Drogen als Instrumente - zur Anpassung?
Kritische Anmerkungen zum Vorschlag, Drogen zum Erreichen von Zielen einzusetzen
Es war ein sommerlicher Apriltag des Jahres 2018, als draußen die Menschen durch die Erlanger Innenstadt jagten, auf der Suche nach der nächsten Eisdiele oder einem kühlen Schattenplätzchen. Wir drinnen waren zur Tagung "Altered States" gekommen, mit der das Kunstpalais seine gleichnamige Ausstellung begleitete.
Vor mir sprach Christian Müller, Psychiatrieprofessor an der Erlanger Uniklinik und Spezialist für Drogensucht. Nach seinem Vortrag über "Drogen als Instrumente" würde ich referieren, dass die Unterscheidung von Genussmitteln, Drogen und Medikamenten weniger in den Substanzen begründet ist, als in der Art und Weise, wie wir darüber denken. Die Kategorie "Droge" ist ein sozial-politisches Konstrukt.
Am Vortag hatte bereits der Rechtswissenschaftler Jan Fährmann vorgetragen, wie sich unser Denken über Drogen im Laufe der Zeit sowohl politisch als auch gesellschaftlich änderte. Dass Kolonialmächte wie Großbritannien oder Frankreich einmal die größten Drogendealer gewesen waren und gegen China sogar zwei Kriege geführt hatten (1839-1842; 1856-1860), als das Land die Einfuhr von Opium verbot, hatte ich schon gehört.
Das Ausmaß, in dem mit Drogenpolitik tatsächlich Sozial- und Migrationspolitik gemacht wurde und bis heute gemacht wird, überraschte mich dann aber so sehr, dass ich Fährmann später interviewte (Mit Drogenpolitik wird Sozial- und Migrationspolitik gemacht).
Eine Menükarte für Drogen?
Hier soll es nun um Professor Müller gehen. Sein Vortrag nahm in zunehmendem Maße, diesen Eindruck hatte wohl nicht nur ich, die Gestalt einer Menükarte an. Einer Menükarte für bestimmte psychische Zustände, die sich mit dieser oder jener Droge erzielen ließen. Seine Thesen sorgten dann auch für so viel Diskussionsbedarf, dass mein Vortrag im Anschluss etwas verspätet begann.
Heute liegen mir seine Gedanken über "Die Droge als Instrument" schriftlich vor; und mir ist aufgefallen, dass er den Ansatz schon einmal 2011 in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift "Behavioral and Brain Sciences" vorgestellt hat. Auch dort fand eine rege Diskussion statt, auf die ich später noch kurz eingehen werde.
Die für meinen Kommentar wichtigsten Aussagen seien hier noch einmal zusammengefasst: Die allermeisten Menschen würden verantwortungsvoll mit Alkohol umgehen. Lediglich 15 Prozent der Alkoholkonsumenten würden als süchtig gelten. Bei illegalen Drogen sei das Verhältnis immer noch rund zwei Drittel zu einem Drittel. Selbst bei den Menschen, die einen problematischen Drogenkonsum haben, beginne es meistens mit einem vernünftigen Maß zur Erreichung bestimmter Zwecke.
Neun Zwecke
Diese Zwecke, denen das Instrument Droge dienen könne, unterteilt der Psychiater in neun Kategorien, nämlich: (1) Verbesserung sozialer Interaktionen; (2) erleichtertes Sexualverhalten; (3) Verbesserung kognitiver Leistungen beziehungsweise Verringerung von Ermüdung; (4) Verbesserung der Erholung beziehungsweise der Verarbeitung von Stress; (5) Selbstmedikation psychischer Störungen; (6) Bewusstseinserweiterung; (7) Erleben eines High-Gefühls beziehungsweise Euphorie; (8) Verbesserung der physischen Attraktivität; und schließlich (9) die Verbesserung spiritueller beziehungsweise religiöser Erfahrungen.
Auf Müllers Erklärung der neurobiologischen Wirkmechanismen der Substanzen gehe ich hier nicht weiter ein. Darüber weiß er sowieso viel mehr als ich. Manchmal schienen mir die Ausführungen aber sehr optimistisch. In der Forschungspraxis sind doch in der Regel noch viele Fragen offen, selbst bei einem alten Bekannten wie Amphetamin ("Speed").
