Drei Tage nach der Erdbeben-Katastrophe: Ausnahmezustand und Artilleriebeschuss

In den vom Krieg gebeutelten Regionen Nord- und Ostsyriens richtete auch das Erdbeben Verwüstungen an. Foto: ANF

Schnelle Hilfe für die Opfer im türkisch-syrischen Grenzgebiet leisteten vor allem Freiwillige. Deren Arbeit könnte durch Notstandsgesetze der Türkei behindert werden. In Nordsyrien weiterhin Angriffe der türkischen Armee.

Nach mehr als drei volle Tage nach dem Erdbeben der Stärke 7,7 im türkisch-syrischen Grenzgebiet schwinden die Chancen, dass trotz eisiger Temperaturen noch Überlebende aus den Trümmern geborgen werden. Mehr als 16.000 Tote wurden inzwischen gezählt. In der Türkei sprach die staatliche Katastrophenschutzbehörde Afad in der Nacht zum Donnerstag von 12.873 bestätigten Todesopfern und 62.937 Verletzten.

In einigen Ortschaften dauerte es allerdings, bis überhaupt Hilfe von staatlicher Seite ankam. Laut einem Bericht der türkisch-deutschen Zeitung Yeni Hayat (Neues Leben) waren es zunächst vor allem Freiwillige, die in der Provinz Kahramanmaraş, wo das Epizentrum des Bebens lag, halfen – auch mehr als zwei Tage danach.

"Diejenigen, die eingegriffen haben, sind alle Freiwillige. Einige von ihnen kamen aus Kayseri. Einige kamen aus Tuzla, Istanbul. Einige kamen aus Rize. Einige kamen aus Sakarya. Sie sind alle Freiwillige", sagte laut Yeni Hayat ein Anwohner vor einem eingestürzten Gebäude.

In Syrien sind nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Sana und der Hilfsorganisation Weißhelme mindestens 3.162 Menschen ums Leben gekommen. Diese Zahlen werden sich wohl im Zuge der Bergungsarbeiten weiter erhöhen. Die Not in den betroffenen Gebieten Nordsyriens hält aber den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und dessen Militär nicht von weiteren Angriffen ab.

Feldzug ohne Pause

Bereits in der Nacht zum Dienstag habe die türkische Armee begonnen, die vom Erdbeben betroffene Stadt Tel Rifat in Nordsyrien und ihre Umgebung mit Artillerie zu beschießen, berichtete die kurdische Nachrichtenagentur ANF. Hintergrund ist, dass die Regierung Erdogan das selbstverwaltete Gebiet als Operationsbasis der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) betrachtet und für sich in Anspruch nimmt, diese grenzübergreifend zu bekämpfen – Naturkatastrophen hin oder her.

Khaled Davrisch, Repräsentant der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) in Deutschland, verurteilte dieses Vorgehen aufs Schärfste: Die türkischen Angriffe kämen "in einer Situation, wo viele Menschen bereits alles durch das Erdbeben verloren haben. In dieser Zeit sollten die Menschen sich helfen und keine Kriege führen", erklärte Davrisch.

Im Umland von Tel Rifat befinde sich ein großes Flüchtlingslager für Menschen, die vor dem Krieg geflohen seien – das Agieren Erdogans sei "unmenschlich und verbrecherisch", erklärte am Mittwoch die Vorsitzende der Partei Die Linke, Janine Wissler, die in Diyarbakir auf einer Reise zu Gesprächen mit Menschenrechtsorganisationen von dem Beben überrascht worden war. "Syrien und die Türkei müssen die Grenze öffnen, um grenzüberschreitende Hilfe zu ermöglichen."

Dass Erdogan für zehn Provinzen der Türkei einen dreimonatigen Ausnahmezustand angekündigt hat, sehen Wissler und viele andere mit Besorgnis – nicht nur, weil die für den 14. Mai geplante Wahl verschoben werden könnte. Den Ausnahmezustand im Katastrophenfall regelt in der türkischen Verfassung derselbe Paragraph wie das Kriegsrecht – und das dürfte mehr Repression gegen Organisationen bedeuten, die momentan eine wichtige Rolle bei der Koordinierung der Freiwilligenarbeit spielen.

