Drohen der Ukraine militärischer Kollaps und Kapitulation?
Im Westen wird das Patt zunehmend eingestanden. Doch die Lage ist tatsächlich schlimmer. Warum US-Militärexperten sagen, dass Russland die Oberhand hat.
Wer sich die Schlagzeilen und Artikel der letzten Zeit zum Ukraine-Krieg in Deutschland anschaut, kommt nicht umhin festzustellen, dass sich etwas geändert hat.
Während die ukrainische Frühlingsoffensive, die tatsächlich eine Sommeroffensive war, mit positiven, hoffnungsvollen Berichten flankiert und bis zum Schluss die kleinsten Erfolge auf dem Schlachtfeld zu einer möglichen Trendwende erklärt wurden, verschwindet dieser Geist in letzter Zeit mehr und mehr.
Nun heißen z.B. auf Tagesschau.de die Headlines: "Hohe Kampfmoral – aber geschwächte Soldaten", "Vizeregierungschefin warnt vor Kriegsmüdigkeit" oder "Wir sind am Ende, wir sind müde".
Trotzdem fordern viele westliche Medien im Einklang mit ihren Regierungen mehr Waffen, mehr militärische Ausrüstung. So will Deutschland nach Medienangaben seine Ukraine-Hilfen weiter aufstocken, während weiterhin keine diplomatischen Initiativen gestartet werden.
Das Bundesfinanzministerium plante nach einem Entwurf für den Bundeshaushalt 2024 die Mittel für die militärische Unterstützung von den ursprünglich geplanten vier Milliarden auf acht Milliarden Euro zu erhöhen. Zusätzlich wurden zwei Milliarden Euro als sogenannte Verpflichtungsermächtigungen hinzugefügt.
Parallel dazu wird auf Tagesschau.de gefragt: "Braucht der Westen eine neue Strategie?" Die Antwort wird in Rekurs auf das gegeben, was die Nato plant. So habe Generalsekretär Jens Stoltenberg angesichts der düsteren Lage, dem anbrechenden Winter in der Ukraine, der "stockenden Offensive" und den knapper werdenden Ressourcen bekräftigt, das Land weiter und verstärkt militärisch zu unterstützen – auch wenn sich europäische Politiker zunehmend ernüchtert zeigten nach über 650 Tagen Krieg.
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte beim letzten Treffen der EU-Verteidigungsminister: "Ich glaube, dass wir jetzt eine Situation sehen, die einerseits viele Bestandteile hybrider und digitaler Kriegsführung hat." Andererseits erinnere die Lage auch stark an Stellungskriege aus dem letzten Jahrhundert.
Ein Abnutzungskrieg findet statt. Die wechselseitigen Geländegewinne sind außerordentlich marginal. Das heißt: Es fährt sich fest.
Wie zuvor schon erwähnt: Während in den letzten Monaten deutlich sichtbar gewesen ist, dass das ukrainische Militär feststeckt (Telepolis hat früh und immer wieder darüber berichtet), verdrängte man im Westen jedoch die Pattsituation und redete sich die Lage schön.
Dass jetzt die Einsicht des Feststeckens von Politikern und Medien eingestanden wird, hat auch damit zu tun, dass selbst der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, Anfang des Monats in einem Interview mit dem Economist unumwunden erklärte, der Krieg sei in eine "Pattsituation" geraten. Ein "tiefer und wünschenswerter Durchbruch" könne nicht erwartet werden.
Doch diese an sich richtige Einschätzung, dass sich der Ukraine-Krieg in einer Pattsituation befindet, wird im Zuge der jüngsten Kampfentwicklung zunehmend von Militärexperten in den USA infrage gestellt, wie Responsible Statecraft berichtet. Sie schätzen die Lage tatsächlich schlimmer ein – und das heißt für die Ukraine.
Wie Foreign Affairs feststellt, hat Russland im Laufe des Jahres 2023 mehr Territorium gewonnen als die Ukraine. Die Rückeroberung der südlichen Stadt Melitopol durch die Ukraine, ein strategisches Ziel in Hinsicht auf die von Russland besetzte Krim, ist vorerst gescheitert.
Plant Russland eine Großoffensive?