Wir lernen nun in "Die Drogen als Instrument", dass der Mensch heutzutage sehr beschäftigt ist. Zudem müsse er sich im Arbeitsumfeld an professionelle Standards halten. Ein zu netter oder persönlicher Umgang passe dabei nicht. Und vor allem auch die Anbahnung sexueller Kontakte gehöre sich dort nicht.
Es geht um Arbeitsmoral
Interessanterweise erwähnte Müller zur Herbeiführung der professionellen Haltung am Arbeitsplatz keine Droge als Instrument. So erscheint dieser Zustand als eine Art Standardmodus der Psyche. Gemäß Erfahrungsberichten würde ich vermuten, dass ein Mittel aus der Klasse der Stimulanzien ohne halluzinogene Wirkung, vor allem Methylphenidat/Ritalin oder Amphetamin/Speed, manchen Menschen beim Fokussieren auf die Arbeit hilft und sie weniger anfällig für Ablenkungen macht, sei es die von Kollegen oder durch Nachrichtenseiten und soziale Medien.
Ich erfahre einen großen Unterschied, ob ich die Pillen nehme oder nicht. Die Menge der Arbeit, die ich erledigen kann, und wie ich mich insgesamt fühle… Es ist komisch. Ich setze mich schlicht hin und erledige, was auch immer ich erledigen muss, und werde mich nicht okay fühlen, bis ich damit fertig bin.
Eine Studentin ohne psychiatrische Diagnose über den Konsum eines typischen ADHS-Medikaments laut der Forschung von Scott Vrecko, 2013; dt. Übersetzung S. Schleim
Der Handelsname des von dieser Studentin verwendeten Medikaments lautet übrigens Adderall, ein Amphetaminprodukt. Den Namen hat sich der Erfinder in Anlehnung an "ADD All" ausgedacht: Alle sollen eine ADD-Diagnose bekommen. Ähnlich skurril hat der Ritalin-Erfinder das Mittel nach seiner Frau Rita benannt. Steinreich machte es beide Pharmakologen. ADD ist eine ältere Bezeichnung für die Aufmerksamkeitsstörung ADHS, die englisch mit ADHD abgekürzt wird (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS).
Alkohol schneidet gut ab
Doch bleiben wir bei Müllers Aufsatz. Wir lernen dort, "dass Alkohol in geringeren bis mittleren Dosen entspannende Effekte hat". Das würde uns helfen, schneller vom professionellen Arbeitsmodus in die größere Bereitschaft für soziale Interaktionen zu kommen. Da ist es nur konsequent, dass die Substanz auch als Instrument für "erleichtertes Sexualverhalten" genannt wird. Und dies sei schlichtweg nötig, so der Psychiater, "um unsere Vermehrung zu sichern".
Alkohol wird ein drittes Mal erwähnt, wo es um die Verbesserung von Erholung beziehungsweise der Stressverarbeitung geht. Und Deutsche erfahren tatsächlich immer mehr Stress (Deutsche wollen weniger Stress - doch wie?). Zum vierten Mal von den insgesamt neun unterschiedenen Zielen taucht das Mittel schließlich als Selbstmedikation leichter Angstgefühle oder Stimmungstiefs auf.
Wer sich zwischenzeitlich schon ein Bier aus dem Kühlschrank geholt oder ein Glas Wein eingeschenkt hat, der sollte aber nicht zu schnell austrinken: Denn als Beispiel für den unproblematischen Alkoholkonsum nennt der Psychiater 100ml Wein pro Tag. Das entspricht in vielen Weinregionen nicht mal einem halben Glas, das man in der Straußwirtschaft oder im Biergarten bestellen kann. Mehr als ein kleines Glas Bier (250-330ml) dürfte das auch nicht hergeben. Dann mal ein Kölsch bestellen?
Es kommt auf die Dosis an
Müller betont, dass die optimale instrumentelle Wirkung aller Drogen nur bis zu einer bestimmten Konsummenge gilt. Danach würden die Probleme überwiegen. Das ist wohl die Krux bei dem Gedanken von "Die Drogen als Instrument". Es macht aber schon einmal deutlich, wie kurzsichtig der neue Puritanismus ist, der eine stärkere Regulierung von Alkohol fordert (Brauchen wir ein Alkoholverbot?).
