ECommerce = Energy-Commerce?
In Amsterdam wächst durch Investitionen im IT-Bereich plötzlich die Nachfrage nach Strom
Die neue Ökonomie bringt ein unerwartetes Problem mit sich. In Amsterdam reicht das bestehende Stromnetz schon nicht mehr aus: der Rest Europas wird wahrscheinlich mit diesem Problem in ein paar Jahren konfrontiert sein.
In Amsterdam werden 25 neue Bürogebäude im ICT-Bereich (Computer, Software, ECommerce, Internet und Telekom) geplant. Als das Elektrizitätsunternehmen den gesamten Bedarf nach zusätzlicher Energie zusammengerechnet hatte, fand man heraus, dass dies die Nachfrage um 200 Megawatt vergrößern würde. Der normale Verbrauch in Amsterdam mit seinen 800000 Einwohnern beträgt 300 MW.
Der Hauptgrund für die Zunahme liegt darin, dass Amsterdam sehr erfolgreich beim Anlocken von Investitionen in neuen Branchen war. Das ist erstaunlich, weil es hier bislang keinen großen Computer-, Elektronik-, Software-Sektor gegeben hat. Die wenigen, aber über die Medien bekannt gewordenen Internetpioniere wie www.xs4all.nl stellen allerdings nicht die Grundlage für den neuen Boom im Bereich der neuen Medien und der ICT dar. Das Symbol des Erfolgs in der Standortkonkurrenz ist die Entscheidung von Cisco, sein europäisches Hauptquartier in Amsterdam anzusiedeln. Cisco hat bereits Microsoft überholt und ist jetzt im Hinblick auf die Börsenwerte das weltweit reichste Unternehmen. Die Entscheidung von Cisco führt zur größten Investition in Amsterdam seit 20 Jahren. Das Cisco-Gebäude wird das größte Bürogebäude in ganz Holland sein. In dem zusätzlichen Strombedarf von 200 MW ist es aber noch nicht einmal einbezogen worden. So bringt der "neoliberale" Erfolg in der Anlockung von Investitionen neue Probleme mit sich.
Nach einer Sondersitzung zur Diskussion der möglichen Energiekrise versprach die Stadträtin Pauline Krikke, dass alle neuen Firmen genügend Elektrizität bekommen werden. Während der nächsten Jahre werden neue Kabel verlegt und sollen einige neue Elektrizitätswerke in der Nähe der Kunden gebaut werden. In den ersten Jahren wird die zusätzliche Kapazität wahrscheinlich noch nicht benötigt, da die neuen Firmen eine maximale, keine durchschnittliche Kapazität verlangen. Gleichwohl ist dies eine Warnung an das übrige Europa, dass die neue Ökonomie ihren ökologischen Preis hat.
Die frühe Mythologie des Cyberspace - "Befreiung von materiellen Zwängen" - hat sich als falsch erwiesen. Wenn die neuen Elektrizitätswerke gebaut werden, dann stellen sie eine symbolische Widerlegung der Propheten der "Dematerialisierung" dar, zu denen etwa Kevin Kelly gehört (siehe Nirvana of Flow). Die Gebäude werden extra für die Internetnutzung gebaut. Es sind die "Server Farms", die den neuen Bedarf an Elektrizität verursachen. Aber das Schlimmste wird erst noch kommen: das Wachstum des Netzwerkeinsatzes ist extrem hoch, auch wenn noch niemand weiß, wie hoch es sein wird. Unter der Annahme, dass Amsterdam die gesamte zusätzliche Energie für Holland bereitstellen würde, dann würde ein ähnliches Wachstum in der EU eine zusätzliche Kapazität von 4600 MW bedeuten. Das entspricht etwa der Leistung von vier Atomkraftwerken. Ein großer Unterschied zu dem "grünen und sauberen" Bild von der neuen Ökonomie.
In Europa ist das vermutlich das erste Beispiel für ein solches dramatisches Wachstum. Auch in den USA wird bereits über eine gewaltige Zunahme des Stromverbrauchs diskutiert. Eine Schätzung geht dahin, dass in den USA bereits 8 Prozent der gesamten Elektrizität für das Internet gebraucht wird. Allerdings kommt diese Schätzung von einer Organisation, die mit der Kohlebergwerkbranche verbunden ist. Andere Experten sagen, dass es sich um 1 Prozent handelt.
In Europa scheint dieses Problem noch unbekannt zu sein. Als ich die holländische Vereinigung der Energieproduzenten anrief, um nach Forschungen in diesem Bereich zu fragen, stellte sich heraus, dass sie das erste Mal davon gehört haben. Die letzten nationalen Energieprognosen stammen aus dem Jahr 1995 und sprechen noch von einer Dematerialisierung. Auch die EU scheint an keine möglichen negativen Nebenwirkungen bei der Durchsetzung von e-Europe zu denken. Doch es gibt ein mögliches "Alptraumszenario", in dem die Computer und die Telekommunikationsgeräte zu den größten Energieverbraucher werden und in ganz Europa neue Elektrizitätswerke gebaut werden müssen, um den Bedarf sicher zu stellen. Wenn einzelne Bürogebäude bereits 20 MW benötigen und neue Mega-Server-Parks geplant werden, dann wird die Netzökonomie beginnen, sich auf das lokale Mikroklima auszuwirken. Es ist Zeit, die Mythologie vom immateriellen Cyberspace und das Bild von der sauberen neuen Ökonomie zu hinterfragen.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer