Digitalisierung der Gefühle?

Seite 5: Die Perspektive

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Wo liegt die Perspektive? Eine Erziehungskunst unserer Zeit wird in den kommenden Jahren angesichts der Vorstöße der Naturwissenschaften und Technologien einen besonderen Fokus auf das menschliche Gefühl legen müssen.

Was ist es? Wie hängt es mit dem individuellen Selbst zusammen? Und warum ist es, wie das Ich, das es trägt, durchdringt und überwölbt, ein unantastbarer Teil der Würde des Menschen (was die heutige Forschung völlig ignoriert, womit sie auch die Grundlage der internationalen liberalen politischen Ordnung unterminiert)? Worin unterscheidet sich das menschliche Gefühl vom möglichen rationalen "Selbstbezug" künftig "rationaler", partiell selbstlernender Maschinen, von denen man in transhumanistischen Kreisen ja erwartet, dass sie um das Jahr 2045-2050 eine Art "Singularität": das heißt eine Art Selbstbezüglichkeit und damit angeblich auch eine Art "Selbstbewusstsein" im Sinn einer Kombination von Gedächtnis mit antizipativem Verhalten entwickeln werden?

Das sind Fragen, mit denen wir uns in den kommenden Jahren werden auseinandersetzen müssen. Dabei geht es nicht nur darum, humanistisch-menschenorientierte Erziehungskunst zu verteidigen, sondern möglicherweise auch um die historische Chance, sich selbstbewusst mit den neuen "Menschentechnologien" und dem von ihnen gewünschten "Technikmenschen" auseinanderzusetzen, und dabei - über den Umweg der Negativität, jener Kraft, die "stets das Böse will und doch das Gute schafft", einem vertieften Menschenbild zum Durchbruch zu verhelfen.

Dazu kann die zentraleuropäische Ichphilosophie, etwa in der Tradition des deutschen Idealismus, eine wesentliche Anregung und ein Komplementärbeitrag zu bisher eher einseitig vorherrschenden anglo-amerikanischen Ansätzen sein. Obwohl die heutige "Gefühlswissenschaft" rasch voranschreitet, zu Recht Sorgen bereitet und auch zu Angst berechtigt, sollte die Digitalisierung der Gefühle Anlass zu verstärkt positivem Arbeiten an einem zeitgemässen Menschenbild für die Epoche technologischer Globalisierung und universaler Technologie sein.

Roland Benedikter, Dr. Dr. Dr., geboren 1965, ist Co-Leiter des Centers for Advanced Studies von Eurac Research Bozen-Bolzano, Forschungsprofessor für multidisziplinäre Politikanalyse in residence am Willy Brandt Zentrum der Universität Breslau, und Affiliate Scholar am Institute for Ethics and Emerging Technologies IEET Hartford, Connecticut. Kontakt: roland.benedikter@eurac.edu.