Dann müssten die Betroffenen schließlich andere Mittel suchen, um vergleichbare Wirkungen zu erzielen. Ob die alle gesünder wären, steht auf einem anderen Blatt. Dabei müssen "Mittel" übrigens nicht unbedingt Substanzen sein. Man kann auch an andere körperliche oder psychische Instrumente denken - Bewegung, Sport, Meditation, Yoga, gute Gespräche und so weiter. Davon abgesehen wissen wir natürlich schon lange, dass Verbote hier kaum wirken (Warum repressive Drogenpolitik nicht funktioniert).
Der Psychiatrieprofessor diskutiert analog zum Alkoholbeispiel den instrumentellen Nutzen von Substanzen wie Amphetamin/Speed, Cannabis/Marihuana, MDMA/Ecstasy, Meskalin, Methylphenidat/Ritalin, Koffein, Kokain, Nikotin, Psilocybin, LSD und anderen mehr. Die Details lassen sich bei ihm nachlesen und brauche ich hier nicht zu wiederholen. Wo mich die Offenheit von Müllers Ansatz auf den ersten Blick schockierte, begrüße ich ihn auf den zweiten Blick als Einladung zum Nachdenken.
Denn es lässt sich ja nicht von der Hand weisen, dass viele Menschen Drogen konsumieren. Warum? Eben um bestimmte Zwecke zu erreichen, die der Psychiater hier in neun Kategorien unterteilt hat. Dazu kommt jetzt aber die gesellschaftliche - oder vielleicht sollte ich besser sagen: politische - Ebene, die bestimmte Mittel dämonisiert und verbietet, also die Herstellung und den Besitz von sowie den Handel mit bestimmten Drogen bestraft.
Regulierung oder Doppelmoral?
Die (westlichen) Staaten, die, wie wir gelesen haben, früher selbst die größten Drogendealer waren, haben im Laufe des 20. Jahrhunderts vor allem unter US-amerikanischer Führung Drogen kriminalisiert (Mit Drogenpolitik wird Sozial- und Migrationspolitik gemacht). Und wie wir heute wissen ist der "War on Drugs", der sogenannte Krieg gegen die Drogen, ein großes Debakel. Sogar im von Westmächten besetzten Afghanistan blüht der Opiumhandel mehr denn je.
Auch in unserer Gesellschaft finde ich den Umgang mit den Substanzen gelinde gesagt doppelbödig: Wenn beispielsweise Leute auf Partys Amphetamin/Speed konsumieren, um länger durchzufeiern und sich dabei besser zu fühlen, dann ruft das im Extremfall die Staatsanwaltschaft auf den Plan. Wenn stimulierende Mittel andererseits aber verwendet werden, damit Schüler und Studierende besser pauken, dann finden das sogar gutbürgerliche Professorinnen und Professorinnen mit Förderung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung akzeptabel.
Oder denken wir an den Sport: Millionen erfreuen sich am Bildschirm oder in den Stadien an Spitzenleistungen. Den Sportlern winken Aufmerksamkeit, ruhmreiche Titel und Millionenverträge mit Werbepartnern. Wer aber beim Dopen ertappt wird, der wird ausgebuht und disqualifiziert. Bei entsprechender medizinischer Diagnose, denken wir wieder einmal an ADHS, darf auf Verschreibung Amphetamin/Speed oder Methylphenidat/Ritalin dann doch konsumiert werden.
Für ein aktuelles Beispiel aus der National Football League verweise ich auf die Netflix-Dokumentation "Take Your Pills". Analog gilt das auch für Schüler und Studierende, die beliebte ADHS-Medikamente konsumieren. Dabei erinnere ich noch einmal daran, dass es für psychiatrische Diagnosen nach wie vor keine objektiven Kriterien gibt (ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral).
Wunscherfüllende Medizin
Ich will jetzt zum letzten Teil meines Aufsatzes kommen und einige wesentliche ethische wie psychosoziale Aspekte ansprechen, die man meines Erachtens nicht außer Acht lassen darf, wenn man von Drogen als Instrumenten spricht:
Erst einmal müssen wir uns darüber klar werden, dass wir hier von einer anderen Medizin sprechen: Einer Medizin, die nicht primär Krankheiten heilt, sondern Wünsche erfüllt. Das nennt man in der Fachdiskussion auch "wunscherfüllende Medizin".
