Does size matter?
Zur aktuellen Konjunktur des großen Maßstabs in Architektur und Städtebau
Nicht nur IJburg bei Amsterdam oder Orestad bei Kopenhagen: Nach einigren Jahren der Bescheidenheit manifestieren viele zeitgenössische Stadterweiterungskonzepte in Europa sich wieder gerne großmaßstäblich. In der Schweiz erfreut sich beispielsweise der Wohnblock einer neuen, ungeahnten Beliebtheit: große und kompakte Volumina aus Beton. Dies provozierte unlängst in der ZEIT eine Gegenwehr: „Es geht eine Seuche um. Sie ist von wuchtiger, meist rechteckiger Gestalt, sie nistet sich in den besseren Gegenden ein und bleibt dann einfach dort. Und macht die Schweiz langweiliger.“ Verwiesen wurde beispielsweise auf die Entwicklung Neu-Oerlikon im Norden Zürichs und – als Verursacher – auf das Architektenduo Gigon/Guyer. Freilich muss man grundsätzlich eine neue Lust auf die 60er Jahre feststellen.
Mit Blick auf den seinerzeit noch unvollendeten Kölner Dom hatte 1814 kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe eine Rechtfertigung für den großen Maßstab beim Bauen gefunden: „Denn vollendet bringt ein groß gedachtes Meisterwerk erst jene Wirkung hervor, welche der außerordentliche Geist beabsichtigte: das Ungeheure fasslich zu machen. Bleibt aber ein solches Werk unausgeführt, so hat weder die Einbildungskraft Macht noch der Verstand Gewandtheit genug, das Bild oder den Begriff zu erschaffen.“
Derartige Bilder im baulich-räumlichen Sinne neu entstehen zu lassen, ist seither immer wieder versucht worden – nicht nur mittels Architektur, sondern auch, indem man das Urbane in den Fokus nahm. Ohnehin scheint das planerische Denken bezüglich der Stadt von einem Ganzheitsbild geprägt. Dazu trägt wiederum die einschlägige Historiographie nicht unwesentlich bei; sie zeigt üblicherweise die Stadt in jener Perspektive, an den uns die Vergangenheit des Städtebaus gewöhnt hat: Als Produkt von Ideen und Initiativen, als Werk weitblickender Politiker, aktiver und manchmal philanthropischer Unternehmer, als Geniestreich begabter Planer. In dieser Geschichte wären die repräsentativen Veranstaltungen des neueren Städtebaus zu benennen: Die imperialen Verwandlungen von Paris unter Napoleon III. und Baron Hausmann sowie von Wien unter Franz Joseph; oder auch Luigi Costas und Oscar Niemeyers Brasilia sowie Le Corbusiers Chandigarh, die in Beton gegossenen Apotheosen neuer „demokratischer“ Hauptstädte. All diesen Unternehmungen, so unterschiedlich, ja gegensätzlich sie im einzelnen auch waren, eignete ein gemeinsamer Wesenszug: Der Glaube an die Formbarkeit der Stadt.
