Donbass: Mobilmachung und Evakuierungen im Rebellengebiet
Die Situation im Donbass eskaliert. In Donezk beginnt eine Mobilmachung und die Evakuierung von Zivilisten. Kiew dementiert Angriffspläne
Zwei Ereignisse traten diese Woche nicht ein, die eine totale Eskalation der Spannungen zwischen Russland und der Ukraine mit sich gebracht hätten. So blieb eine vom US-Geheimdienst CIA für Mittwoch vorhergesagte russische Invasion der Ukraine ebenso aus wie eine an Putin von seinem Parlament herangetragene Anerkennung der von der Ukraine abtrünnigen Donbass-Republiken.
Der Kreml verweigerte hier seine Unterstützung und sprach nur von einer "Prüfung" des Ersuchens der Parlamentarier. Eine Anerkennung hätte einen offenen Krieg auslösen können, da sie von den Ukrainern als Bruch der Minsker Vereinbarung angesehen worden wäre.
Mehrere russische Experten, darunter der Generaldirektor des Russischen Rates für Auswärtige Beziehungen Andrej Kortunow, hatten vor solch einem Schritt gewarnt.
Automatisierte Eskalation durch extremes Misstrauen
Dennoch entspannt sich die Situation vor Ort nicht - im Gegenteil scheint eine Eskalation selbst ohne fördernde Großereignisse wie automatisch voranzuschreiten. Ein großes Problem sind dabei die Anspannung und das Misstrauen auf beiden Seiten, die zu einem offenen Militärkonflikt führen können.
Diese Gefahr sieht etwa der russische Sicherheitsexperte Wassili Kaschin von der Russischen Akademie der Wissenschaften in einem Interview mit der Onlinezeitung Ostexperte. Er verweist dabei auf den derart entstandenen Ausbruch des Georgien-Krieges 2008 und sieht jetzt ebenfalls die Gefahr einer "unkontrollierten Eskalation" - selbst wenn die politischen Führungen auf beiden Seiten an einer solchen nicht interessiert sind.
Man könne nicht Jahr für Jahr so weitermachen wie aktuell "und denken, es passiert schon nichts".
Rebellen sprechen von Invasionsplänen der Ukrainer
Aktuell passiert vor Ort im Donbass vieles, das das massive gegenseitige Misstrauen dokumentiert. Die von der Ukraine abtrünnige "Volksrepublik" Donezk spricht von ukrainischen Invasionsplänen, die in die eigenen Hände gefallen seien, schreibt etwa die russische Zeitung Kommersant. Zweck der vorgeblichen ukrainischen Vorstoßpläne sei angeblich eine "Säuberung" des Donbass von der dortigen russischsprachigen Bevölkerung.
Die Anführer der beiden Rebellenrepubliken Pasetschnik und Puschilin reagierten prompt und verkündeten eine allgemeine Mobilmachung in ihren Machtbereich, in dem etwa 3,6 Millionen Menschen leben. Zeitgleich begann bereits am Freitag eine Evakuierung von Zivilisten nach dem Motto "Frauen, Kinder und ältere Menschen zuerst". In der Frontstadt Gorlovka fuhren die ersten Busse nach Russland bereits am gestrigen Abend ab.
Die Flüchtlinge werden im benachbarten Russland in der Grenzregion Rostow untergebracht. Dort wurde deswegen gestern bereits vom Gouverneur der Ausnahmezustand verhängt, schreibt das russische Medienportal RBK. Es handelt sich hierbei nicht um die erste Aktion dieser Art.
Auch 2014 sind vor den offenen Kampfhandlungen zu dieser Zeit viele Ostukrainer ins benachbarte Russland geflohen. Putin wies die örtlichen Behörden zur pauschalen Zahlung von 10.000 Rubel, etwa 130 Euro, an ankommende Flüchtlinge an.
Mobilmachung in Donezk und Lugansk
Im Gegensatz zu diesen Bevölkerungsgruppen sollen die Männer im Donbass nach Wunsch der örtlichen Machthaber in ihre Reihen eintreten. "Gemeinsam werden wir den für uns alle gewünschten und notwendigen Sieg erringen", heißt es in einem Dekret des Donezker Rebellenführers Puschilin, das die Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta zitiert.
Die tägliche Anzahl der bewaffneten Zwischenfälle an der Kontaktlinien zwischen den ukrainischen Regierungstruppen und den Rebellen hat sich zwischenzeitlich vervierfacht. Schuldzuweisungen gibt es dazu schon fast traditionell aus und in beiden Richtungen.
Russische Journalisten berichten davon, dass die Explosionen ukrainischer Granaten und der Gefechtslärm des Gegenfeuers der Rebellen im Gegensatz zu sonst nun auch in der Innenstadt von Donezk zu hören seien. Die noch vor einigen Wochen entspannte Stimmung in der Stadt sei nervöser geworden, der Krieg werde wieder zum täglichen Gesprächsthema der einheimischen Bevölkerung. Vorstädte in Frontnähe wirkten ausgestorben.
Angriffs-Dementi der ukrainischen Regierung
Den Vorwurf, einen Angriff auf die Rebellengebiete zu planen, weist die Ukraine heftig zurück. Außenminister Kuleba spricht von "russischer Propaganda", man widme sich im Gegensatz dazu einer "diplomatischen Lösung". Auch weitere Regierungsvertreter wie der Generalstab der ukrainischen Armee dementierten aktuelle militärische Eroberungspläne. US-Präsident Biden bekräftigte derweil seinen Glauben, dass eher ein russischer Angriff auf die Ukraine bevorstünde.
Die nächsten Tage werden zeigen, ob jetzt hier einmal die prorussische Seite in der allgemeinen Anspannung zu Unrecht auf eine "morgen ist Krieg"-Hysterie hereingefallen ist, wie gegen Mitte der Woche viele deutsche Medien aufgrund der CIA-Angaben - Biden hält ja auch jetzt noch an seinen Kriegsprognosen fest.
Das gesamte Verhalten der Beteiligten zeigt jedoch klar, wie nahe die explosive Krisenregion an einer selbstlaufenden Eskalation steht, die nicht unbedingt in Moskau oder Washington geplant sein muss. Denn wenn alle mit Waffen in der Hand und schlimmsten Annahmen über die Gegenseite auf Kohlen sitzen, ist der echte Ausbruch von Kämpfen nicht weit.