Wollen wir das? In der plastischen Chirurgie ist das - sozusagen als verlängerter Arm der kosmetischen Industrie - natürlich ein blühender Markt, an dem viele Frauen teilnehmen und auch immer mehr Männer nachziehen. Dass sie das wirklich glücklicher macht, bezweifle ich, wenn ich mir Diagnosezahlen zu Angststörungen, Burn-Out oder Depressionen anschaue, doch das ist eine andere Diskussion (Diagnosen psychischer Störungen steigen stark an).
Beispiel Antibabypille
Man kann aber auch an die Antibabypille denken: Abgesehen von einer kleinen Minderheit der Frauen, die wirklich starke Menstruationsbeschwerden hat, wird das Medikament zur Wunscherfüllung verschrieben und dann unter Umständen sogar von den Krankenkassen bezahlt. Die Wünsche - oder mit anderen Worten: Zwecke -, um die es hier geht, sind etwa die Verhütung von Schwangerschaften, aber auch besseres Aussehen oder effizienteres Funktionieren am Arbeitsplatz.
Die Sozialwissenschaftlerin Katrin Wegner hat das in ihrem Buch "Die Pille und ich: Vom Symbol der sexuellen Befreiung zur Lifestyle-Droge" beziehungsweise in ihrer Dokumentation in Interviews mit über 300 Frauen aus drei Generationen in Ost- wie Westdeutschland sehr schön aufgezeigt.
Ungeachtet der Rufe der zweiten bis dritten feministischen Welle, die Pille fördere die sexuelle Ausbeutung, nehmen Mädchen und Frauen verschiedenster Lebensphasen das Präparat für reinere Haut, glänzenderes Haar, größere Brüste (das ist wohl ein Trugschluss) oder um beim Studieren oder Arbeiten nicht von der Menstruation gestört zu werden. In dem Buch wird sogar ein Mädchen zitiert, das die Pille zur Verbesserung des Aussehens nahm, aber laut Wegner nicht einmal wusste, dass es sich um ein Verhütungsmittel handelt.
Kosmetische Psychiatrie?
Wunscherfüllende Medizin ist also nicht neu. Das macht die Praxis aber nicht unproblematisch. Und, wie bereits erwähnt, dürfen wir bezweifeln, ob die Erfüllung solcher Wünsche die Menschen wirklich glücklicher macht.
In einem Szenario nach Christian Müllers Ansatz könnten aber wohl Patientinnen und Patienten - oder dann vielleicht besser Kundinnen und Kunden - zum Psychiater gehen, um bestimmte psychosoziale Erfahrungen und Leistungen zu erlangen, so wie Menschen heute zum kosmetischen Chirurgen gehen. Meines Wissens war es erstmals der US-amerikanische Neurologieprofessor Anjan Chatterjee von der University of Pennsylvania, der 2004 den Begriff einer "kosmetischen Neurologie" prägte. Auf das traditionelle Konkurrenzverhältnis zwischen Neurologen und Psychiatern - früher gab es noch den "Nervenarzt" als Zwischenkategorie - gehe ich hier nicht näher ein.
Der für mich wichtigste Punkt, wenn man von Drogen als Instrumenten spricht, liegt für mich aber in der Autonomie. Mit anderen Worten: Wir können also mit bestimmten Substanzen bestimmte Zwecke erzielen. Doch wer oder was gibt diese Zwecke vor?
In Müllers Aufsatz fällt mir auf, wie er immerhin vierzehnmal mit dem Begriff "Zeit" beziehungsweise der "Freizeit" spielt. Wir müssten beispielsweise vom professionellen Arbeitsmodus in den sozialeren Modus wechseln. Dafür fehle es aber an Zeit. Daher ginge das mit Alkohol, Amphetamin/Speed, Cannabis/Marihuana, MDMA/Ecstasy, Methylphenidat/Ritalin oder Koffein besser, nämlich schneller.
