit der Werkzeuge wurden von allen unterschätzt. Man überließ es dem Zufall. Konkret bedeutete das: den Plattform-Designern von Silicon-Valley, die unbehelligt in die Lage versetzt waren, ihre Rückkopplungsschleifen zu etablieren, mit deren Methodik, so drückt es Haidt aus, "die Psyche gehackt" wird. Eine "Katastrophe" für die soziale Entwicklung junger Menschen, so sieht es der Psychologe.

Likes, Shares, Retweets und Comments bestimmen, was relevant ist. Junge Leute richten ihre Aufmerksamkeit auf prestigebasierte Visionen. Ein Beispiel ist die junge Alexis Spende, deren Fall im Buch von Haidt vorgestellt wird.

Ihr erstes iPad erhielt Alexis im Alter von zehn Jahren. Ihren ersten Instagram-Account mogelte sie mit Hilfe von Gleichaltrigen an ihren Eltern vorbei, jubelte bald über 127 Follower. Wow!

Doch schnell ist Schluss mit der Begeisterung. In der achten Klasse landete sie wegen Magersucht und zunehmenden Depressionen in der Klinik. Mit zwölf hat sie ein erschütterndes Bild von sich selbst gemalt. Das Bild (bei Haidt) zeigt ein Mädchen, das zusammengekauert mit zerlaufenen Augen in einer Zimmerecke hockt; in der Mitte des Zimmers liegen Laptop und Smartphone auf dem Boden, aufgeklappt, dem Betrachter zugedreht.

Die Screens beider Geräte lassen deutlich lesbar Botschaften erkennen. Auf den Laptop hat Alexis folgendes geschrieben: "worthless, die, ugly, stupid, kill yourself" (wertlos, stirb, hässlich, dumm, bring dich um). Auf den Screen des Mobiltelefons hat sie die Worte gekritzelt: "stupid, ugly, fat" (dumm, hässlich, fett).

Die vier Grundübel

Mit der Zunahme digitaler Aktivitäten nehmen die "vier grundlegenden Übel" zu. Die listet Autor Haidt folgendermaßen auf:

• Soziale Deprivation
• Schlafmangel
• Fragmentierung der Aufmerksamkeit
• Abhängigkeit (Suchtpotenzial)

Was auch ansteigt, sind suizidale Neigungen; für viele mündet die Welt der Isolation und Atomisierung (das digitale Dasein) in die Erfahrung von Machtlosigkeit, gefolgt von "sinnlosen Akten der Selbstzerstörung" (Zygmunt Bauman) - letztlich das Verlangen nach einem Ausstieg aus einem als hoffnungslos feindselig (brutal reduziert) erlebtem Universum.

Mädchen sind laut Haidts Beobachtungen mehr geschädigt als Jungen.

Im zweiten Teil werden die konkreten psychischen und sozialen Auswirkungen der digitalen Welt beleuchtet.

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