EU-Aufnahme der Ukraine: Meint der exklusive Club es ernst?

Seite 2: Grenzen der Meinungsfreiheit – kein Problem für die EU?

Und wie steht es um die demokratischen Rechte in der Ukraine? – Der für verschiedene Medien aus Kiew berichtende Korrespondent Bernhard Clasen fasst es für die Tageszeitung Neues Deutschland so zusammen:

Tatsächlich gibt es in der Ukraine weitgehende Meinungsfreiheit, solange es um Themen wie Korruption, Religion, Wirtschaft und soziale Fragen geht. Doch beim Thema "Krieg" ist es vorbei mit der Meinungsfreiheit. Wer hier russische Narrative verbreitet, muss mit langen Haftstrafen rechnen. Und was ein russisches Narrativ im konkreten Einzelfall ist, entscheiden die Strafverfolgungsorgane.

Bernhard Clasen, Neues Deutschland

Doch was zählen die Strafverfolgungsorgane als russische Narrative? Auch dazu bringt Clasen Beispiele. Da ist etwa der gewählte Rada-Abgeordnete Nestor Schufrytsch. Er sitzt in Untersuchungshaft, weil ihm vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst vorgeworfen wurde, der habe die These verbreitet, dass die Ukraine und Russland eine gemeinsame Geschichte hätten – und dass Ukrainer und Russen ein Volk seien.

Zumindest die These von der gemeinsamen Geschichte ließe sich von Historikern verifizieren. So gehörte im Rahmen dieser gemeinsamen Geschichte der ukrainische Teil der Roten Armee zu den Soldaten, die im Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreiten. Diese historische Tatsache zählt jedoch heute in der Ukraine als russisches Narrativ.

Aber nicht nur Parlamentsabgeordnete sind in Haft, weil sie der gegenwärtigen Regierung nicht genehme Äußerungen tätigten: So berichtet Clasen von einer Frau aus Charkiw, die wegen Social-Media-Äußerungen zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.

Wörtlich hatte sie geschrieben: "Die beste Nachricht von allen. Oma und Opa sind am Leben. Sie wurden von DNR- und LNR-Milizionären (Kämpfer der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, Anm. d. Red.) gerettet und nach Luhansk gebracht. Die Tochter und der Schwiegersohn sind aus Barnaul eingeflogen. Jetzt sind sie in Barnaul. Die Großeltern wurden zum 9. Mai auf den Roten Platz eingeladen."

Der vom Gericht beauftragte Sachverständige hatte in diesem Beitrag eine Leugnung der vorübergehenden Besetzung eines Teils des ukrainischen Hoheitsgebiets gesehen, da dieser Post "die sogenannten ‚LNR‘ und ‚DNR‘ als separate staatliche Einheiten beschreibt".

Auch Gespräche auf der Straße oder am Telefon führen laut Clasen schnell zu einer Verurteilung führen. Allerdings werde oft nicht die Höchststrafe von fünf Jahren "Laut der Menschenrechtsgruppe Charkiw kamen von 715 Verurteilten 595 um eine Gefängnisstrafe herum und mussten zur Strafe etwa proukrainische Bücher über den Krieg lesen. Gleichwohl haben auch sie Stress, Erniedrigung durch öffentlich zur Schau getragene Reue, Angst und finanzielle Einbußen erlebt", so Clasen.

Hohe Strafen erwarten in der Ukraine auch "wehrfähige" Männer, die nicht in der Armee kämpfen wollen. Deshalb haben auch Betroffene in Westdeutschland Angst, offen über ihre Gründe zu reden, wie zwei Militärverweigerer gegenüber der taz kürzlich erklärten.

Soll ein möglicher Waffenstillstand behindert werden?

Aber mit den so viel gerühmten westlichen Werten scheint eine solche selektive Demokratie nicht in Konflikt zu geraten. Zumindest sind sie kein Hindernis für die Empfehlung von Aufnahmegesprächen. Warum diese Empfehlung gerade zu diesem Zeitpunkt kommt, wo selbst in den aktuell herrschenden Kreisen der Ukraine von Kriegsmüdigkeit gesprochen wird, ist Spekulation.

Doch es ist durchaus anzunehmen, dass hier schon die Weichen für eine Ukraine nach der Einfrierung des Konflikts gestellt werden. Möglicherweise sollen damit Vereinbarungen verhindert werden, die der Ukraine wieder den neutralen Status zusprechen, den sie vor Beginn des Krieges hatte.

Doch noch steht nicht fest, ob und wann die Ukraine in den Club der Staaten aufgenommen wird, mit denen die EU Verhandlungen aufnimmt. Ungarn hat schon Widerstand angekündigt und wird sicher nicht allein bleiben. So haben sich durch Ankündigung zunächst die Streitigkeiten innerhalb der EU verstärkt. Denn es gibt durchaus Mitgliedsstaaten, die hierin einen weiteren Machtanspruch der Deutsch-EU sehen – und sich schon deshalb dagegen verwahren.