Zeit und Beschleunigung
Die Welt, von der der Psychiatrieprofessor ausgeht, ist also eine, in der die Ressource "Zeit" sehr knapp ist. Das glaube ich jemandem sofort, der sowohl als Wissenschaftler als auch als Arzt Karriere gemacht hat. Ist das aber eine Welt, wie sie sein sollte, oder liegt hier nicht vielmehr das eigentliche Problem?
Wie erwähnt, immer mehr Deutsche fühlen sich sowieso schon gestresst (Deutsche wollen weniger Stress - doch wie?), psychische Störungen werden immer häufiger diagnostiziert (Diagnosen psychischer Störungen steigen stark an) und auch der allgemeine Krankenstand nimmt zu (Die Deutschen sind kränker denn je). Und diese Entwicklungen finden wohlgemerkt statt, obwohl heute schon ein Vielfaches an Psychopharmaka/Drogen und anderen Medikamenten verschrieben wird, immer mehr Menschen von Coaching oder Psychotherapie Gebrauch machen und sich in schier endloser Selbstoptimierung üben (Der Preis fürs "perfekte Leben").
Solche Bemerkungen werden vor allem von gutbürgerlicher Seite schnell als "Kulturpessimismus" abgetan. Das ändert aber nichts an der Realität dieser Daten. Und inzwischen bestätigen sogar schon theoretische Physiker wie Claudio Gros von der Universität Frankfurt, dass politische und kulturelle Phänomene immer schnelllebiger werden, von den zahlreichen Publikationen des Jenenser Soziologen Hartmut Rosa (zum Beispiel "Beschleunigung - Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne") zur Beschleunigung in der Moderne ganz zu schweigen.
Endloses Wachstum
Es ist natürlich vor allem unser Wirtschaftssystem, das endloses Wachstum braucht. Nicht nur weil die Besitzer beziehungsweise Aktionäre unter den Wettbewerbsbedingungen des Marktes Dividenden und Kursgewinne erwarten, sondern auch weil Finanzspekulateure fortlaufend Wetten auf die Zukunft abschließen, ist der Status quo niemals genug. "Stillstand ist der Tod! Geh voran, bleibt alles anders", sang Grönemeyer schon 1998. Stillstand bedeutet am Markt den Crash und die wirtschaftliche Depression.
Kulturpessimismus hin oder her - es geht schlicht um den herrschenden Zeitgeist. Dabei halte ich es für evident, dass der Mensch nach seiner hunderttausende Jahre dauernden biologischen Evolution nicht beliebig mit den stets - und zudem prozentual, also langfristig exponentiell - wachsenden Ansprüchen von Industrialisierung und Kapitalismus der grob letzten 300 Jahre mithalten kann.
Dass die Natur nicht die Ressourcen für ewiges Wachstum hat, wird seit den 1970ern diskutiert; die Implikationen dieses Wirtschaftens für die Psyche der Menschen werden aber kaum bedacht. Dabei sehen wir jetzt schon die zu erwartenden Ausfallerscheinungen, etwa in den genannten Beispielen aus dem Gesundheitswesen.
Eckhard Höffner beschrieb hier erst kürzlich aus volkswirtschaftlicher Sicht, dass auch das Ökosystem Erde seit den 1970er Jahren nicht mehr mit den Gewinnerwartungen mithalten kann (Die Tragödie des Wohlstands der Nationen). Die Rechnung für das Wirtschaftswachstum präsentiert der Klimawandel. So funktioniert das nun einmal im Kapitalismus: Profite werden privatisiert, Kosten externalisiert.
Wo bleibt die Autonomie?
Angesichts dieser Rahmenbedingungen muss die Frage gestellt werden, wie es um den zentralen Wert der Autonomie, auf dem sowohl unsere Moralphilosophie als auch Rechtsphilosophie aufbauen, bestellt ist. Inwiefern können Menschen heute noch die Zwecke/Ziele ihres Lebens selbst bestimmen? Oder inwiefern werden diese von außen - in Fachsprache: heteronom - vorgegeben? Und wie verschiebt sich die Balance im Laufe der Zeit?
Um zu Christian Müllers "Droge als Instrument" zurückzukehren: Für mich besteht das Problem nicht darin, dass Menschen Drogen (oder andere Mittel) verwenden, um bestimmte Ziele zu erreichen. Das Problem besteht für mich darin, dass diese Ziele von außen vorgegeben werden. Und der Anpassungsdruck aufgrund gesellschaftlicher Strukturen (Gesetz und Moral) erheblich ist.
