Dr. Strangelove ist zurück

Die Ukraine-Krise bringt die Atomwaffen wieder ins Spiel

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Separatisten schüren Unruhe im Osten, Putin erhält angeblich Hilferufe, Übergangs-Präsident Turtschinow bittet um die Stationierung von UN-Friedenstruppen - die Ukraine kommt auch vier Wochen nach der Annexion der Krim durch Russland nicht zur Ruhe. Die Propaganda-Rhetorik vom "neuen kalten Krieg" schaukelt sich hoch, und so wird in den USA auch die eigene militärische Verteidigungsstrategie neu diskutiert. Rufe werden laut, die eine weitreichende Erneuerung der in die Jahre gekommenen Atomwaffenflotte fordern. Kritisiert wird ebenso Obamas Traum einer nuklearfreien Welt. In Russland scheinen sie derweil die neuen alten Spannungen zwischen West und Ost zu begrüßen. Die scheinbare Lektion für die Welt: mehr Atomwaffen. Aber die Krise produziert auch Gewinner.

Vergangenes Jahr stand Barack Obama in Berlin vor der Siegessäule und sagte: "Solange es Atomwaffen gibt, sind wir nicht sicher." Damals träumte er von einer nuklearen Abrüstung ("Global Zero"), wenn Russland denn weiterhin so mitziehen würde, wie bei der Unterzeichnung des "New START"-Vertrags 2011 , mit dem sich beide Parteien einigten, bis 2018 ihre Nuklearsprengköpfe jeweils auf 1550 zu reduzieren, die Trägersysteme sollten heruntergefahren werden auf maximal 700. Aber nun wird Obamas Vision bereits zwölf Monate später mit den machtpolitischen Realitäten der Welt und ihrer verschärften Rhetorik konfrontiert.

Am selben Tag, als Mitte März das Referendum auf der Krim lief, baute sich Russlands einflussreichster Fernsehmoderator - von Putin Ende letzten Jahres persönlich zum Chef des neuen Medienunternehmens Rossiya Segodnya berufen - vor der Kamera auf und ließ verlauten: Russland sei immer noch "das einzige Land auf der Welt, das fähig ist, die USA in radioaktiven Staub zu verwandeln. Während er dies sagte, rollte hinter ihm eine Grafik von aufsteigenden Atomraketen ab und waren Bilder von Raketenbunkern zu sehen. Eine Provokation, die weniger einen atomaren Stand-off heraufbeschwören sollte, als die Welt daran zu erinnern, dass Russland noch da ist, nicht nur als Mitspieler, sondern als Lenker auf dem internationalen Politikparkett und auf Augenhöhe mit den USA. Die Reaktion in den USA ließ nicht lange auf sich warten.

Putin ist den USA voraus

Russlands Einverleibung der Krim, so der konservative Autor James S. Robbins ("This Time We Win: Revisiting the Tet Offensive"), Senior Fellow für nationale Sicherheitsfragen im American Foreign Policy Council, in einer Kolumne der US Today, zeige die Notwendigkeit einer "Aufrüstung der Raketenabwehr und einer Modernisierung der US-Atomstreitmacht".

Bezüglich der Modernisierung hat Robbins nicht unrecht. Das Nukleararsenal der USA ist größtenteils aus den 70er Jahren ("Fäule auf Atomsprengköpfen" ) und damit veraltet. Für eine Erneuerung müssten mehr als 355 Milliarden Dollar über die kommenden zehn Jahre eingerechnet werden, schätzt das Congressional Budget Office, laut eines Berichts der Nachrichtenagentur Reuters. Insgesamt würde ein "Upgrade" 1 Billion Dollar kosten.