Doch diese Zuversicht ist schwer erschüttert worden, der Städtebau der großen Systeme längst obsolet. Und die enzyklopädische Vollständigkeit eines flächendeckenden Plans, der vorgibt, alle Probleme auf einmal lösen zu können, erweist sich bloß als frommer Wunsch. Mag man ‚die Urbanität’ auch wortreich preisen, so wird ihr Erscheinungsbild – sieht man einmal von den oft herausgeputzten Innenstädten ab – in Fachkreisen zumeist wenig geschätzt. Polemisch nimmt man die Maßstabslosigkeit, die geschwürartigen Wucherungen der Konsumgesellschaft bzw. ihres räumlichen Ausdrucks zur Kenntnis. Die Diagnose ist für die Münchner Städtebauexpertin Sophie Wolfrum klar: „Bei der Herausbildung der zeitgenössischen Stadtlandschaften ist ein architektonisches Verständnis von Raum überhaupt kein Thema. Die Gesellschaft baut sich ihre Räume auch ohne Architekten und ohne sie mit Raumqualitäten anzureichern, welche die Architektur beisteuern könnte. Die Artikulation von Raum ist der Urbanistik abhanden gekommen.“ Gleichwohl ist ein Zurück zum „großen Plan“ und zum omnipotenten Städtebauer derzeit alles andere als realistisch. Zudem gibt es in unseren Gemeinwesen keine politische Institution, die einen solchen Kraftakt heute noch bewältigen könnte. (Selbst ein Mitterrand hat ja in seiner Kapitale letztlich nur einzelne ‘grand projets’ befördern können). Wenn man aus dem einhelligen Befund also nun die Theorie ableitet, „dass Kontingenz nicht durch architektonische Enthaltung erreicht wird, denn wirklich neutrale Räume gibt es gar nicht, sondern im Gegenteil durch architektonische Prägnanz“, so scheint das zwangsläufig einzumünden in ein urbanistisches Surrogat: Das möglichst großmaßstäbliche Projekt.
Zwar wird die Konzentration der stadtplanerischen Anstrengungen auf Schlüsselprojekte allerorts praktiziert, erweist sich aber bei näherem Hinsehen als durchaus zwiespältig. Denn die vielzitierte „Festivalisierung“ der Stadtentwicklung, die vornehmlich Großereignisse focussiert und Manpower, Fach- und Entscheidungskompetenz sowie finanzielle Ressourcen in der Hoffnung bündelt, Synergieeffekte und sichtbare, exemplarische Erfolge zu erzielen, schwebt permanent in der Gefahr, zu Lasten einer notwendigerweise breiter angelegten urbanistischen Intervention zu gehen. Und bestimmte Fragen, etwa nach Langfristperspektiven oder dem Verhältnis von symbolischem Ertrag zu realem (stadtgesellschaftlichem) Nutzen, werden lieber gar nicht erst gestellt.
Leichthändig ein Urteil über die Angemessenheit der urbanistischen Vorgehensweise zu fällen, sollte sich indes verbieten. Städte sind komplexe Phänomene. Keine Theorie oder noch so multible Kombination von analytischen Methoden können die Vielfalt dessen, was sich in einer größeren Stadt abspielt, vollständig abbilden. Selbst wenn man sich nur auf den Aspekt städtischer Raumbildung und –nutzung beschränkt, kann öffentliche Steuerung und Planung an herrschenden Bewegungen bestenfalls gewisse Ausprägungen beeinflussen.
Das war in der Vergangenheit sicherlich einfacher, wobei dem unmittelbar sinnlichen Eindruck große Bedeutung zukam. Schon der klare und formale Gegensatz zwischen Stadt und Land – verkörpert und symbolisiert bereits in der Antike durch die Stadtmauer – hat offenkundig eine starke ästhetische Wirkung gehabt. Lewis Mumford zufolge „begründete und unterstützte die Kunst mit einer Wirkung, die weit über bloße Worte hinaus ging, alles, was die neue Ordnung eingeführt hatte, um die Dimensionen des alten, rein agrarischen Raums zu ändern: vor allem die Macht der ungezügelten Phantasie selber, das Mögliche in das Wirkliche zu verwandeln und die bescheidenen Gewohnheiten des täglichen Lebens zu prachtvollen Gebilden zu vergrößern“. Es scheint dies eine bleibende Disposition zu sein, die auf Frage, wie man heute urbanistisch zu agieren habe, zurückwirkt: Eine der neuen Antworten war das Konzept von ‚Bigness’, die Vorstellung, unter den Bedingungen moderner Stadtentwicklung könne nur das sehr große, komplexe Projekt genügend Kraft entwickeln, um Weichen zu stellen, neue räumliche Ordnungen zu etablieren und Orte zu markieren.
