EU-Strafzölle: Todesstoß für günstige Elektroautos?

Zollschild und Globus mit chinesischen E-Autos

EU plant Strafzölle auf chinesische E-Autos. Deutschland stimmte dagegen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Droht nun ein Handelskrieg?

Chinesische Elektroautos könnten für Käufer in der EU schon bald deutlich teurer werden. Ab November sollen Straf- bzw. Schutzzölle von bis zu gut 35 Prozent auf solche Fahrzeuge erhoben werden. Deutschland hatte in Brüssel gegen die Einführung der Zölle gestimmt, konnte sich aber nicht durchsetzen. Nun warnen Kritiker vor einem möglichen Handelskrieg, der beiden Seiten schaden könnte.

Professor Gerhard Stahl hat zunächst im Bundesfinanzministerium und später für das Europäische Parlament und die EU-Kommission in Brüssel gearbeitet, war Leitungsmitglied beim IFO-Institut für Wirtschaftsforschung in München und ist seit mehr als zehn Jahren Honorarprofessor an der Peking University HSBC Business School im chinesischen Shenzhen. Dietmar Ringel hat mit ihm gesprochen.

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▶ Es laufen ja noch Vermittlungsversuche zwischen Brüssel und Peking. Kann der Konflikt auf den letzten Metern noch entschärft werden?

Gerhard Stahl: Ich glaube, es deutet vieles darauf hin, dass beide Seiten eine Vereinbarung anstreben, die die Interessen sowohl der chinesischen Autofirmen berücksichtigt, mit ihrer Technologie auf den europäischen Markt zu kommen, als auch unsere Autofirmen keiner unfairen Konkurrenz auszusetzen. Ich halte das deshalb für eine guten Möglichkeit, um zu seriösen Verhandlungen zu kommen.

▶ Was wäre ein möglicher Kompromiss? Bisher sieht es ja so aus, als ob man sich konträr gegenübersteht.

Gerhard Stahl
Gerhard Stahl

Gerhard Stahl: Wir müssen vielleicht ein bisschen genauer hinschauen, worum es bei dieser Auseinandersetzung geht. Und vielleicht muss man sich auch die Zeit nehmen, sich das chinesische Wirtschaftsmodell genauer anzuschauen. Nur dann kann man verstehen, was sich hinter dem Begriff Subventionen verbirgt und was es mit der ungleichen Wettbewerbssituation zwischen europäischen und chinesischen Firmen auf sich hat.

Es ist nämlich gar nicht so einfach festzulegen, was unzulässige Subventionen sind. Wenn man sich ansieht, auf welche Weise die Chinesen bei der Produktion von E-Autos wettbewerbsfähig geworden sind, dann verbirgt sich dahinter eine langjährige Industriepolitik mit allen Elementen, die das chinesische Wirtschaftsmodell auszeichnen.

Auf der einen Seite ist China in vielem noch ein Entwicklungsland, und auf der anderen Seite ist es inzwischen eines der wirtschaftlich und technologisch am höchsten entwickelten Länder. Es ist also beides gleichzeitig. Und das ist auch kein Wunder, denn mit 1,4 Milliarden Menschen macht die chinesische Bevölkerung fast ein Fünftel der Weltgemeinschaft aus. Deshalb hat China zum Teil einen geregelten Markt, eine eher staatlich orientierte Wirtschaft.

Im Agrarbereich zum Beispiel gibt es noch kein richtiges Privateigentum. Auf der anderen Seite hat China Wirtschaftszonen, die so groß sind wie einzelne europäische Länder, in denen es eine sehr intensive Marktwirtschaft und eine sehr offene Wirtschaft gibt.

Und China versucht sich als dieses große Land zu entwickeln, indem es sich auf der einen Seite in die internationale Wirtschaft integriert und auf der anderen Seite seinen großen Binnenmarkt nur Schritt für Schritt öffnet, um nicht zu viele soziale und wirtschaftliche Verwerfungen zu bekommen.

Wir sind also konfrontiert mit einem System, in dem staatliche Einflussnahme und sehr wettbewerbsorientiertes, privatwirtschaftliches Verhalten gleichzeitig stattfinden.

▶ Können Sie es konkreter machen? Auf welche Art und Weise unterstützt der chinesische Staat die Unternehmen? Und wo wird es vielleicht auch kritisch mit Blick auf unerlaubte Subventionen?

