Don Diego und seine Vasallen

U-Bahnhof Dülferstraße. Bild: FloSch. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Ein Auszug aus Stefan Wimmers "großem Bilderbuch der Vulkan-Vaginas"

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Ich war dabei.

(Franz Schönhuber)

2011 war das Jahr, in dem ich beim Heinzel-Verlag arbeitete, einem Yellow-Press-Magnaten in München Hasenbergl. Ich war dort tätig bei einem Männer-Magazin namens »Don Diego«, das ursprünglich einmal seinen Sitz im noblen Altschwabing gehabt hatte, in der Ära des Sparzwangs jedoch inzwischen in ein randseitiges Hochhaus-Ghetto verlegt worden war, das nur über ein Röhrensystem namens U-Bahn erreicht werden konnte. Die Fahrten in dieses Hochhaus-Ghetto waren an sich schon ein kleines Abenteuer:

Öfters hatte ich erlebt, wie in der U-Bahn Gläubige nach Mekka beteten. Ich hatte erlebt, wie Mongolen-Familien über mehrere Sitzreihen hinweg meterlange Dämmfolien aufploppen ließen, um sich an den Geräuschen zu erfreuen, ich hatte erlebt, wie türkische Gangs mit Baseballschlägern an den Sitzen entlangschredderten, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Kurz und gut: Ich hatte Szenarien gesehen, wie man sie sonst nur aus ganz harten US-Thrillern kannte - wenn gezeigt werden sollte, dass der Film in einer Gegend spielte, in der jede Hoffnung verloren war und es nur noch ums nackte Überleben ging. Und so ähnlich war es denn auch: Ich hatte keinerlei Jobperspektive und musste aus Geldmangel bei der Stange bleiben.

U-Bahnhof Dülferstraße. Bild: FloSch. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Schon acht Jahre zuvor war ich mal in einem ähnlichen Job bei der Komet Media Group angestellt gewesen - dem direkten Konkurrenz-Unternehmen des Heinzel-Verlags, und seit damals hatte sich viel geändert: Mein alter Chef liebte knallenge Boss-Anzüge und rief mehrmals am Tag »Supi!« und »Mega!«, wenn er einen Promi fürs Heft gewonnen hatte, mein neuer Chef hatte einen Hang zur österreichischen Melancholie und jammerte immer nur: »I konn diesen Job ned ausstääh’, i hob des alles satt - jede Minuten, die i in diesem Guantanamo zubring’, macht mi ferdig!«

Mein alter Chef hetzte immer mit Tschakka-Armbewegungen durch den Gang, sprang und jubelte, wenn ihm eine Vision durch den Kopf schoss, mein neuer schleppte sich gorrilla-artig durch den Flur - mit hängender Jeans, die er des öfteren mit der Faust aus seiner Arschfalte hochhieven musste. Bei meinem alten Chef konnte ich um 18 Uhr Feierabend machen, beim neuen musste ich so lange Überstunden schieben, dass mir vor Stress die Fingernägel zerkrümelten. Es war also Ansichtssache, ob die Zeiten früher oder heute besser waren.

Eines jedoch war heute eindeutig besser: Bei meinem jetzigen Job saß ich einem Kollegen gegenüber, der ein ziemlich cooler Hund war: Timmi - acht Jahre jünger als ich -, immer die gleiche Schiebermütze auf dem Eierkopf, immer einen Witz auf den Lippen. Timmi hatte fröhliche Augen, konnte hinklotzen und gut schreiben, außerdem war er schnell und zuverlässig. Das einzige, was ich nicht verstand, war: Aus irgendeinem sonderbaren Grund hatte er eine Fetisch-Beziehung zu Technik-Schnickschnack - in Fachkreisen »Gadgets« genannt -, den er immer mit modischen Ausdrücken umschrieb: »Okeeey...«, sagte er beispielsweise am Telefon, »ich hab guuute Notizen für Sie! Wir machen jetzt ’n Sommer-Gadgets-Special - acht Seiten, richtig groß, mit vielen heißen Hinguckern und Aufregern! Dafür brauchen wir warme, emotionale Produkte - haben Sie da nicht irgendwas...? Aber Vorsicht: keine schwulen Sachen! Was, Apple hat ’nen neuen iSolator? Hahahaha, wie geil ist das denn!«

Außer Timmi arbeiteten in unserer Zeitschrift noch Bertram, der Autoredakteur - ein Mann, von dem man nur wusste, dass er eine Scheidung hinter sich hatte, viel Unterhalt zahlen musste und für seine Autotests seitdem kurvige, gefährliche Pass-Straßen bevorzugte - am liebsten Pisten im Kosovo und in Mazedonien -, und dann war da noch Natty und Babs, die die Foto-Abteilung betreuten, sowie unser unmittelbarer Vorgesetzter Thierry - der Stellvertreter des Chefs -, ein widriger Langweiler, der in einem kleinen Verschlag am Anfang des Büros saß und unser aller Tun überwachte.