Geprägt wurde diese Vorstellung von Rem Koolhaas, dem nimmermüden Stichwortgeber und Theorielieferanten. Er hatte in S.M.L.XL formuliert, allein Bigness verfüge über die Fähigkeit, das Problem zu lösen; sie sei der Bahnbrecher für ein Regime der Komplexität, das die geballte Intelligenz der Architektur und der ihr verwandten Disziplinen zu mobilisieren vermag. Doch ist dies ein retrospektiver Befund; und er übersieht, dass der Versuch, Größe mit Größe zu bekämpfen, in die Sackgasse führt. Denn Expansion, ständiges Wachstum, Zugewinn: Das waren die ökonomischen und gesellschaftlichen Parameter der Vergangenheit. Angesichts des demografischen Wandels, der Krise der globalen Ökonomie und der Herausforderungen der Nachhaltigkeit gelten andere Maßgaben, wie etwa Schrumpfung, Rückbau, Entschleunigung etc. – für die wiederum Bigness nicht ab ovo das probate Rezept darstellt.
Gewichtig ist indes noch ein weiterer Aspekt – nämlich Städtebau als eine bloß in ihrem Maßstab veränderte, sozusagen ‚vergrößerte’ Architektur zu begreifen. Zwar markiert es einen Unterschied, ob bauliche Großform oder großmaßstäbliche Planung gemeint ist; aber der wird gern einmal verwischt. Ende der 60er Jahre waren städtebauliche Großformen en vogue, und zugleich – oft ins Kolossale abgleitend – ein Hauptthema in den architekturtheoretischen Überlegungen, wie sie etwa Kenzo Tange, Yona Friedman oder Adolfo Natalini anstellten. Beispiel Metabolismus: Mag das Städtische, wie das Leben auch, mehrdeutig, heterogen, mitunter labyrinthisch sein – diese Architektur ist es jedenfalls nicht. Sie ist einfach nur: explizit. Allerdings läßt sich hinter dem intentierten Novum eine Raumauffassung erahnen, die man ihrerseits ‚klassisch’ nennen muss: „Wie jedes andere Kunstwerk“, so formulierten es einmal die renommierten Architekturhistoriker Tzonis und Lefaivre, „ist auch ein Bauwerk von seiner Umwelt durch die Klarheit und Geordnetheit seiner Bestandteile und durch seine eindeutige Begrenzung getrennt. Im Gegensatz zu seiner Umgebung ist es ‚vollendet und ganz’, es wirkt als ‚Einheit’. Es stellt einen Bereich ‚außerhalb’ des übrigen Universums dar.“
Freilich ist unsere Alltagswarnehmung stärker auf Abweichung konditioniert als auf das Normale. Für das Gewöhnliche genügen Intuition und halb blinde Routine; interessant ist vor allem das Außergewöhnliche. Das habituelle Desinteresse am Normalen oder Durchschnittlichen drängt eben dieses an die Peripherie auch des Handelns. Die großmaßstäblichen Block- und Zeilenstrukturen, die immer öfter im zeitgenössischen Städtebau eine Renaissance erleben, scheinen sich einerseits absetzen zu wollen von einem als ungenügend diagnostizierten „Normalzustand“, andererseits suchen sie sich als Stabilisatoren und Rückverankerungen in einem Erneuerungsprozess in Szene zu setzen. Zumal ja Städte, die sich im globalen Wettbewerb behaupten müssen, attraktive Orte mit eigenständigem Charakter anbieten wollen – und zwar mittels distinkter äußerer Gestalt. Dies aber darf man kaum je absolut setzen, sondern sollte sie vielmehr relativ betrachten – wie es etwa Fritz Schumacher in Hamburg tat. Er sah in der Suche nach einem großstädtischen Maßstab auch
das Streben nach dynamischer Betonung. In dem großen Problem, der architektonischen Massengestaltung der Großstadt ästhetischer Herr zu werden, haben wir hier nicht etwa eine Regung vor uns, die eine andere Regung zeitweise ablöst, sondern einen nächsten Schritt, der, wenn man nicht bei ihm stolpert, dem Ziel etwas näher führt. Dass wir ihn tun können, liegt nicht etwa in einer neuen ästhetischen Erkenntnis, die würde allein wenig nutzen, sondern es liegt an einer neuen Wendung in der Art des Entstehens unserer großstädtischen Wohnungsbauten (…) Sie entstehen heute nicht mehr tropfenweise. Sie entstehen heute fast ausnahmslos in ganzen Blöcken oder in anderen großen Zusammenhängen (…) Dadurch verschiebt sich die Möglichkeit der städtebaulichen Beeinflussung und damit ihr Gesichtspunkt.