Michael Kofman, Forscher des Russland- und Eurasienprogramms der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden, sieht keine stabile und dauerhafte Pattsituation. Es sei ein Fehler, von der gegenwärtigen Lage auf die Zukunft zu schließen. Dem pflichtet auch George Beebe, Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute for Responsible Statecraft, bei.
Diejenigen, die glauben, dass sich dieser Krieg in einer langfristigen Pattsituation befindet, machen den Fehler, den relativen Fortschritt jeder Seite anhand von Karten zu messen. Sie sehen, dass sich die Frontlinien im letzten Jahr nicht nennenswert bewegt haben, und schließen daraus, dass die Seiten in einer Sackgasse stecken.
Beebe verweist auf eine Reihe von Indikatoren, die ein anderes Bild zeichnen würden, als eine rein auf Geländegewinne fokussierte Bewertung. Die Ukraine verfüge nur über stark begrenzte Möglichkeiten, neue Soldaten zu rekrutieren – und dieses Potenzial werde schnell aufgebraucht.
Das Gleiche gelte für Waffen und Munition, wobei die Geberländer im Westen der ukrainischen Armee nicht das bereitstellen könnten, was sie brauche. Hier gäbe es erhebliche Unterschiede zum Kriegsgegner Russland, und die Dynamik verlaufe zuungunsten der Ukraine. Daher stellt Beebe fest:
Das ist keine Formel für ein Patt, sondern eine Formel für den Zusammenbruch oder die Kapitulation der Ukraine.
Der ehemalige Oberstleutnant der US-Armee, Daniel Davis, Militärexperte bei Defense Priorities, verweist zudem auf die Tatsache, dass trotz der massiven Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte mit modernsten Panzern und Luftabwehrsystemen, sich nichts auf dem Schlachtfeld getan habe. Davis sagt:
Obwohl sich die Fronten nicht geändert haben, würde ich es nicht als Patt bezeichnen, denn ich denke, dass die Zeit weiterhin gegen die Ukraine arbeitet.
Die militärische Entwicklung im Ukraine-Krieg (19 Bilder)
Zugleich werden die USA für das nächste Jahr, selbst wenn US-Präsident Joe Biden das Ukraine-Hilfspaket durch den US-Kongress bringen kann, maximal die Hälfte an Waffen und Munition (60 Milliarden Dollar statt 113 Milliarden) für die Ukraine bereitstellen, verglichen mit dem laufenden Jahr. Zudem könnte der Israel-Gaza-Krieg zu anderen Prioritätensetzungen führen.
So wurde vor Kurzem bekannt, dass Granaten, die eigentlich für die Ukraine bestimmt waren, von den USA an Israel geliefert wurden. Kiew wird also mit weniger auskommen müssen, während weitere Munitionsengpässe drohen.
Demgegenüber produziert Russland immer mehr Munition und Drohnen. "Sie [die Ukrainer] werden nicht genug Munition haben, um weiterhin eine Pattsituation aufrechtzuerhalten", so Davis.
Aus meiner Sicht ist es keineswegs unrealistisch zu erwarten, dass die ukrainische Armee im nächsten Jahr, vielleicht sogar in diesem Winter, an irgendeinem Punkt der Front einknicken wird.
Demgegenüber festige Russland nicht nur bei der Truppenstärke und der Versorgung mit Waffen und Munition seine Position, sondern auch im Bereich der Kampfmoral. In diesem Punkt, so Ben Friedman, Direktor bei Defense Priorities, habe die Ukraine lange einen Vorteil besessen.
Doch der sei durch die gescheiterte Offensive nun aufgebraucht, während die westliche Unterstützung bröckelt. Die Zeit arbeite für Moskau, trotz aller Unwägbarkeiten im Kriegsverlauf.
Militärexperte Davis glaubt sogar, dass Russland die günstige Situation für sich ausnutzen und im Winter eine Großoffensive starten könnte, um einen Vorstoß oder Durchbruch zu erzielen.
Solch ein Szenario ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn angesichts der fehlenden diplomatischen Perspektive bleibt Moskau eigentlich nur der Weg, seine derzeitigen Vorteile auf dem Schlachtfeld auszunutzen, um Fakten zu schaffen und damit die Ukraine und den Westen unter Druck zu setzen.
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