Digitalisierung der Gefühle?

Seite 4: Was sind Gefühle?

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Bei alledem bleibt die eigentliche Expertise und Einsicht in das Thema Gefühl paradoxerweise aber weitgehend außen vor. Üblicherweise werden Gefühle von ihren Trägern als etwas empfunden, was zum Intimsten des Ich gehört - obwohl sie streng genommen der Ich-Empfindung (also der Erfahrung von Ichheit) nachgeordnet sind.

Innerhalb der in der heutigen Rede sehr allgemeinen und diffusen Rede von "Gefühl" besteht ein mindestens vierfacher Unterschied, der zugleich eine qualitativ-ichhafte Abstufung darstellt: zwischen Emotion (von außen), Empfindung (von innen), Gefühl (Ich-Qualität) und höherer Wahrnehmung (subjektiv-objektive Erfahrung des Individuellsten als des Allgemeinsten).

All dies sind "Gefühle", aber sehr unterschiedlich in ihrer Wirklichkeit und in ihren Wirkungen. Alle vier manifestieren wesentliche qualitative, wenn auch ineinander übergehende Dimensionen von "Gefühl", deren Unterscheidung für die Erkenntnis des Menschlichen im Menschen zentral sind. Doch selbst solche im Prinzip einfache, altbekannte und vor allem täglich präsente Differenzierungen in der Erfahrung scheinen heutigen Forschern, vor allem aber dem mittlerweile globalisierten gesellschaftlichen Mechanismus aus technologischen, wirtschaftlichen und politisch-kulturellen Interessen, aus dem sie leben, offenbar unbekannt zu sein - oder ihre Einbeziehung gänzlich unwichtig im entstehenden globalen Geschäft mit dem Menschen.

In der heutigen Forschung zur Digitalisierung der Gefühle wird alles auf die unterste Ebene: die Emotion reduziert. Damit droht eine Enthumanisierung der Gefühle - sowohl außerhalb des Menschen durch Schein-Gefühle in Maschinen und Computern, wie im Menschen selbst durch deren Entwertung und Virtualisierung: ihre Umformung zum Tausch- und Kaufobjekt. Wenn junge Menschen, wie manche Stanford-Studenten, heute beginnen, unter dem Einfluss der Forschung ihre Gefühle als Tauschobjekte und als künstliche Artefakte zu verstehen, die ebenso von Computern und Maschinen erzeugt werden können, dann hat Erziehung das Privileg, die Ehre und die Pflicht, dem entgegenzuwirken - und das Gegenteil zu erweisen.

Die gute Nachricht ist allerdings, dass die meisten der am Werk befindlichen Forscher offenbar gar nicht wissen, was Gefühl ist, und was sie da also technisch in transhumane Behälter zu "transformieren" suchen. Das schützt den Bereich, um den es geht, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Die Frage ist allerdings, wie lange, und vor allem: ob nicht gerade dieses Nicht-Wissen mittels "eingreifenden" (intrusiven) Technologien wie Gehirnimplantaten umso schädlichere Eingriffe vornehmen wird, je weniger es von den Innendimensionen des Menschen weiß.