Es bleibt indes ein so häufiges wie gefährliches Missverständnis, städtebauliche Planung durch reine Architektur (insbesondere spektakuläre und große und teure Architektur) ersetzen zu können. Zum einen wird mitunter eingeräumt, dass der architektonische Umgang mit Bigness nicht eben gelungen sei, und die Modelle für große Bauvorhaben sich kaum weiterentwickelt hätten in den letzen anderthalb Jahrhunderten: „Tall, we have the tower. Low, there is the potentially endless shed“ – so hieß es 2002 in der Architectural Review. Zum anderen liegt es in der Natur der Sache, dass die architektonische Großstruktur allenfalls einen (Stadt)Baustein darstellt, dessen Logik darin liegt, dass er nur für sich ‚optimiert’ wird (werden kann) und in seinem oft mangelnden Zusammenspiel mit anderen zu einem isolierten Fragment insulären Charakters zu verkommen droht.
Architektur und Städtebau mögen zwar die selben Wurzeln und viele Affinitäten haben, aber eben auch unterschiedliche Aufgaben. Allzusehr vernachlässigt die Debatte über den ‚großen Maßstab’ die Interdependenzbeziehungen zwischen den Ebenen, die Dialektik zwischen den Teilen und dem Ganzen: Gebäude werden zu Teilen des Quartiers und der Straße, Quartiere zu Teilen der Stadtstruktur, deren rückwirkenden Einflüssen sie ausgesetzt sind. Desgleichen ist durch die Verzahnung der Maßstabsebenen (Haus, Parzelle, Quartier, Stadt, Territorium) jeder Organismus gleichzeitig Ausgangspunkt und Abschluss eines Formationsprozesses. Jeder Organismus enthält Elemente unterer Ebenen und ist selbst in einen Organismus höherer Ebenen eingefügt.
Hier muss man ein wenig ausholen. Es ist ja längst offenbar – und vielfach moniert –, dass die Tradition der modernen Architektur eher Objekte entwickelt hat als Räume, dass sie sich eher mit den Problemen des gebauten Körpers beschäftigte und nur wenig mit denen des ungebauten Zwischenraums. Die Grundhaltung in den Entwürfen des 20. Jahrhunderts ist folgerichtig darauf aus, die monarchische Würde der individuellen Solitäre zu ehren, die sich dort zu ihren eigenen Gedächtnis niedergelassen haben, und ihre Besonderheiten zu kultivieren. Die programmatischen Siedlungen der Avantgarde mit ihren streng rationalistischen Zeilenbauten haben hier für alle Zeit ein Bild geprägt. Gleichwohl lassen gerade diese eine Frage offen: Wie soll man eine Stadt bauen, wenn sich alle Bauten als Objekte gebärden? Nun ist aber nicht alles Hegel’sche Dialektik, was sich als ein ”Sowohl - als auch” zwischen zwei Gegensätzen entwickelt, und auch das Ausspielen von Objekt und Raum macht nur insoweit Sinn, wenn damit eine Strategie verfolgt wird, in der die Spannweite des Gegensatzes Hinweise liefert in der Diskussion um den Stadtbegriff.
