E-Mail-Affäre um Springer-Chef: Der Ekel vor Demokraten
Seite 3: Von Döpfner zur Verflachung und Entpolitisierung
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Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Das dürfte für Mathias Döpfner und seine FDP-Freunde schon hinreichend ekliger Kommunismus-Verdacht sein. Seis drum. "Die ossis werden nie Demokraten" – an seiner Prognose ist was dran, wenn man bedenkt, dass viele eine andere Vorstellung von Demokratie hatten – nicht nur eine Worthülse à la Bildzeitung, sonders das ganz große Versprechen, dass mit einem "Demokratischen Aufbruch" verbunden sein sollte.
Das war die Endstation Sehnsucht: Wohlstand durch eine Demokratie, die auch die Wirtschaft erfasst, die viele Facetten haben sollte, räte- oder basisdemokratische, jedenfalls nicht eine auf Privateigentum fixierte, kapitalistische Demokratie sein würde.
Und diese Sehnsucht war ansteckend. An der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen wurde eine Resolution verabschiedet: "Es ist Zeit für eine grundlegende Kritik des Kapitalismus." Und die SPD schlägt einen Runden Tisch auch für Bonn vor. Sechs Wochen vor der Volkskammerwahl in der DDR im März 1990 sagen ihr Umfragen dort immer noch eine absolute Mehrheit voraus.
Ihre Genossin Anke Martini findet, dass die Ostdeutschen den nötigen Antworten schon nähergekommen sind "als wir Westler, die wir unser System so wenig in Frage zu stellen gewohnt sind". Bündnis 90 greift das größte Tabu auf, fordert eine Volksabstimmung über den Erhalt des Volkseigentums.
Damals wurde begonnen, Systemfragen zu stellen – das Grundgesetz lässt dafür viel Spielraum. Aber Konservative sehen schnell ein Gespenst der Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung umgehen. Jetzt konnte die CDU das Ruder nur noch herumreißen, wenn sie auf die ganz große Pauke haut.
DDR-Medien, die sich zum allgemeinen Erstaunen schnell von Zensur emanzipiert hatten und deren Sender im Osten eine höhere Sehbeteiligung erreichten als die westlichen, waren frei erfundenen Räuberpistolen des Boulevards noch nicht gewachsen.
Sie erlebten erstmalig, wie ein von privaten Medien genährter Manipulationsapparat eine Mehrheitsmeinung in kürzester Zeit ins Gegenteil verkehrt, wie ich in dem Buch Tamtam und Tabu detailgetreu nachgewiesen habe. Die eine Strategie war, den Volkszorn zu schüren, indem DDR-Politikern von Bild, aber auch vom Spiegel und anderen angedichtet wurde, sie hätten sich auf Staatskosten Luxusgüter angehäuft, von Brillanten bis zu Jaguars – das waren reine Fakes. Der Spiegel frohlockte, dass diese Berichte in der DDR Furore machten, tausendfach fotokopiert in Betrieben ausgehängt, zur "Volkslektüre" wurden.
Noch wirksamer aber war die zweite Strategie, die Panik auslöste durch die plötzliche Behauptung von Kohls engstem Berater im Kanzleramt, Horst Teltschik, wonach der Kollaps der DDR-Wirtschaft unmittelbar bevorstünde, was völlige Zahlungsunfähigkeit in wenigen Tagen bedeute. Damit dieser Unsinn geglaubt wird, behauptete Bild, der Vorsitzende der Ost-CDU, Lothar Maizière habe das bestätigt. Dessen Dementi, wonach ihm dergleichen nicht bekannt sei, erwähnen die Westmedien nicht.
Stattdessen legt der Spiegel auch Ministerpräsidenten Hans Modrow frei erfundene wörtliche Zitate in den Mund: "Wir sind am Ende. Unser Geld reicht noch bis Mitte des Jahres." Erst daraufhin habe Kohl beschlossen, die Währungsunion sofort vorzubereiten, "koste es, was es wolle". Bild bringt es auf das populistische Fazit: Die Wirtschaft der DDR hängt am Tropf, sie braucht die Transfusion der D-Mark. Das vom Westkanzler für die Ostwahlen gegründete Bündnis Allianz für Deutschland geht an die Arbeit.
Geschockt und verängstigt nehmen die Wähler das Versprechen der D-Mark als Messias an. Dass sie einem neuen "Lügengebäude" erlegen waren und nunmehr jede Reformidee aufgekauft werden konnte, merkten sie erst nach und nach. Und die meisten Westdeutschen glauben bis heute die verbreitete Lesart, wonach ihre einst Brüder und Schwestern Genannten nichts anderes wollten, als nur so schnell wie möglich so wie im Westen leben. Doch das war nur die halbe Wahrheit.
Auch wenn Volksentscheide gerade noch verhindert werden konnten, belegte die erste repräsentative Umfrage nach der Wahl etwas anderes: So gut wie alle waren für die Einheit, aber 83 Prozent lehnten immer noch einen schnellen und bedingungslosen Beitritt ab. Sie wollten als gleichberechtigte Partner auf das Wie der Einheit Einfluss nehmen. Nicht nur Ampel- und Sandmännchen sollte aus der DDR erhalten bleiben, sondern 68 Prozent sprachen sich für die Kernsubstanz aus – das Volkseigentum.
Die Privatisierung im Osten wurde zum öffentlichen Milliardengrab, das bis heute den Haushalt belastet, während sich der private Reichtum oft steuerfrei verdoppelte – ein Billionengrab. Ludwig Erhard kannte die Spielregel seines Systems: "Nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit." Wo kein Haben ist, da ist auch kein Sagen.
Demokratie bedeutet Machtbeschränkung. Doch die Parlamente haben ihre Macht weitgehend an die Regierung abgegeben, die Regierung hat Macht an die EU-Kommission abgegeben, diese hat Macht an die Weltbank und die Welthandelsorganisation abgegeben. Und der Wähler soll seine Stimme abgeben und sich dabei fühlen wie Hans im Glück. Er schaut in die Luft und fragt sich, welche Wahl er eigentlich hat, wenn niemand die verborgen herrschende Macht beschränkt, die des Kapitals?
Christian Führer, legendärer Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, wollte die von ihm begründeten Montagsdemonstrationen wiederbeleben:
Eigentlich steht der zweite Teil der Revolution noch aus. Die Marktwirtschaft ist im Grunde gewalttätig. Die Diktatur der Weltanschauung wurde durch die Diktatur des Kapitals abgelöst.
Heute haben sich die Ostdeutschen solch subversive Töne abgewöhnt, auch durch ein weitgehend erfülltes Konsum-Versprechen. Die einstige linke Oppositionspartei zerlegt nicht mehr die Machtverhältnisse, sondern lieber sich selbst. Und überlässt den Protest den Rechten.
Presseerzeugnisse wie die von Mathias Döpfner haben zu Verflachung und Entpolitisierung beigetragen. Bei einer vom Mainstream geformten Mehrheit wäre Basisdemokratie weitgehend ihres Sinnes beraubt. Da fällt es nicht schwer, sich bei den zahm gewordenen Ostlern zu entschuldigen und vorzugeben, ihre Lebensleistungen nunmehr würdigen zu wollen. Aber welche denn? Ihre Verdienste, Alternativen ausprobiert zu haben? Nach dieser Bilanz fragt heute niemand mehr. Aber sie ist nicht nur zwischen Ost und West weiterhin offen.
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Berliner Zeitung.