Doch der Grund, warum ich diese Geschichte schreibe, war jemand anderes, jemand sensationell anderes! Voilà, ein Tusch für Lavinia, die Art Directorin, Vorhang auf und Applaus! Denn hier kommt sie auch schon, immer pechschwarz gekleidet, immer supersexy, vom Zehennagel bis zum Bob! Doch während ich schwarze Outfits trug, weil ich mit jedem Tag existentialistischer wurde, kleidete sich Lavinia in diese Roben, weil sie wie eine durchtriebene, perverse Zofe wirken wollte, was ihr auch ganz gut gelang.

Lavinia war Süd-Schweizerin und stammte aus irgendeinem lichtlosen Tal in der Nähe von Bellinzona - den Namen hatte ich vergessen, wahrscheinlich Val dei Perversi -, und genauso verschattet und mysteriös war denn auch ihre ganze Psyche. Sie hatte riesige getuschte Puppen-Augen, einen mit Lippgloss beschichteten Mund und ein Lächeln süß wie Limonade. Dazu trug sie bizarre Manga-Klamotten: hohe Kimono-Schühchen, die mit Leder bezogen waren, Tüllkleider mit langen Schleppen, Strümpfe mit exzentrischen Mustern, Samt-Bustiers, Tangas und Schals, und wenn sie an einem vorbeistelzte - wie gerade jetzt -, roch es zuerst nach einer riesigen Parfümwolke, und dann nach Mastdarm und Verdammnis.

Ich sog den abgründigen Geruch ein, Lavinia rief irgendetwas in Richtung des Chef-Büros, rauschte an uns vorbei, ignorierte Thierry, grüßte Natty, nickte Timmi herablassend zu und hatte für mich nur einen sonderbaren Augenaufschlag übrig - ganz klar, denn ich hatte ihr gestern abend eine Mail geschickt, vordergründig, um sie zu bitten, mir bei einer Reportage zu helfen, in Wirklichkeit jedoch, um sie zu einem Drink einzuladen - harrharrharrharr (teuflisches Gelächter) -, und dieser sonderbare Augenaufschlag ließ hoffen, dass mein Plan aufging.

Timmi hielt in der Arbeit inne und sah Lavinia nach. Vor meiner Zeit beim Heinzel-Verlag hatte er nach einer Firmenparty mal was mit Lavinia gehabt, und das machte ihn umso faszinierender.

»Schon n’ verrücktes Huhn, diese Lavinia!«, sagte Timmi und schüttelte den Kopf. »War echt ’n heißes Ding, aber mir einfach zu gefährlich, einfach zu riskant!«

»So?«, murmelte ich leise. »Mich - würde das nicht abschrecken...«

Timmi lachte knapp auf, so als hätte ich nicht die allergeringste Ahnung, wovon ich sprach.

»Hast du nicht mal erzählt, dass man mit Lavinia alles machen kann?«, fragte ich und machte ein betont unbeteiligtes Gesicht.

»Klar!«, nickte Timmi. »Aber wer will das schon! Da kommste ja über kurz oder lang in die Klapse!«

Da ich davon überzeugt war, bessere Nerven als Timmi zu haben, eiste ich mich von meinem Arbeitsplatz los, schlich mich pfeifend zu Lavinias Büro (außer Thierry und dem Chef war sie die Einzige, die über ein eigenes Büro verfügte) und stellte mich davor. Je nach Tageslaune klang aus ihrem Büro ein zuckersüßes Lachen, oder aber ein höhnisches, blechernes Meckern, wenn sie sich wieder über einen ihrer Kunden lustig machte. Heute hörte man nur ein charmantes Gezwitscher, und ein paar Meter weiter sprach der leichenhafte Bertram ins Telefon: »Die Route nach Radostë - noch gefährlicher als die Straße nach Kičevo? Ständig tödliche Unfälle? Gut, dann komm ich übermorgen mit dem Fotografen vorbei...« Ich strich mir wie Simon LeBon meine Haarsträhnen zurück, öffnete die Tür und steckte den Kopf in Lavinias Büro.

