EU-Aufnahme der Ukraine: Meint der exklusive Club es ernst?

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Foto: President.gov.ua / CC BY 4.0

Warum will sich die EU Beitrittsverhandlungen mit dem Land aufbürden? Dauern können sie Jahrzehnte. Wer sich dagegen verwahren könnte – und warum. Ein Kommentar.

Eigentlich ist es ein symbolischer Schritt – und trotzdem ist es eine Premiere: Die EU-Kommission hat empfohlen, mit der Ukraine Aufnahmegespräche zu beginnen. Das bedeutet nicht, dass die Ukraine in den nächsten Jahren in diesen exklusiven Club aufgenommen wird. Gerade das Beispiel der Türkei, aber auch vieler anderer Länder zeigt, dass ein Land, dem Aufnahmegespräche in Aussicht gestellt wird, für Jahrzehnte in der Warteschleife hängen kann.

Die Ankündigung von Aufnahmegesprächen hat meist den Zweck, sich in die innenpolitischen Belange dieser Länder einzumischen. Denn natürlich werden dann alle Gesetze, ja auch schon die Wahlkonstellationen, danach abgeklopft, ob sie EU-konform sind oder nicht. Hier wird ein enormer Druck aufgebaut, der auch Einfluss auf innenpolitischen Debatten in diesen Ländern hat. Man kann sogar sagen, der Druck ist größer, wenn diese Länder in einer Wartestellung in Bezug auf die EU-Mitgliedschaft sind, als wenn sie dann schließlich drin sind.

Die EU-Kommission, beziehungsweise die dominierenden Mächte in der EU, darunter vor allem Deutschland, haben den subalternen EU-Staaten immer wieder die Instrumente gezeigt. Man denke nur an die Durchsetzung der Austeritätspolitik in Griechenland, wo ganz offen der Willen der griechischen Wählerinnen und Wähler ignoriert, ja sogar konterkariert werden musste. Noch größer ist der Druck, wenn die EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt aber bisher nicht vollzogen wurde.

Doch die Aufnahmegespräche mit der Ukraine sind auch im EU-Rahmen eine Premiere, worauf der EU-Korrespondent der taz, Eric Bonse, hingewiesen hat. Erstmals wird die Aufnahme eines Landes empfohlen, dass sich im Kriegszustand mit einem Nachbarland befindet. Noch vor Monaten haben politische Analysten deshalb das Angebot von Beitrittsverhandlungen in weiter Ferne gesehen.

Denn es gab einen triftigen Grund, warum kriegerische Konflikte ein Hinderungsgrund für EU-Beitrittsgespräche waren: Die EU wollte nicht selbst hineingezogen werden. Dabei spielte es bisher auch keine Rolle, wer die Hauptverantwortung für den jeweiligen Konflikt trägt.

Rettete der globale Westen die Staatlichkeit der Ukraine?

Doch im Fall der Ukraine ist es so, dass die EU-Staaten – wie insgesamt große Teile des globalen Westens – schon seit dem 24. Februar 2022 Konfliktpartei sind. Dabei wird immer argumentiert, die Unterstützung durch den Westen garantiere, dass die Ukraine als unabhängiger Staat überhaupt noch existiert.

Dabei wird allerdings übersehen, dass es in den ersten Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mehrere Verhandlungsrunden gab, die auch auf ein Ergebnis hätten hinauslaufen können, dass die Ukraine als Staat mit neutralen Status erhalten bleibt. Noch Ende März 2022 lautet in der Süddeutschen Zeitung die Schlagzeile: "Die Kriegsparteien nähern sich an":

Am Dienstag sind die direkten Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine vorerst ohne konkrete Einigungen zu Ende, die Teilnehmer zeigten sich aber zuversichtlich. Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, militärische Aktivitäten bei Kiew und Tschernihiw deutlich reduzieren zu wollen. Der russische Unterhändler Wladimir Medinski hatte die Verhandlungen als konstruktiv bezeichnet, auch der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu machte eine Annäherung beider Länder aus.