Wir haben schon gesehen, dass der Erfolg der kosmetischen Chirurgie die Menschen - mit Ausnahme vielleicht von den profitierenden Chirurgen - nicht wirklich glücklicher zu machen scheint. In den aktuellen Wissenschaftsnews kam mir gerade eine Befragung von über 600 hetero-, bi- und homosexuellen Frauen von Alina Henn und Kollegen von der Universität Osnabrück vor Augen.
Beispiel Körperbild
Viele Frauen haben demnach Probleme damit, dass sie denken, ihr Körper entspreche nicht den Idealvorstellungen. Das ist Heteronomie. Konsequenzen sind Unzufriedenheit und mitunter Essstörungen, die vor 1900 kaum von klinischer Bedeutung waren. Interessanterweise sind nach den Daten der Forscher gerade lesbische Frauen zufriedener mit ihrem Körper, weil sie in ihrer Umgebung mehr Akzeptanz erfahren und einem normaleren Körperbild huldigen.
Eine neue Studie von Camilla Matera und Kollegen von der Universität Florenz, die fast 400 hetero- und homosexuelle Männer befragten, ergibt hier ein entgegengesetztes Bild: Demnach stellen schwule Männer besonders hohe Anforderungen an den Muskelaufbau und sie sind dann im Durchschnitt weniger zufrieden mit ihrem Körper.
Das sind zwar nur Einzelbefunde. Doch das allgemeine Bild ist, dass wir auch im Jahre 2019 in einem größeren Maße von äußeren Faktoren abhängen, als sich das die Philosophen der Aufklärung vorstellen konnten. Und in diesem Kontext kann man sich jetzt fragen, was Drogen als verbreitete Instrumente in der Gesellschaft bewirken werden.
Wie man über das Problem redet
In diesem Zusammenhang erinnere ich noch einmal daran, dass die neuere Diskussion über die Verbesserung des Menschen (neudeutsch: Enhancement) von führenden Ethikern von Anfang an unter das Vorzeichen gestellt wurde, das Individuum an Eigenschaften der Umwelt anzupassen. Ein Paradebeispiel ist etwa die Definition des Oxford-Ethikers Julian Savulescu und seiner Kollegen, die Enhancement beschreiben als:
… eine Veränderung in der Biologie oder Psychologie einer Person, die ihre Chancen vergrößert, unter der relevanten Menge der Umstände ein gutes Leben zu führen.
"Enhancing Human Capacities", S. 7
Genau in diese Kerbe schlägt nun Christian Müllers Ansatz mit der "Droge als Instrument", gewollt oder ungewollt: Es geht um die biopsychologische Veränderung von Menschen, damit diese Zwecke verwirklichen und ein glücklicheres Leben führen können. So fällt aber die gesamte psychosoziale Ebene heraus. Oder anders formuliert: Das Individuum ist veränderlich, das Umfeld ist vorgegeben. Das ist in letzter Konsequenz auch das Ende der Politik, in der es ja gerade um die Ausgestaltung der Gesellschaft gehen soll.
Wer gibt die Ziele vor?
Ich bin nicht dagegen, Drogen, Medikamente oder andere Mittel instrumentell, also zum Erreichen bestimmter Ziele zu verwenden. Ich gebe bloß zu bedenken: Achtet darauf, wer die Ziele vorgibt, wer die Zwecke feststellt!
Wie ich es schon vor vielen Jahren in der Neuroenhancement-Diskussion schrieb, halte ich den Ansatz sowieso für "self-defeating", sich selbst widerlegend (Warum nicht sein Gehirn mit Medikamenten und Drogen aufputschen?; Mind-Doping für Alle?). Der Mensch ist nun einmal ein soziales Wesen und nicht allein auf der Welt. Sprich: Wenn ich diese Mittel nehme, um effizienter zu arbeiten, und sei es nur, weil ich effizienter entspanne, oder um effizienter soziale Kontakte anzubahnen, dann strahlt das auch auf andere Menschen aus und wirkt so schließlich auf mich zurück.