»Allooó«, sagte Lavinia - mit starkem südlichen Akzent - und beendete ihr Handy-Gespräch.

»Naaa! Wie geht es dir? Hast du ausgeschlafen - nach dieser wilden Mail, die du mir gestern geschickt hast?«

»Jaja«, sagte ich und zwängte mich durch die Glastür in ihr Büro. »Das ist schon ’ne verrückte Sache mit dieser Reportage über die Dating-Börsen, die ich da schreiben soll...«

»Ja«, sagte Lavinia. »Das hast du mir geschrieben. Wo liegt denn das Problem?«

»Tja«, sagte ich und kratzte mich am Kopf, »aus irgendeinem Grund krieg ich keine Angebote, sondern nur Absagen. Die Frauen klicken auf mein Foto, und schon schicken sie mir einen negativen Bescheid. Ich vermute, irgendwas stimmt mit dem Bild nicht... Wenn dem so ist, müsste man einen Portrait-Fotografen beauftragen... Kannst du mal kucken, ob das Foto ok ist?«

»Na, da bin ich ja mal gespannt...«, sagte Lavinia lachend. »Hast du das Foto dabei?«

»Ja«, sagte ich und reichte ihr den Abzug. Lavinia besah ihn sich eine Weile.

»Wieso? Ist doch süß«, sagte sie. »Ein bischen bubihaft, aber ok. Höchstens die verschränkten Arme wirken etwas reserviert.«

»Als ich sie eingehakt habe, sah es nach Lustknabe aus, und mit hängenden Armen irgendwie affen-artig.«

»Das Foto ist ok«, sagte Lavinia und gab es mir zurück. »Und die schicken dir wirklich lauter Absagen?«

»Um ganz ehrlich zu sein, sogar standardisierte Absagen! Ich bekomme so Mails wie: Mitglied Soundso möchte mit Ihnen künftig nichts mehr zu tun haben - und ich muss die Reportage in drei Wochen fertig haben.«

Ich übte einen verzweifelten Hundeblick, und Lavinia nickte.

»Und was hast du für ein Pseudonym?«, fragte sie.

»Nun ja«, druckste ich herum, »da ist mir nichts Gescheites eingefallen. Mein Nickname lautet Dichterfürst

Lavinia lachte auf.

»Na, das klingt aber schrecklich. Warum hast du dir so einen übertriebenen Namen rausgesucht?«

»Ich dachte mir, dass man als Literat vielleicht bessere Chancen hat. Kehlmann und so.«

»Ja, das Ganze muss aber viel frecher rüberkommen. Eigenname mit ’nem netten Zusatz. Ingo-Super-Lover. Ingo-All-night-long. Strap-On-Ingo. Auf sowas stehen die Frauen! Nur keine falsche Bescheidenheit.«

»Ich kann mich doch nicht Strap-On-Ingo nennen!«, jaulte ich auf. »Dieses Heft wird im ganzen Verlagsgebäude gelesen! Wie steh ich denn da vor all den Angestellten in den anderen Etagen? Ich muss die doch jeden Morgen im Aufzug sehen!«

Lavinia überlegte kurz und hatte offenbar Verständnis für mein Problem.

»Na, dann nenn dich doch einfach Ingo-The-Right-One und schreib bei Beruf: Schriftsteller, bei dem die Länge stimmt...«

»Hahaha!«, sagte ich und klopfte mir auf den Schenkel. »Du bist echt ulkig! Du hast einen erstaunlichen Humor! Man könnte fast meinen, du bist auch auf solchen Seiten...«

Lavinia machte eine vieldeutige Geste - und ich sagte: »Bist du etwa auch auf solchen Seiten? Naja, egal... Um dir die Wahrheit zu sagen: Das mit der Reportage belastet mich, aber der Hauptgrund, warum ich dir geschrieben habe, war, weil ich mit dir was trinken wollte: Hast du Lust?«

»Ja«, sagte Lavinia knapp.

»Toll«, sagte ich. »Pass auf, ich kenn da eine gute Cocktailbar, lass uns doch heute nach der Arbeit dorthin gehen. Ich reservier zwei Plätze mit Tisch.«

»Wegen mir kannst du auch gerne was am Tresen reservieren...«

»Noch besser, noch besser«, sagte ich.