Während Obama der Welt seine nukleare Totalabrüstung erklärte und einen von Bush Junior geplanten Raketenabwehrschirm in Polen (bodengestützte Abfangraketen) und Tschechien (Sea-Based X-Band Radarstation) stoppen ließ, unternahm dagegen Putin "wichtige Schritte um seine veraltete Atomstreitmacht zu modernisieren". Vor zwei Jahre erklärte er dann, man wäre in dieser Hinsicht dem amerikanischen Partner nun "ein Stück zuvorgekommen", und ließ darauf seine Waffen mediengerecht testen. Mit dem überraschenden Griff nach der Krim lernt "das Weiße Haus (...) jetzt, dass der Kalte Krieg vielleicht lange vorüber ist, aber dass die Regeln der Abschreckung gleich geblieben sind", so Robbins.

"Boots on the ground, bombs in the air"

In eine ähnliche Kerbe schlägt der Artikel der Defense and Strategic Policy-Expertin Michaela Doge von der konservativen Denkfabrik Heritage Foundation. Russlands Invasion mache es nun "unbedingt erforderlich", dass die USA zusammen mit der NATO ihre Kampfeinheiten, darunter die B-61-Atombombe auf Vordermann bringen. Und das Verteidigungsministerium (DoD) müsse seine Haltung gegenüber Russland hinsichtlich ihrer Nuklearstrategie neu bewerten. Gegenwärtig nämlich, so Dodge, gründe das Pentagon ihre nukleare Haltung auf der Ansicht, dass "Russland und die Vereinigten Staaten nicht länger Widersacher sind und dass sich die Chancen für eine militärische Konfrontation dramatisch verringert haben".

Tatsächlich wird Russland im kürzlich veröffentlichten, 64 Seiten starken Bericht zur Verteidigungsstrategie des Pentagon hinsichtlich einer potentiellen Gefahr für die USA und ihrer Alliierten nur in einem einzigen Absatz erwähnt (Seite 6). Zwar steht dort, dass Russlands "vielfältige Verteidigungsmodernisierungen" durchaus ein Risiko darstellen. Um das Risiko einer militärischen Fehleinschätzung zu vermeiden, wolle man Russland deshalb zu einer erhöhten Transparenz verpflichten, so das DoD. Das ist offenkundig fehlgeschlagen. "Die Krise in der Ukraine erinnert uns daran, dass die Zukunft unvorhersehbar ist, dass Kriege laufend Fehleinschätzungen unterworfen sind und dass nackte Gewalt - boots on the ground, bombs in the air - zählt", schreibt Robert J. Samuelson in der Washington Post.

Ob Obama auf Russlands Aggression mit einer Strategieänderung reagiert, wird sich zeigen, wahrscheinlich aber ist es nicht, es würde das Kollabieren seiner Global-Zero-Doktrin nach sich ziehen. Er wird also versuchen, Russland mit wirtschaftlichen und diplomatischen Winkelzügen weiter zu isolieren, um es grob auf Linie zu halten. Aber in der Politik ist das Ausnutzen des Momentums ein Faktor, den es politisch wie finanziell nicht zu vernachlässigen gilt.

"Die Räder innerhalb des Verteidigungsministerium und der militärischen Denkfabriken drehen sich bereits und man denkt darüber nach, welche indirekten Schritte unternommen werden können um ein weiteres Abenteuertum von Seiten Moskaus zu verhindern", behauptet im Forbes-Magazin Loren Thompson, Geschäftsführer vom Lexington Institute, einer Denkfabrik finanziert von Rüstungsunternehmen. Dabei hätten viele in Washington gar nicht mehr daran gedacht, Geld für eine neue Generation von Atomwaffen in die Hand nehmen zu können, schreibt Thompson. Nicht gänzlich zu Unrecht, immerhin wurde das Pentagon gerade mit drastischen Budgetkürzung belegt; für 2015 muss es ohne Kriegskasse und mit "nur" knapp 500 Milliarden Dollar auskommen, dazu kommen weitere Einsparungen in den kommenden fünf Jahren.

