Digitalisierung der Gefühle?
Seite 2: Durchdringendes Computing
Als führend im zusammengehörigen Doppelvorhaben: "Computerisierung von Gefühlen" und "Entwicklung von Computergefühlen" gilt das MIT "Media Laboratory on Affective Computing" mit Dr. Rosalind Picard in Boston. Gleichzeitig kennt man heute in der Öffentlichkeit vieles an ähnlichen Bestrebungen, an dem etwa in Militärforschungslabors gearbeitet wird, (noch) nicht, insbesondere nicht, was nicht-demokratische oder autoritäre Mächte wie China oder Russland derzeit auf diesem Gebiet unternehmen. Piccard geht es bei der Digitalisierung von Gefühlen ausdrücklich um die künstliche Trennung von Gefühl und Gedanke. Sie schildert2, dass
nur weil jedes lebende intelligente System, das wir kennen, Gefühle hat, das noch lange nicht heisst, dass Intelligenz Gefühl benötigt. Obgleich Menschen die intelligentesten Systeme sind, die wir kennen, und das menschliche Gefühl eine entscheidende Rolle in der Regulierung und Lenkung von Intelligenz zu spielen scheint, heisst das nicht, dass es nicht einen besseren Weg gibt, diese Ziele in Maschinen zu implementieren. Es könnte möglich sein, dass es so etwas wie ein Steuerrad gibt, das kein präzises menschliches oder tierisches Äquivalent hat, aber etwas wie dieselben Lokomotionsziele verschaffen kann. Es kann sein, dass es ein außerirdisches (alien) intelligentes lebendes System gibt, etwas, dem wir nie begegnet sind, das seine Intelligenz erlangt, ohne irgendetwas wie Gefühl zu haben. Obwohl Menschen die wunderbarsten Beispiele der Intelligenz sind, über die wir verfügen, und obgleich wir wünschen, Systeme zu errichten, die für menschliches Verstehen natürlich sind, sollten uns diese Gründe, menschenähnliche Systeme zu bauen nicht darauf einschränken, sie nur für menschliche Fähigkeiten zu denken.
Rosalind Picard
Mit anderen Worten: Die Computerisierung der Gefühle ist nicht vorrangig für den Menschen gedacht. Und die zweite Aussage Picards: Man will Menschliches auch in nicht-menschlicher Form ein- und umsetzen. Diesen Umschlagspunkt nennt man in der aktuellen Wissenschaft auch "durchdringendes Computing" (pervasive computing).3
Der klar anti-humanistische Charakter der angestrebten Digitalisierung der Gefühle zeigt sich darin, dass sie Menschliches in Nicht-Menschliches überträgt, indem sie Gedanken von Gefühlen zu trennen sucht - und damit beide enthumanisiert. Wenn viele heute bereits davon ausgehen, dass "gefühlsbegabte Maschinen dabei sind, unsere Welt zu übernehmen"4 - und tragischerweise eben mit solcher Prognose ungewollt dazu beitragen, dies Wirklichkeit werden zu lassen, weil analytische Aussagen stets die Wirklichkeit nicht nur abspiegeln, sondern auch mitschaffen -, dann heißt das laut Picard nicht, dass die Gefühle dieser Maschinen menschliche Gefühle sind. Und auch nicht, dass sie nicht bloßer Vorwand oder Schein sind, um den Menschen "das Gefühl" zu geben, sie lebten weiterhin in einer "natürlichen" Welt.
Sie sind in der Konzeption von Forscherinnen wie Picard eher Teil eines "Interaktionsdesigns"5 - also eine Art maschinelle Ersetzung menschlicher Verständigung durch maschinelle Logiken, die den öffentlichen Raum und die Lebenswelt "übernehmen". Das eigentlich Menschliche, das gerade in der Einheit von Gedanke, Gefühl und Willen (und in der Befähigung dieser Einheit im Ichprozess zu beseelten Gedanken und "denkenden Gefühlen") liegt, wird hier ignoriert und künstlich aufgetrennt.
Der im Kern negative Charakter dieses Gesamvorhabens wird auch sichtbar, wenn die Autoren einer viel zitierten "Verfeinerungsstudie"6, Sidney D'Mello und Rafael Calvo, beispielhaft für viele andere, die sich heute professionell der Erforschung der Gefühle widmen, schreiben:
Eines der Hauptziele des Affective Computing (AC) ist es, Computerschnittstellen zu entwickeln, die automatisch die Gefühle menschlicher Nutzer aufspüren und auf sie antworten. Trotz erheblicher Fortschritte wurden bisher meist nur grundlegende Gefühle wie Zorn, Ekel und Traurigkeit hervorgehoben, während nicht-grundlegende... wie Aufregung, Langeweile, Konfusion und Frustration... weniger beachtet wurden. Dabei kamen sie bei Versuchen laut systemisch erhobenen Daten bei Generalisierung über Aufgaben, Schnittstellen und Methodologien hinweg fünfmal häufiger vor. Affective Computing wird das berücksichtigen müssen.
Sidney D'Mello and Rafael A. Calvo
Auffällig, dass sowohl die "grundlegenden" wie die "nicht-grundlegenden" Gefühle hier alles negative "Emotione"« sein sollen. Von positiven wie Zuneigung, Selbstlosigkeit, Gewissensimpulsen oder gar Liebe keine Spur. Sie würden ja auch eine Ich-Tätigkeit verlangen. Kombiniert man dies mit Picards Definition, dass "affective computing ein solches Arbeiten mit Computern ist, das sich auf Gefühle bezieht, aus ihnen hervorgeht, oder willentlich Gefühle und andere affektive Phänomene beeinflusst"7, dann scheint das Feld in der Tat in eine "affektive" Wolke gehüllt, die wenig Gutes verspricht.