An dem Tag fiel mir die Arbeit leicht. Ich schickte eine Nachricht an Mitglied Fickelfe, mit der dringenden Bitte, sich umgehend zu melden (der Chef hatte telefonisch schon wieder Druck wegen der Reportage gemacht), und bat auch Strapsmausi und Gothicweib inständig um Rückmeldung.

Um 20 Uhr kam Lavinia aus ihrem Büro, sperrte die Tür ab und holte mich ab. Timmi war auf irgendeiner Gadgets-Präsentation, die Fotomädels schon lange nach Hause gegangen, nur Thierry arbeitete noch in seinem kleinen Verschlag am Anfang des Gangs, er führte irgendein Interview mit einem Sport-Promi.

Thierry war 1,50 Meter groß - also so klein, dass man sich unbehaglich fühlte, ihm gegenüberzustehen, und irgendwie schien ihn diese Tatsache zu beschäftigen. Denn bei Interviews stellte er immer Fragen wie: »Herr Ochsenknecht, was bedeutet für Sie ein - wie Sie sagen - aufrechter Gang?« Jetzt saß er im Licht der Schreibtisch-Lampe und fragte: »Herr Metzelder, wie fühlt man sich, wenn man mit Real Madrid ins Bernabéu-Stadion einmarschiert? Wächst man dann? Begreift man sich dann in anderen Größenordnungen

Jetzt, als er mich und Lavinia sah, deckte er den Telefonhörer mit der Hand zu und rief in meine Richtung:

»Hey, wo ist die redigierte Seite, die du mir schicken wolltest? Wieso ist die immer noch nicht in meinem Folder?«

»Mann, Thierry, es ist acht Uhr abends, du kriegst sie morgen früh...«

Thierry nickte unwirsch, wie jemand, der es hasste, wenn andere Menschen Spaß hatten, und wir gingen nach draußen. Im Flur hörte ich noch:

»Herr Metzelder, nochmals zum Gefühl, die Dinge sportlich zu überschauen... Könnten Sie das näher erklären?«

Ich fuhr mit Lavinia den Aufzug hinunter und wir gingen zur U-Bahn. Es war ein kurzer Weg, und Lavinias Schritt in ihren japanischen Schühchen war stacksend und fahrig.

»Wieso bist du eigentlich nie dabei, wenn wir in die Kantine gehen?«, fragte ich.

»Was soll ich dort?«, nörgelte Lavinia. »Vermisst mich jemand?«

»Naja«, sagte ich. »Ich würde mich auf alle Fälle freuen.«

»Danke«, seufzte sie. »Aber ich frag mich: Was soll ich bei diesen Menschen? Bertram kriegt seinen Mund nie auf, Timmi, Thierry, Barbara und die Anderen reden immer von diesen Auswanderersendungen, die mich nicht interessieren, und das Essen ist schlecht. Da geh ich lieber allein ins Einkaufs-Zentrum und ess ’nen Salat.«

Lavinia hatte nicht ganz unrecht. Am Tisch der Kantine wurde grundsätzlich über Serien wie Goodbye Deutschland geredet, wobei die Mädchen, Timmi und Thierry das Scheitern der Protagonisten dieser Programme immer hämisch kommentierten - Thema »Unterschichtsfernsehen«. Meines Erachtens richteten sich solche Sendungen zwar gar nicht an die sogenannte Unterschicht, sondern an genau das angstzerfressene Kleinbürgertum, mit dem ich mittags am Tisch saß, aber egal...

»Und dann geht es immer ums Sparen«, sagte Lavinia genervt, »und darum, ob der Tengelmann, der Rewe oder der Edeka teurer ist.«

Auch das stimmte - wobei man hinzufügen musste, dass Bertram beim Wort »teuer« immer leicht mit der Hand zuckte.

»Spielt Timmi eigentlich immer noch jeden Tag Lotto?«

»Ja. Aber Timmi ist ’n cooler Typ«, sagte ich.

Lavinia schüttelte den Kopf.

»Timmi ist nicht cool«, sagte sie.

»Wieso bist du eigentlich aus Bellinzona weg?«, fragte ich. »Du bist ja im Grunde auch eine Auswandererin! Doch während die Auswanderer in Goodbye Deutschland in schöne Länder ziehen, hast du dir dieses komische Land rausgesucht.«

Lavinia lachte verzweifelt auf und gestikulierte mit der Hand.