So wird die Verbreitung von Drogen als Instrumenten überall dort, wo Wettbewerb um begrenzte Ressourcen herrscht, von einer Ermöglichung auf einen Zwang hinauslaufen. Aus einer Welt, in der ich die Mittel verwenden kann, wird dann eine Welt, in der ich es mehr oder weniger muss, schlicht um mit den anderen mitzuhalten.
Wirtschaftlich funktioniert das natürlich hervorragend, wie wir schon am Beispiel von kosmetischer Industrie und Chirurgie sehen, wo ein Milliardenmarkt zur Anpassung von Menschen entstanden ist. Wenn es mir schlicht um Gewinne ginge, dann würde ich sofort Aktien der ersten Unternehmen für kosmetische Psychiatrie kaufen.
Stimmen aus der Wissenschaft
Wie ich bereits erwähnte, wurde Christian Müllers Ansatz in der wissenschaftlichen Fachwelt schon 2011 diskutiert, als er dazu einen Artikel veröffentlichte. Beispielhaft möchte ich hier zwei Reaktionen eines Psychologen, dem das noch nicht weit genug geht, und eines Psychiaters, der den Vorschlag sehr kritisch sieht, anführen.
Der Psychologe Geoffrey F. Miller von der University of New Mexico lobte den Gedanken, Drogen als Instrumente aufzufassen. Konkret schrieb er:
… Drogenkonsum könnte einer der wichtigsten Wege sein, wie Menschen versuchen, die Diskrepanz zwischen der evolutionär entstandenen menschlichen Natur und den besonderen Anforderungen der modernen Gesellschaft zu überwinden… Während die Kriminaljustiz versuchte, den Schaden zu beseitigen, der von einem kleinen Anteil der Personen verursacht wird, die zu viele Drogen konsumieren, legt ein Ansatz zur Nutzenmaximierung etwas Anderes nahe: Dass nämlich die meisten Menschen nicht genug Drogen ausprobiert haben und ihren Drogenkonsum nicht so einrichten, wie es optimal wäre. Das heißt, wir konsumieren allgemein zu wenig Drogen und auf die verkehrte Weise, nicht zu viel… Mit Blick auf die herzzerreißende Diskrepanz zwischen der evolutionär entstandenen menschlichen Natur und den Anforderungen der modernen Gesellschaft brauchen wir alle Hilfe, die uns psychoaktive Mittel bieten können, um effektiver zu lernen, zu arbeiten, soziale Kontakte zu knüpfen, Partner zu finden, Kinder großzuziehen, das Leben zu genießen und das menschliche Bewusstsein zu erforschen.
Behavioral and Brain Sciences, 2011; dt. Übersetzung S. Schleim
Miller sieht also wie Müller die Gesellschaft beziehungsweise das Umfeld als gegeben an und spricht sich dann dafür aus, sich mit Drogen optimal an diese Anforderungen anzupassen. Das erinnert auch an Karl Lagerfelds Fatalismus, dass es sinnlos sei, sich gegen den Zeitgeist von Konsumerismus und Kapitalismus zu wehren.
Drogen und das unternehmerische Selbst
Der Psychiater Kevin Chien-Chang Wu von der National Taiwan University kritisierte den Anpassungsdruck aber und setzte Müllers Vorschlag in Bezug zur neoliberalen Denkweise:
Während Praktiken zur Schadensverringerung [beim Drogenkonsum] an Bedeutung gewannen, wurden Drogenkonsumenten als unternehmerisches Selbst dargestellt, die ihr Leben führen, indem sie Entscheidungen auf Grundlage von Informationen über die Risiken von Drogen treffen… Es überrascht nicht, dass der hier vorgeschlagene drogenpolitische Ansatz mit seinem Schwerpunkt auf der individuellen Plastizität des Gehirns gut zur neoliberalen Idee der individuellen Selbststeuerung passt; zurzeit reflektiert die neurowissenschaftliche Beschreibung des Gehirns die neoliberale Gedankenwelt… Wenn legale wie illegale Substanzen ihren Weg ins Leben der Menschen finden, scheinen die Armen davon am meisten betroffen zu sein. Daher… könnten die Individuen nicht die beste Ebene der Intervention sein, wie es der vorliegende Ansatz vorschlägt.