Süddeutsche Zeitung, 29. März 2022

Einige Wochen später, im Juni 2022, hieß es in der Schweizer Wochenzeitung (Woz) "Von Diplomatie ist nicht mehr die Rede". Was hatte sich in diesen Wochen geändert? – Die Woz benennt als wichtigen Faktor Folgendes:

Zu dieser verhärteten Haltung der ukrainischen Regierung haben entscheidend die immer umfangreicheren Waffenlieferungen sowie die politische Unterstützung aus den Nato-Staaten beigetragen. So setzt etwa die Regierung von US-Präsident Joe Biden mit parteiübergreifender, großer Unterstützung des Parlaments immer deutlicher auf einen "Sieg" der Ukraine, der über das vom Völkerrecht gedeckte Ziel einer Vertreibung aller russischen Invasionstruppen aus der Ukraine hinaus auch zu einer dauerhaften militärischen, wirtschaftlichen und politischen Schwächung Russlands führen soll.

WoZ, 9. Juni 2022

Dabei wird neben der Nato auch die Rolle einiger führender EU-Mitglieder angesprochen – darunter Deutschland. Namentlich erwähnt wird auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock erwähnt:

In Europa werden ähnlich weitreichende Kriegsziele nicht nur von der britischen Regierung postuliert, sondern beispielsweise auch von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock, Mitglied der einst pazifistischen, zumindest aber Militär- und Nato-kritischen Grünen Partei. Russland müsse "isoliert" werden, fordert Baerbock.

WoZ, 9. Juni 2022

So bleibt im Grunde festzuhalten, dass die Staatlichkeit der Ukraine auch durch einen von ausländischen Staaten garantierten russisch-ukrainischen Friedensvertrag hätte erhalten werden können. Adlerdings wäre es dann eine neutrale Ukraine geworden. Die Intervention einiger EU-Staaten, vornehmlich Großbritannien und Deutschland, war vor allem geopolitischen Interessen geschuldet.

Man wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Ukraine ins EU-Lager zu zerren. Da Großbritannien kein EU-Mitglied mehr ist, fällt vor allem Deutschland die Rolle zu, in der EU diese Strategie zu forcieren.

Historische Kontinuität spielt heute keine Rolle mehr

Die gleiche aggressive Rolle hatte das gerade wiedervereinigte Deutschland übrigens schon bei der Anerkennung von Staaten wie Kroatien oder Slowenien im Zerfallsprozess Jugoslawiens gespielt. Auch hier war Deutschland vorgeprescht, was damals bei vielen EU-Staaten noch für Unmut sorgte.

Schließlich war nicht vergessen, dass die kroatischen Nationalisten, die Anfang der 1990er-Jahre in Kroatien wieder an die Macht strebten, sich historisch auf jene Kräfte beriefen, die enge Kontakte zu Hitler-Deutschland hatten und auch den eliminatorischen Antisemitismus teilten. Die kroatische Ustascha-Bewegung stand ihren NS-Verbündeten bei der Vernichtung der kroatischen Juden in nichts nach. Ähnlich war das Verhältnis eines Teils der ukrainischen Nationalisten zum NS-Regime.

Zwar wollte Nazi-Deutschland keinen unabhängigen ukrainischen Staat, was ebenfalls zu Konflikten führte. Im Kampf gegen Juden, Russen und Kommunisten war man sich jedoch einig. So verbrachten nicht nur führende Vertreter der Ustascha-Bewegung, sondern auch ukrainische Nationalisten die Zeit des Kalten Krieges in der Bundesrepublik.

München war für sie ein besonders wichtiger Ort, wie der Historiker Matthias Thaden in seiner Studie "Migration und innere Sicherheit" herausgearbeitet hat.

Diese historische Kontinuität spielte in den 1990er-Jahren noch in Teilen der deutschlandkritischen Linken eine zentrale Rolle. Vehement abgelehnt wurde damals eine erneute Kooperation Deutschlands mit den Erben der NS-freundlichen nationalistischen Bewegungen, die in diesen Ländern für den Mord an unzähligen Juden und Oppositionellen verantwortlich waren. Heute spielt diese historische Dimension in Deutschland kaum noch eine Rolle.

Der kürzlich von der Tageszeitung Junge Welt organisierte Kongress zum "Bandera-Komplex" wurde in der hiesigen Medienlandschaft weitgehend ignoriert. Man befand es nicht mal für nötig, die dort von internationalen Rednern vorgetragenen Thesen auch nur zu kritisieren.

Natürlich spielt die Existenz von Ultrarechten im ukrainischen Staatsapparat auch für die EU-Beitrittsverhandlungen keine Rolle. Hauptsache, die Ultrarechten sind zumindest verbal prowestlich.