»Ich war verliebt«, sagte sie.

»Oh! Das wusste ich nicht. In wen?«

»In einen Typen aus Garmisch, der Modell bei Zimtstern war. Ich hab ihn in Zürich auf der Modemesse kennengelernt, und ich hoffe, er plumpst irgendwann in eine Gletscherspalte.«

»Wieso? Was war so schlimm mit ihm?«

»Er hat mich schamlos betrogen...«, rief Lavinia, »so dreist, dass ich heute noch rot werde! Er hatte praktisch in jedem Snowboardgebiet zwischen Hintertux und 3 Vallées eine Liebschaft, und jetzt wohnt er mit irgendeiner seiner komischen Zenzis auf der Alm und trainiert!«

»Das ist nicht schön«, sagte ich. »Da kann ich nachvollziehen, dass du sauer bist!«

»Hast du nicht auch eine Freundin?«, fragte Lavinia plötzlich. »Ich dachte, ich hätte da sowas gehört.«

»Ja«, hüstelte ich, »stimmt... Aber wir trennen uns gerade, sozusagen...«

»Sooo, ihr trennt euch gerade?«

Wir waren nun am U-Bahn-Untergeschoss Dülferstrasse angelangt. Am Bahnsteig stand Marlene, die oberste Sekretärin des Heinzel-Verlags. Marlene war lesbisch, stand 100 % auf Seiten der Verlagsleitung und hatte intern ein völlig diktatorisches Regime errichtet. Sie war nicht einmal mehr irgendwelchen Chefredakteuren gegenüber verpflichtet, Weisungen nahm sie nur von Herrn Heinzel und einer mysteriösen Eminenz entgegen, die Doc Schätzer hieß, in Köln residierte und ein enger Vertrauter von Heinzel war.

Von Doc Schätzer gab sie öfters Befehle weiter, und so klingelte bei mir regelmäßig das Telefon, mit Marlene, die dran war und sagte: »Ingo, Doc Schätzer is’ in der Leitung - er will dich sprechen!«, woraufhin eine finstere, Dr. Mabuse-artige Stimme erklang: »Hören Sie zu! Der Artikel über den Superflugzeugträger von Dick Cheney ist umgehend umzuschreiben! Er ist mit folgendem Tenor zu versehen: Dick Cheney hat niemals...!« etc. etc. Jetzt stand Marlene am Bahnsteig und redete freundlich auf eine Praktikantin vom Tiermagazin ein - wie ein netter Onkel, der Lollis verteilt.

»Und hast du dich in München halbwegs eingelebt?«, fragte ich Lavinia.

Lavinia ächzte auf.

»Klar, ich hab sogar einen Biersteinkrug und ein Dirndl mit FC Bayern-München-Rauten. Nein! Ich bereue jeden Tag, den ich in dieser Stadt bin! Harald hat mich praktisch für ein Butterbrot eingekauft, und ich hatte vorher in der Schweiz einen Super-Job! Ich war auf den besten Messen und Parties, ich war auf Du und Du mit Madonna und Sacha Cohen. Und dann kam dieser Garmischer mit seinem ehrlichen Almgesicht und seinen blonden Haaren und meinte: Lavinia, ich hätte dich so gerne an meiner Seite! Ich kann ohne dich nicht leben! Ich habe meine Siegesgewissheit verloren! Und ich habe alles stehen und liegen gelassen und bin zu seinem Saustall, in dem die Bettwäsche noch nach fremden Frauen gerochen hat. Aber das alles wird er mir teuer bezahlen!«

»Das tut mir echt leid«, sagte ich. »Ich meine, ich hab früher sicher auch mal was falsch gemacht und bin kein Engel, aber inzwischen nehm ich’s mit der Treue schon etwas genauer. Ich glaube an die Liebe.«

»Ach, Liebe...«, sagte Lavinia. »Ihr Männer wisst doch gar nicht, was Liebe ist... Es wird ewig so gehen wie die Geschichte mit dem Bären und dem Honig... Er wird immer naschen.«