Oppositionspartei HDP will sich vorerst ganz humanitärer Hilfe widmen

So hat zum Beispiel die linke Oppositionspartei HDP (Demokratische Partei der Völker) aufgrund der Katastrophe alle klassischen Parteiaktivitäten eingestellt – "damit wir unsere ganze Energie auf die Rettungs- und Überlebensarbeit verwenden können", wie deren Abgeordnete Feleknas Uca und Hişyar Özsoy am Mittwoch erklärten.

"Wir haben einen zentralen Koordinierungsausschuss eingerichtet, um unsere Arbeit zu erleichtern, und unsere regionalen Wahlkoordinierungszentren wurden zu Krisenkoordinierungszentren umfunktioniert", gaben die HDP-Abgeordneten bekannt. An die internationale Öffentlichkeit sendeten sie einen eindringlichen Appell:

Wir rufen daher alle internationalen Institutionen, Regierungen, Organisationen und Einzelpersonen auf, uns bei der Bewältigung dieses unglaublichen Schmerzes zu unterstützen und die zerstörten Leben und Gemeinschaften wieder aufzubauen. Bitte mobilisieren Sie dringend alle Arten von Unterstützung, Solidaritätsnetzwerken und Ressourcen, die Ihnen zur Verfügung stehen.


Feleknas Uca und Hişyar Özsoy, Demokratische Partei der Völker (HDP)

Für Erdogans Regierungskoalition aus AKP und MHP ist nicht nur die HDP ein rotes Tuch, sondern jede Form der Selbstorganisierung in den überwiegend von Kurdinnen und Kurden bewohnten Gebieten suspekt. Seit Jahren versucht der türkische Staat, die Etablierung von Volksräten in diesen Gebieten zu verhindern. Mehrfach wurden bereits Bürgermeisterinnen und Bürgermeister mit HDP-Parteibuch abgesetzt.

Nun steht Erdogan unter Druck: Der Chef der landesweit stärksten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, wirft ihm persönliches Versagen vor: "Wenn jemand hauptverantwortlich für diesen Verlauf ist, dann ist es Erdogan", so Kilicdaroglu. In seiner 20-jährigen Regierungszeit habe er es versäumt, sein Land auf solch ein Beben vorzubereiten. Dieser Zusammenbruch sei "genau das Ergebnis einer systematischen Profitpolitik".

Denn dass es früher oder später Erdbeben dieser Größenordnung geben würde, war bekannt. Im August 1999 hatte ein vergleichbares Beben bereits mehr als 17.000 Menschen das Leben gekostet. Das Epizentrum war damals nur 80 Kilometer von der Altstadt Istanbuls entfernt.

Geologen und Seismologen warnten damals eindringlich vor weiteren Katastrophen dieser Art auf dem Gebiet der Türkei. Auch dem Großraum Istanbul dürfte demnach noch eines bevorstehen.

Dass auch ein im Bau befindliches Atomkraftwerk in Mersin innerhalb der Gefahrenzone liegt, könnte zu weiteren Diskussionen über den Sinn und die Risiken der Kernkraft in der Türkei führen – falls Kritikerinnen und Kritiker nicht brachial mundtot gemacht werden.

Obwohl das Parlament den Ausnahmezustand formell absegnen muss, zeigte er nach Angaben der Organisation Medico International schon vorher Wirkung: "In Urfa wurden die kurdischen Journalist:innen von Mezopotamya Ajansi und Jinnews, Mahmut Altıntaş und Sema Çağlak, festgenommen, als sie ein durch das Erdbeben eingestürztes Haus filmten", teilte der Referent für Flucht und Migration bei Medico International, Kerem Schamberger, am Mittwoch mit.

Unterdessen sind Rettungskräfte aus verschiedenen EU-Staaten in den betroffenen Gebieten der Türkei eingetroffen, in Deutschland brachte das Technische Hilfswerk Transporte mit Hilfsgütern auf den Weg.