ERSETZT BERLIN!

HAMBURG ERSATZ von Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll als Buch und als CD ROM

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Mit dem seit den letzten Jahren kuratoriell wiederaufgenommenen Interesse am "öffentlichem Raum" dienten historische und futuristische Urbanitätskonzepte als Ausgangspunkt einer Reflexion über die Bewohnbarkeit reeller wie virtueller Strukturen. Auch die Netzkunst geriet in den Strudel dieses Augenmerks auf Öffentlichkeit, Partizipation, Analogi- und Digitalität: So hatte das Berliner Künstlerpaar Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll im Rahmen des von der Kulturbehörde Hamburg initiierten Projektes "weitergehen" mit HAMBURG ERSATZ seit 1998 ein hypermediales Bilderbuch mit Texteinlagen fürs www entwickelt, in dem die Geschichte visionärer und modellhafter Wohn- und Urbanitätskonzepte deskriptiv nacherzählt, wiederaufbereitet und mit abgeklärtem Humor weitergedacht wird. Gespeist durch anschaulich und angenehm assoziierte Ideen aus Urbanismus, Architektur, Gemeinschaft, Utopie, Daten und Kunst spielt HAMBURG ERSATZ dabei mit den Vorstellungen von reeller Stadt und deren ins Netz projizierten Surrogaten.

Screenshot eines Elements der Website Hamburg Ersatz

Beginnend auf den unteren Stockwerken eines im Laufe der Zeit immer contentreicher gewordenen virtuellen Turmes wird man elegant durch die Konzepte überwundener Schwerkraft (Malewitsch), minimierter Lebensbedürfnisse (Thoreau) und wohntauglicher Bodysuits geführt oder darf einen Flaneur mit Schildkröte durch ideale Gärten nach Disneyland, zu "Webcities" und zu Archigrams Walking City begleiten. Im nächsten Stockwerk werden die Ergebnisse einer Datenerhebung präsentiert, bei der bisherige Onlinebesucher des Projekts als "Ersatz Hamburger" ihre eigenen lebensweltlichen Bedürfnisse und Vorschläge angeben konnten. Im "Sprechzimmer" trifft man auf (teilweise bereits an anderen Stellen veröffentlichte) Interviews mit Friedrich A. Kittler, Olaf Metzel, Franco Falsini und Manfred Schneckenburger, die den Kontext der Arbeit lose auf theoretische Verankerungen, künstlerische Verwandtschaften oder kulturpolitische Pragmatismen hin testen, bevor schließlich im letzten Stockwerk irdische Wohnkonzepte ihre Apotheose in der wunderbaren Welt der Schwerelosigkeit erfahren.

GIF aus Hamburg Ersatz

Das nun erschienene Buch HAMBURG ERSATZ samt CD ROM (die dem Stand des mittlerweile abgeschlossenen Projekts im Netz entspricht) ergänzt das Werk nicht nur durch eine gut lesbare Printausgabe, sondern macht es zu einem handhabbaren Offlinewerkzeug - oder, wie es im Verlagsprospekt so schön heißt: es "übersetzt nun ein seit 1998 im World Wide Web angesiedeltes »work in progress« in ein bleibendes Zugriffsangebot".

Texte wurden hierfür neu, um- oder weitergeschrieben, die hypermedialen Strukturen sorgsam in eine lineare Struktur zurückverwandelt, die Bilderbuchhaftigkeit des www-Parts adrett für das Buchlayout weiterverwendet und den einzelnen Passagen ein größerer Kontext verpaßt. Auch wenn sich bei manchen Abschnitten des Buches eine den Bedingungen des digitalen Werks geschuldete Sprunghaftigkeit einschleicht, tut dies dem Lesefluß keinen Abbruch - wird man sich doch so immer wieder bewußt, daß die meisten der vorgestellten utopischen Modelle noch nicht zu Ende gedacht sind, verworfen wurden, Bruchstücke blieben.

Wenn es mittlerweile auch eine (fast identische) englischsprachige Version des HAMBURG ERSATZ gibt, das COPENHAGEN SUBSTITUTE, wird klar, dass "Hamburg" lediglich ein Synonym für jede Stadt darstellt und im Gegenzug "Ersatz" die ins Phantastische ausgedehnte Datenprojektion, die jede Stadt zu einer anderen, utopischeren Stadt machen könnte. Bis diese aber verwirklicht ist, bleibt HAMBURG ERSATZ der schönste Ersatz, den Berlin hat.

Dellbrügge & de Moll: HAMBURG ERSATZ. Herausgegeben vom Institut für moderne Kunst Nürnberg. 144 Seiten, DM 58,-. Die CD ROM ist IBM-PC- und Apple-kompatibel.