Ich ging mit Lavinia ins Zephyr - meine Lieblingsbar. Der schwere, tempelartige Tresen, die anthrazitfarbenen Wände, das gelbe Schummerlicht - hier fühlte man sich einfach gut aufgehoben! Man musste nur beobachten, mit welcher Konzentration und Genauigkeit Alex, Lukas, Tom, Simon und André die Drinks komponierten, wie souverän sie einen flüssigen Geniestreich nach dem anderen aus dem Ärmel schüttelten. Lavinia bestellte einen Manhattan, und ich nahm einen Moscow Mule. Lavinia, jetzt offenbar etwas gelöster, lehnte sich gegen die Schieferplatten und sagte mit hintergründigem Lächeln:

»Na, dann schieß mal los... Was hat dir Timmi über mich erzählt?«

»Nichts«, sagte ich. »Gar nichts...«

»Wirklich?«

»Nein«, wand ich mich. »Absolut nichts.«

Lavinia lachte auf.

»Ihr Männer haltet alle zusammen. Du brauchst doch nicht zu denken, dass ich dir das glaube!« Ich nahm all meine Überredungskünste zusammen.

»Doch«, sagte ich. »Timmi meinte lediglich, dass du ein total nettes Mädchen bist.«

Lavinia ächzte auf und nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Drink.

»Ich bin, wie ich bin. An dem Tag, an dem ich was mit Timmi hatte, war Weihnachtsfeier. Ich war neu in der Firma und wollte mich amüsieren. Menschen tun an manchen Tagen Dinge, die sie an anderen Tagen nicht tun würden.«

»Da hast du recht«, sagte ich. »Ich weiß zwar nicht genau, auf was du anspielst, aber... Die Problematik ist mir bekannt.«

»Also, wenn Timmi wirklich nicht im ganzen Büro seine Sexabenteuer herumposaunt hat - wieso sitzt du dann eigentlich hier mit mir? Aus welchem Grund wolltest du, dass ich mit dir was trinken gehe?«

»Ich weiß nicht...«, sagte ich und stützte meine Hände nachdenklich aneinander. »Ich finde, du bist ’ne tolle Frau! Ich kenn dich zwar kaum, aber ich finde, du hast echt was im Kopf! Und dann lebt hier jeder so aneinander vorbei, verplempert seine Möglichkeiten, seine Chancen...«

Lavinia machte die Augen schmal.

»Aber du hast doch ’ne Freundin! Wieso flirtest du dann mit mir, wenn du eigentlich vergeben bist?«

»Ich bin - in dem Sinn nicht vergeben! Unsere Beziehung ist fast zuende. Seit ein paar Monaten hab ich das Gefühl, dass sie wieder was mit ihrem Exfreund hat... Und du, du bist so anders! Du bist so ursprünglich! Du erinnerst mich an den ersten Auslandsurlaub, den ich mit meinen Eltern gemacht habe... Wir sind da ins Tessin gefahren, und - Mann! - das war der Hammer! Diese Gerüche, dieses Essen, diese Vegetation! Und wie anders die Mädchen ausgeschaut haben! Einmal haben wir in so ’nem Grotto gegessen, und die Bedienung - ’ne ganz ’ne junge - hat mich angelächelt und...«

»Ja ja, die Grotti...«, sagte Lavinia. »Und was war dann mit der jungen Bedienung?«

»Nichts, sie hat mich einfach nur minutenlang angelächelt. Aber ich hab nächtelang nicht schlafen können, weil sie so hübsch war.«

Ich schwieg und hörte umgehend mit diesen Coming-of-Age-Schwärmereien wieder auf, weil sie ein bischen nach einem Greis klangen, der zu einem Mädchen sagte: »Fräulein, Sie erinnern mich sooooo an die junge Judy Garland!«

Dennoch waren Lavinias Kulleraugen lebhafter geworden.

»Also hättest du Lust, mit mir was anzufangen?«

»Ja. Könnte man so sagen.«

»Ganz gleich, ob du ’ne Freundin hast?«

»Nein. Es wäre mir schon lieber, wenn... äh...«

»Wenn das nicht rauskommt?«

»Nein...«, verwahrte ich mich. »Ich wollte sagen: Ich bin jetzt über ein Jahr lang treu gewesen! Also, ich mach nicht ständig irgendwelche Seitensprünge...«

Lavinia stützte ihre Hände auf den stählernen Barhocker und streckte ihren Oberkörper vor.

»Und was gefällt dir an mir besonders?«

»Deine Augen! Du hast wahnsinnig eindringliche Augen!«

»Und was noch?«

»Dein Mund! Der ist so vollippig, drollig und...«

»Ja, da passt viel rein!«, sagte Lavinia, lachte und legte ihre Hand vor den Mund - und nun war klar, dass sie von dem Drink schon einen Schwips hatte.