Gewiss ist der zeitgenössische Städtebau zu jenen „geschlossenen Rodungen im Niemandsland“, die der Soziologe Lucius Burckhardt den urbanistischen Entwürfen der Moderne attestierte, längst auf Distanz gegangen. Blickt man unvoreingenommen auf Europas Städte, so offenbart sich, dass der Städtebau des neuen Jahrhunderts immer dann Erfolge zeitigt, wenn er historischen Vorgaben folgt. Das gilt sogar für Almere, jene Retortenstadt in den Niederlanden, die 1978 als Auffangbecken für das überfüllte Amsterdam entstand. Die Ideale der durchgrünten Stadt trafen damals auf die Erwartungen der stadtmüden Flüchtlinge. So entstand unter der Parole „polynukleare Stadt“ ein zentrumsloses Konglomerat gesichtsloser Vororte. Doch heute besitzt das schnell wachsende Almere ein „Stadtherz“; Architekten wie SANAA, Christian de Portzampac, David Chipperfield oder Frits van Dongen schufen – basierend auf einem Masterplan der Architektengruppe OMA – ein zentrales Ensemble.
Wenngleich es, dicht an dicht, einen Querschnitt durch die Stilvielfalt der sogenannten Zweiten Moderne bietet, so atmet es doch die Vitalität einer bestimmten Stadtradition. Und in Barcelona tritt man den Beweis an, wie ein tradiertes räumliches Ordnungsgerüst auch unter heutigen Bedingungen funktioniert; es vermag unterschiedliche Modernisierungsansätze zu adaptieren, in offener und vielfältiger Weise zu organisieren. Gerade die von Ildefons Cerdà konzipierte Stadterweiterung (Eixample) war bei allem Pragmatismus eine visionäre Integrationsleistung: das rigide Blockraster von 113x113 Meter Kantenlänge und dazwischen liegenden 20 Meter breiten Straßen ermöglicht bis heute eine individuelle Ausgestaltung der Parzellen und genügt Erfordernissen der Mobilität genauso wie des Freizeitverhaltens.
Hinsichtlich des ‚großen Maßstabs’ spielt die Musik also augenscheinlich weniger in der westlichen Hemisphäre. Die Wüstenstadt Masdar City in Abu Dhabi, das Projekt Dongtan in China, das Programm Ekaterinburg bei Perm im Ural setzen Maßstäbe, denen gegenüber das BedZED-Quartier in London oder unsere Freiburger Ökoviertel sich wie Märklin-Produkte ausnehmen. Und in den Brodelküchen des explodierenden Städtewachstums von Mexiko-Stadt, São Paulo, Kairo oder Lagos wird ohnehin nicht gespielt, sondern improvisierend von Tag zu Tag am Kollaps vorbei überlebt.
Selbstredend ändern sich auch im hiesigen Kulturkreis die geltenden Vorstellungen von rationaler Ordnung, weswegen die Stadt ständiger Veränderung unterzogen wird. Das aushalten zu können, ohne seine Identität zu verlieren, muss man als Grundanforderung heutigen Städtebaus verstehen. Ausgangspunkt und zentrale Komponente ist der öffentliche Raum der Straßen und Plätze, also die Überlagerung von technischen Infrastruktur-Bausteinen einerseits und stadträumlichen Elementen andererseits. Der klar strukturierte öffentliche Raum und die komplementär dazu entstehende, zumeist blockartige Struktur haben sich nicht nur als anpassungsfähig erwiesen, sondern auch ihre Kraft zur Ordnung des Gebrauchs unter Beweis gestellt: Es geht um ein enges, symbiotisches Wechselspiel.
Nicht nur über das Verhältnis gebauter Körper zum öffentlichen Raum muß spekuliert und verhandelt werden, sondern es muß auch die Rede sein von den darin verborgenen Ansprüchen an die Stadt zwischen Innen und Außen, öffentlicher und privater Entwicklung und Entfaltung, Tradition und Innovation, Instrument und Erscheinung, dem Ideal und den Umständen. Das macht deutlich, daß die Stadt sich nicht aus der exklusiven Forderung eines „Entweder-Oder“ formuliert, sondern aus der inklusiven Suche nach dem „Sowohl - Als auch“. Ins Territoriale übersetzt heißt das soviel wie: einzelne Orte zu kreieren, die anders sind als ihre Umgebung, die sich der Auflösung widersetzen, die Ruhe-, Bezugs- und Orientierungspunkte schaffen. Mit punktuellen Interventionen könnte man identitätsstiftend sowohl nach innen als auch nach außen wirken. Brüche und Reibungen im Bild der Stadt werden durch sie nicht überformt, sondern zum ästhetischen Prinzip erklärt. Nicht gemeint ist damit, sich erneut ein „heiles Ganzes“ im Sinne übergreifender und stringenter Stadtmodelle auszudenken: Vielmehr geht es darum, die Integrität dieser Stadtteile gerade dadurch zu wahren bzw. ihre Qualitäten dadurch zur Entfaltung zu bringen, daß der bauliche Bestand verbessert wird und die wesentlichen architektonischen und städtebaulichen Veränderungen und Ergänzungen punktuell wirksam werden.
