Drohen der Ukraine militärischer Kollaps und Kapitulation?

Seite 2: Plant Russland eine Großoffensive?

Michael Kofman, Forscher des Russland- und Eurasienprogramms der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden, sieht keine stabile und dauerhafte Pattsituation. Es sei ein Fehler, von der gegenwärtigen Lage auf die Zukunft zu schließen. Dem pflichtet auch George Beebe, Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute for Responsible Statecraft, bei.

Diejenigen, die glauben, dass sich dieser Krieg in einer langfristigen Pattsituation befindet, machen den Fehler, den relativen Fortschritt jeder Seite anhand von Karten zu messen. Sie sehen, dass sich die Frontlinien im letzten Jahr nicht nennenswert bewegt haben, und schließen daraus, dass die Seiten in einer Sackgasse stecken.

Beebe verweist auf eine Reihe von Indikatoren, die ein anderes Bild zeichnen würden, als eine rein auf Geländegewinne fokussierte Bewertung. Die Ukraine verfüge nur über stark begrenzte Möglichkeiten, neue Soldaten zu rekrutieren – und dieses Potenzial werde schnell aufgebraucht.

Das Gleiche gelte für Waffen und Munition, wobei die Geberländer im Westen der ukrainischen Armee nicht das bereitstellen könnten, was sie brauche. Hier gäbe es erhebliche Unterschiede zum Kriegsgegner Russland, und die Dynamik verlaufe zuungunsten der Ukraine. Daher stellt Beebe fest:

Das ist keine Formel für ein Patt, sondern eine Formel für den Zusammenbruch oder die Kapitulation der Ukraine.

Der ehemalige Oberstleutnant der US-Armee, Daniel Davis, Militärexperte bei Defense Priorities, verweist zudem auf die Tatsache, dass trotz der massiven Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte mit modernsten Panzern und Luftabwehrsystemen, sich nichts auf dem Schlachtfeld getan habe. Davis sagt:

Obwohl sich die Fronten nicht geändert haben, würde ich es nicht als Patt bezeichnen, denn ich denke, dass die Zeit weiterhin gegen die Ukraine arbeitet.

Die militärische Entwicklung im Ukraine-Krieg (19 Bilder)

Frontverlauf am 26. Februar 2022

Zugleich werden die USA für das nächste Jahr, selbst wenn US-Präsident Joe Biden das Ukraine-Hilfspaket durch den US-Kongress bringen kann, maximal die Hälfte an Waffen und Munition (60 Milliarden Dollar statt 113 Milliarden) für die Ukraine bereitstellen, verglichen mit dem laufenden Jahr. Zudem könnte der Israel-Gaza-Krieg zu anderen Prioritätensetzungen führen.

So wurde vor Kurzem bekannt, dass Granaten, die eigentlich für die Ukraine bestimmt waren, von den USA an Israel geliefert wurden. Kiew wird also mit weniger auskommen müssen, während weitere Munitionsengpässe drohen.

Demgegenüber produziert Russland immer mehr Munition und Drohnen. "Sie [die Ukrainer] werden nicht genug Munition haben, um weiterhin eine Pattsituation aufrechtzuerhalten", so Davis.

Aus meiner Sicht ist es keineswegs unrealistisch zu erwarten, dass die ukrainische Armee im nächsten Jahr, vielleicht sogar in diesem Winter, an irgendeinem Punkt der Front einknicken wird.

Demgegenüber festige Russland nicht nur bei der Truppenstärke und der Versorgung mit Waffen und Munition seine Position, sondern auch im Bereich der Kampfmoral. In diesem Punkt, so Ben Friedman, Direktor bei Defense Priorities, habe die Ukraine lange einen Vorteil besessen.

Doch der sei durch die gescheiterte Offensive nun aufgebraucht, während die westliche Unterstützung bröckelt. Die Zeit arbeite für Moskau, trotz aller Unwägbarkeiten im Kriegsverlauf.

Militärexperte Davis glaubt sogar, dass Russland die günstige Situation für sich ausnutzen und im Winter eine Großoffensive starten könnte, um einen Vorstoß oder Durchbruch zu erzielen.

Solch ein Szenario ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn angesichts der fehlenden diplomatischen Perspektive bleibt Moskau eigentlich nur der Weg, seine derzeitigen Vorteile auf dem Schlachtfeld auszunutzen, um Fakten zu schaffen und damit die Ukraine und den Westen unter Druck zu setzen.

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