»Ok...«, sagte ich baff.

Und Lavinia hob die Hand und bestellte die nächsten zwei Drinks.

Als wir das Zephyr verließen, war es erstaunlich kalt geworden. Der Kälteeinbruch war zwar erst fürs Wochenende vorhergesagt gewesen, doch schon jetzt fegte ein eisiger Wind durch die Fraunhoferstraße. Die Luft hatte etwas von Hochgebirge, die Lichter in den Schaufenstern glommen kalt, und der Himmel war ohne Sterne. Lavinia hakte sich unter, wir gingen zusammen zur Straßenbahn-Haltestelle an der Fraunhoferstraße. Ich sah Lavinia kurz an und fragte:

»Was ist? Kommst du mit zu mir?«

Lavinia lachte.

»Du siehst: Es ist wie mit dem Bären. Er wird immer naschen! Er ist nie treu!«

»Nein...«, sagte ich. »Ich dachte nur, wir könnten...«

»Wir können was?«

»Wir könnten noch ’nen Wein trinken! Und Italo-Disco hören...«

»Zu dir ist es mir jetzt zu weit«, sagte Lavinia. »Und zu mir gehen wir auf gar keinen Fall!«

»Tja, dann weiß ich auch nicht...«, sagte ich und hob entschuldigend die Hände. »Was soll ich sagen? Ich hab’s probiert...«

Eine Weile standen wir in der Schneise der Fraunhoferstraße, durch die unablässig der Eiswind zog. Dann zurrte Lavinia ihren tiffany-artigen Mantel fest und sah mich plötzlich an.

»Lass uns doch da rüber gehen...«, sagte sie und deutete auf einen Hauseingang. »Da zieht der Wind nicht so...«

»Ok...«, sagte ich.

Wir gingen hinüber in den Hauseingang, der eng und von einer gelben Tellerlampe erleuchtet war. Lavinia stellte sich neben mich, kicherte und mummelte sich in ihren Mantel ein. Dann drehte sie sich plötzlich auf ihren japanischen Schühchen zu mir herum, drückte ihren Lipgloss-Mund hoch und gab mir einen Kuss. Gleichzeitig fühlte ich ihre warmen, mageren Fingern an meinem Schritt herumfummeln, sie schlüpften in meinen Hosenlatz und zogen meinen Schwanz heraus - zwischen ihren Mantel. Ich war sprachlos. Lavinia lachte auf, ich versuchte, sie zu umarmen und ihr einen heftigen Kuss zu geben, doch sie entwand sich mir wie ein Aal, glitt nach unten und nahm meinen Penis in ihren Mund. Im ungesunden Licht der Tellerlampe hatte ihr Gesicht etwas Bleiches, Teigiges.

Zwar hatte ich einen so überraschenden Erfolg nicht erhofft, doch der Ort war der völlig falsche. Die Straße war weitgehend ausgestorben, doch ab und zu gingen Menschen vorüber, gedankenverloren, allein, in sich versunken, ohne in den Eingang zu blicken. Manche zogen Hunde hinter sich her, andere sprachen auf Headsets ein. Benommen befreite ich mich aus meiner Jacke und hielt sie schützend vor Lavinia, doch die ganze Situation war absurd. Dies mochte auch daran liegen, dass unser jetziger Standort etwa 200 Meter Luftlinie von der Wohnung meiner Freundin entfernt war.

»Lavinia!«, sagte ich. »Wie wär’s, wenn wir zu mir gehen? Es ist so ungemütlich hier!«

»Gefällt dir nicht, was ich mache?«, fragte Lavinia und sah erstaunt hoch.

»Doch...«, sagte ich. »Aber es ist doch viel schöner bei mir im Bett.«

»Ich möchte aber, dass du hier kommst«, kicherte sie.

Lavinia fuhrwerkte weiter an meinem Schwanz herum, Menschen flanierten durch die neblige Dunkelheit - Greise, Pärchen, alte Türkinnen -, und ich sah vor meinem geistigen Auge bereits die Szene, die sich morgen zwischen meiner Freundin und einer ihrer Kolleginnen abspielen würde:

Kollegin: Ich hab gestern deinen Freund getroffen - auf der Fraunhoferstraße.

Freundin: S-o-o-o-o-o, wirklich? War er mit ’ner anderen Frau am Flirten?