Doch muss man sehen, dass Developer und Immobilientrusts den Städtebau heute massiv beeinflussen, wenn nicht beherrschen. Sie und ihre profitorientierten Malls, Bürotürme und Entertainment-Center setzen die Maßstäbe. Agieren kommunale Institutionen, denen Gemeinwohl vor Eigenwohl gehen müsste, als Bauherren, so erweisen sie sich zunehmend gesteuert von der Ellenbogenmentalität des internationalen Städte- und Standortwettbewerbs: Kultur- und Behördenbauten ebenso wie Wohnungsbau wetteifern in erster Linie um spektakuläre Wirkungen. Doch aus Salamiplanungen entsteht noch kein Städtebau. Schon deshalb muss dieser einen Rahmen setzen, der die von Fall zu Fall richtige Balance zwischen ‚fest’ und ‚flexibel’ trifft. Die Gestaltung von tragfähigen ‚Gerüsten’ muss dabei keineswegs zu einer zwangsläufigen strukturellen Vereinheitlichung und Homogenisierung führen. Widersprüche, die heute die Stadt bestimmen, sollen nicht ‚übertüncht’ werden. Brüche und Spannungen können durchaus auch gestalterisch ihren Ausdruck finden.
Freilich muss es ein – gemeinsam getragenes – Verständnis über eine architektonische Hierarchie in der Stadt geben. Was früher öffentlich war, wurde ‚bedeutend’ gestaltet – Rathaus und Kirche in der mittelalterlichen Stadt, Postamt, Bahnhof, Schule oder Stadttheater in der Stadt des 19. Jahrhunderts. Eine solche Hierarchie, so hat es der Architekturtheoretiker Gert Kähler einmal formuliert, trage zur Verstehbarkeit der Architektur bei, weil sie Orientierung vermittelt. Verstehbarkeit wiederum gäbe dem Bürger die Chance, auch Neues einzuordnen. Jenseits aller Versuche, mit immer wieder neuen Ideologien oder primär technischen Mitteln die Probleme der Städte in den Griff zu bekommen, existieren einfache Raumdispositionen, urbanistische Bausteine und stadträumliche Elemente, mit denen auch heute noch gut umzugehen ist, wenn sie denn mit neuen Inhalten gefüllt werden. Kongenial eingesetzt, wird jedem Benutzer auch ohne geschriebene Regeln und selbst unter den Bedingungen zerstörter gesellschaftlicher Konventionen über das Leben in der Stadt klar, dass hier nicht alles an jedem Platz und zu jeder Zeit stattfinden kann.
Gemessen daran ist Bigness eher eine poetische Verklärung. Wenn Koolhaas behauptet, dass in einem von Unordnung, Fragmentierung, Loslösung und Verzicht geprägten Milieu deren Anziehungskraft in ihrer Fähigkeit liege, das Ganze wiederherzustellen, das Reale wiederzubeleben, das Kollektive neu zu erfinden und ein Maximum des Möglichen einzupflegen – dann ist das ganz schön viel auf einmal. Es beschleicht einen der Verdacht, dass nicht nur die Gesellschaft sich dem Primat des Einprägsam-Ikonischen unterordnen müssen, sondern auch die Architektur selbst. Zuviel des Guten!