Jetzt aber habe Putin dieses ganze strategische Kalkül verändert, so Thompson weiter. Als Lobbyist wird er wissen, wie schnell sich aus Wunschdenken Realität formen lässt. In Zusammenarbeit mit der Politik könnte das dann so klingen: "Die Menschen beginnen die Konsequenzen eines sinkenden militärischen Profils zu erkennen", sagt der Republikaner Tom Cole, Mitglied im Unterausschuss des House of Appropriations Defense. Cole glaubt an eine öffentliche Unterstützung für ein höheres Budget des Pentagons.

Wildwuchs der Atombomben

Auch wenn viele Stimmen genau davor mit dem Argument warnen, dass mehr Geld für das Pentagon der falsche Weg sei, weil das einzig zu zwei langen Kriegen im Irak und Afghanistan geführt habe, die Seite der Besonnenheit wird es schwer haben. Die Krise in der Ukraine, schreibt in seiner US-Today Kolumne, beinhalte eine "nukleare Lektion" für den Rest der Welt. Es ist die Antwort auf die Frage, was hätte Putin getan, wenn die Ukraine Atomwaffen besäße.

Die Lektion für Staaten, welche nach atomaren Kapazitäten streben wie der Iran wäre: weitermachen. Für Staaten mit rudimentärer Kerntechnik wie Nordkorea heißt die Lektion: die Industrie weiter aufbauen. Für solche mit einem bestehendem Arsenal wie Indien und Pakistan: niemals abrüsten. Für Staaten, die rasch einen nuklearen Status erreichen könnten wie Japan ist die Aussage, eingehend über Atomwaffen nachzudenken.

James S. Robbins

Es seien unsichere Zeiten, auch in der asiatischen Region durch Chinas wachsendem territorialen Anspruch, warnte ein Atomwaffenexperte des Center for Strategic and International Studies erst Anfang des Jahres gegenüber Reuters. Unter solchen Umständen wäre es ein Fehler, die "allumfassende Sicherheitsarchitektur wegfallen zu lassen, die gegenwärtig verankert ist im US-amerikanischen nuklearem Schutzschirm." Kurzum: "Dr. Strangelove ist zurück".

Einige einflussreiche Mitglieder in Putins innerem Kreis scheinen eine "Isolation vom Westen als etwas gutes für Russland zu sehen", berichtet die Moskau-Korrespondentin der New York Times. Sie begrüßen eine Wiederbelebung der Spannungen aus dem Kalten Krieg.

Weckruf für mehr Profit

Es lässt sich also durchaus mit Sorge in die Zukunft blicken, auch weil die Obama-Administration nun vor der schwierigen Aufgabe steht, wie man den osteuropäischen Partnern wie Polen Sicherheit garantieren kann, ohne die Situation weiter eskalieren zu lassen.

Aber eine Krise ist nicht nur schlecht, sie eröffnet auch neue Perspektiven und neue Gewinner: Englands Premier Cameron will Energieunabhängigkeit von Russland und fordert deshalb alternative Erdgasförderungen in Form von Fracking. Auch im US-Kongress tauchten gerade zwei Gesetzentwürfe (H.R. 6 und S2083) auf. Es geht darum, den Export von Flüssigerdgas (LNG) so schnell wie möglich voranzutreiben, mit dem Argument, um so Europa dabei zu helfen, sich aus der Abhängigkeit von Putins Energiemonopol zu befreien. Sich diesen Gesetzen zu widersetzten, sagte einer ihrer Sponsoren, wäre, als würde man "bei einem Notruf unserer Freunde und Alliierten auflegen".

In Wirklichkeit würdem, kommentiert die Autorin Naomi Klein süffisant, unsere Freunde und Alliierten dann bei Shell und Chevron arbeiten, und gehe es um noch höhere Profite. Aber auch sie wird wissen: In unsicheren Zeiten rücken Freunde etwas enger zusammen oder nutzen die Unsicherheit dazu aus (siehe TTIP). Die New York Times nennt, was folgen könnte, eine neue Ära der "American energy diplomacy".