Kollegin: Nein. Er hat sich einfach nur tüchtig einen abkauen lassen! Keine hundert Meter von deiner Haustür entfernt.

Bevor ich die weiteren Konsequenzen dieser Szene zuende denken konnte, entschied ich mich für einen Stopp.

»Lavinia...«, sagte ich freundlich. »Hier ist nicht der richtige Ort... Wir sollten zu mir gehen...«

Lavinia rappelte sich auf, ließ von meinem Penis ab und lehnte sich mit leerem, ausdruckslosem Blick an meine Brust.

»Ich mag aber nicht zu dir!«, sagte sie störrisch. »Das ist mir zu weit!«

»Es ist ein Katzensprung!«, rief ich. »Die Straßenbahn fährt rucki-zucki!«

Ich lurte um die Ecke, sah die Straßenbahn die Klenzestraße überqueren und hurtig auf die Haltestelle zusteuern. Ich zog Lavinia hastig an der Hand und trat aus dem Eingang.

»Komm!«, sagte ich und begann, auf die Haltestelle zuzulaufen. »Das schaffen wir!«

Flott fuhr die Straßenbahn die Fraunhoferstraße entlang, stoppte kurz an der Haltestelle und ruckelte mangels irgendwelcher Fahrgäste fast augenblicklich wieder los, wonach sie bimmelnd in Richtung Isarbrücke verschwand.

»Verdammt!«, rief ich und hieb gegen die Fahrplanstange. »Das war die Letzte!«

Lavinia sah mich kopfschüttelnd an, mit einem mitleidigen, fast kleinkindhaften Blick:

»Dann hätte ich dir gleich einen zuende blasen können...«, sagte sie vorwurfsvoll. »wenn du die Straßenbahn eh verpasst!«

Nach weiteren Debatten nahmen wir beide getrennt ein Taxi.

In dieser Nacht lag ich wach und dachte nach. Meine Freundin war - wie schon die meisten Abende zuvor - mit ihrer Arbeits-Clique im Schumann’s unterwegs, zusammen mit ihrem Exfreund, einem Produzenten, mit dem sie immer noch ein Techtelmechtel hatte. Ich hatte mit diesen Leuten nie etwas anfangen können, dieses ganze »Ich und Quentin letzte Nacht im Adlon...«, diese ganze Mischung aus Aufgeblasenheit und Nichtskönnen, dennoch hatte ich meiner Freundin wiederholt in den Ohren gelegen, mir einen Job in ihrer Produktionsfirma zu besorgen - allerdings ohne Erfolg. So saß ich jetzt immer noch im Heinzel-Verlag herum, bedroht von Arbeitslosigkeit, Jobverlust und Hirnerweichung - und seit 24 Stunden verliebt in Lavinia.

Lavinia hatte einfach diese erdhafte Urwüchsigkeit, diese Direktheit und Kraft. Sie war eine Naturgewalt, ähnlich wie Sophie Loren in Pane, amore e... oder Silvana Magnano in Riso amaro! Sie kannte keine Hemmungen, und wenn sie Dinge aussprach, dann so, wie ihr der Schnabel gewachsen war (»Hahaha!«, lachte ich auf. »Der Schnabel... Davon hatte ich ja schon einen kleinen Vorgeschmack bekommen...«). Ich war Lavinias querulantischem Charme schon jetzt völlig verfallen, und man konnte sagen, was man wollte: Wir waren füreinander geschaffen, wir konnten die Welt aus den Angeln heben, und je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich mit Lavinia den Ausbruch aus dem Heinzel-Verlag schaffen würde, hin zu den Sternen. Und als ich um drei Uhr nachts endlich einschlief, war ich überzeugt, dass die Zukunft einiges für uns bereit hielt. Haha! - dachte ich genüßlich - Pappa got it all worked out!, und ich hatte schon einen verdammt guten Plan.

Teil 2

Stefan Wimmer ist ein Münchner Schriftsteller und Journalist. Er schreibt regelmäßig Features für den WDR, NDR, das DeutschlandRadio und die Süddeutsche Zeitung. 2010 wurde ihm der Deutsche Radiopreis für die "beste Sendung" verliehen. Nach seinen Romanen Die 120 Tage von Tulúm und Der König von Mexiko erscheint im Juni 2015 im Blond sein neuestes Werk: - "Das große Bilderbuch der Vulkanvaginas".

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