Behavioral and Brain Sciences, 2001; dt. Übersetzung S. Schleim
Kevin Chien-Chang Wu macht hier deutlich, wie sich sogar in der Wissenschaft Beschreibungen an der vorherrschenden Politik orientieren. Und er macht auf das Problem aufmerksam, dass Menschen in Abhängigkeit von ihrer sozialen Schicht auch unterschiedlich von der Drogenproblematik betroffen sind. Diese Perspektive fehlte in Müllers Ansatz tatsächlich völlig.
Beispiele aus der Vergangenheit
Zu guter Letzt möchte ich daran erinnern, dass wir in der Vergangenheit bereits einen gesellschaftlichen Feldversuch für "Die Droge als Instrument" hatten. So war Amphetamin/Speed von den 1930ern bis zu seiner Dämonisierung in den späten 1960ern in vielen sozialen Schichten beliebt. Im Militär (Buchtipp: Norman Ohler, "Der totale Rausch: Drogen im Dritten Reich") wie im zivilen Leben (Buchtipps: Nicolas Rasmussen, "On Speed: From Benzedrine to Adderall" sowie Hans-Christian Dany, "Speed: Eine Gesellschaft auf Droge") wurde es instrumentell verwendet, siehe auch Reklame aus jener Zeit.
Ein Einwurf in eigener Sache: Ein Kollege aus der Pharmakopsychologie und ich versuchen in der Fachdiskussion bereits seit Jahren darauf aufmerksam zu machen, dass instrumenteller Drogenkonsum nicht neu ist, sondern mindestens seit den 1930ern besteht. Den Ethikern in der Neuroenhancement-Debatte ist es Anfang der 2000er schlicht gelungen, das alte Problem als neu und zunehmend darzustellen. Das hat ihnen auf jeden Fall unzählige Forschungsprojekte beschert, weltweit. Diese Enhancement-Diskussion ist, wenn wir Recht haben, aber gar nicht neu, sondern nur eine Variante alter Drogen- und Gesundheitspolitik.
Wie der Feldversuch der 1930er bis 1960er ausgegangen wäre, wenn nicht Richard Nixon Präsident geworden und zum "War on Drugs" geblasen hätte, ist offen. Das Mittel war nicht nur in den unteren Schichten, sondern auch bei Regierungsbeamten beliebt. Aber nach dem drogeninduzierten Höhenrausch kommt doch in aller Regel der Fall (Buch-/Filmtipp: Hubert Selby, Jr. "Requiem for a Dream"). Auch in unserer Zeit passiert das wieder, dass erfolgreiche Politiker über ihren Drogenkonsum stolpern, denken wir an Methamphetamin/Crystal Meth, eine besonders starke Variante von Amphetamin/Speed.
Daher würde ich mir von Christian Müller konkrete Antworten auf die Fragen wünschen, wie Drogen als Instrumente reguliert werden sollen und wie mit der Suchtproblematik umgegangen werden soll. Selbst wenn die große Mehrheit der Menschen gut mit den Substanzen umgehen kann, geht es immer noch um Millionen, wenn 15 bis 33 Prozent süchtig werden, um die Zahlen des Psychiaters noch einmal zu zitieren. Und vor allem: Wie gehen wir mit dem Druck oder gar Zwang um, der dann auf Nichtkonsumenten entsteht?
Entzug für die Gesellschaft
Ich persönlich halte den Ansatz nicht für vielversprechend. Wenn sich die übrigen Rahmenbedingungen nicht ändern, werden wir mit immer mehr oder immer neueren Drogen dieselben Probleme haben, nur dann eben auf 105- oder 110-prozentigem Effizienzniveau statt auf 100-prozentigem. Und vielleicht werden die Probleme dann sogar überproportional größer, wie es schon heute die Daten des Gesundheitswesens nahelegen.
Vor allem will ich niemanden bevormunden und stattdessen Müllers Ansatz als Gelegenheit begreifen, den irrationalen und doppelbödigen Status quo unserer Drogen- und Medikamentenpolitik anzuprangern. Anstatt immer mehr Drogen/Medikamente zu verschreiben, scheint mir ein kollektiver Entzug für eine Gesellschaft nötig zu sein, die bereits heute so süchtig nach Konsum und Geld ist, in der Stress allgegenwärtig ist und es immer an Zeit mangelt.
Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.