Gerhard Stahl:Nehmen wir das Beispiel der Elektromobilität und Batterietechnologie. Beides wurde im Rahmen der Strategie "China 2025" langfristig gefördert. Das betraf den Bereich der Forschung, aber auch konkrete Hilfen durch einzelne Provinzen für Unternehmen, die in diesem Bereich besonders aktiv waren.

Anschließend gab es viele dezentrale Maßnahmen. Zum Beispiel mussten in den großen Städten plötzlich sämtliche Taxis Elektroautos sein. Der Autobauer BYD, "Build Your Dreams", konnte zum Beispiel die eigene Technologie sehr stark dadurch entwickeln, dass in Shenzhen zunehmend alle Taxis Elektrotaxis wurden.

Dann haben einzelne Städte gesagt: Wenn man ein neues Auto zulassen möchte, gibt es bessere und schnellere Möglichkeiten für Elektroautos. Hinzu kommen ganz unterschiedliche Kaufprämien. Auf dem Lande gab es solche Prämien beim Kauf von Elektroautos zum Beispiel nicht, dafür in den entwickelten Metropolen, wo man auch mit Blick auf die Umweltverschmutzung keine Benziner mehr wollte. Dort gab es Kaufprämien.

Das sind alles Förderungen, die am Ende dazu geführt haben, die E-Auto-Industrie aufzubauen. Kompliziert ist es, einzelne davon herauszugreifen, denn sie wirken im Zusammenspiel.

▶ Aus meiner Sicht klingt das ganz vernünftig. So müsste man es doch machen, oder?

Gerhard Stahl: Ja, es klingt sehr vernünftig. Und in gewisser Weise machen wir es ja ähnlich. Vielleicht liegt der Schlüssel darin, dass man die Förderung auch hierzulande strategischer angeht.

Zum Beispiel, dass man eine Kaufprämie für Elektroautos nicht dann absetzt, wenn sich die Konsumenten erst nach und nach auf diese neue Technologie einstellen.

Staatliche Orientierung heißt doch auch, dass der Staat in der Lage sein muss, diese Orientierung über längere Zeit durchzuhalten. Beispielhaft sieht man das gerade an der Diskussion über die Umsetzung der EU-Vorgaben zum Abbau der CO2-Belastung und damit auch der Vorgaben für Autounternehmen, um ihre Flottenziele zu erreichen. Das soll jetzt wieder aufgeweicht werden. Und damit haben wir wieder eine neue Diskussion über die Vorgaben der EU.

▶ Bleiben wir noch beim aktuellen Handelskonflikt zwischen der EU und China. Wie könnte man ihn so lösen oder zumindest entschärfen, dass zum einen die deutschen Autobauer gute Wettbewerbschancen haben, aber auch die chinesische Seite zufrieden ist?

Gerhard Stahl: Ich denke, wir können den Konflikt lösen, wenn wir einen Teil des chinesischen Erfolgsmodells übernehmen. Einerseits sollten wir energisch verhandeln und auch, wenn notwendig, Zölle ankündigen oder tatsächlich einführen, um die Wettbewerbsungleichheit, die sich im Laufe der Jahre entwickelt hat, etwas auszugleichen.

Gleichzeitig müssen wir aber sicherstellen, dass unsere Unternehmen auf dem chinesischen Markt präsent sind und dort auch an der technologischen Entwicklung teilnehmen. Das ist im übrigen auch im Interesse der chinesischen Unternehmen. Ich habe vorhin die Strategie der zwei Kreisläufe erwähnt, wonach China nach wie vor am internationalen Wettbewerb teilnehmen möchte.

Einzelne europäische Firmen stellen sich darauf ein. Volkswagen zum Beispiel ist eine Kooperation mit einem chinesischen Start-up eingegangen, hat dort eine Minderheitsbeteiligung und bereits beschlossen, zwei neue Elektromodelle in China zu entwickeln.

Warum? Weil dieses Start-up viel mehr Know-how hat und die Bedürfnisse der jungen chinesischen Käufer viel besser kennt, die z.B. deutlich stärker an Informatik und Software interessiert sind.

Volkswagen ist sehr stark und war lange Zeit in China Marktführer in der traditionellen Automobiltechnologie. Beides kann man verbinden mit dem Ziel, dass die deutsche und die europäische Automobilindustrie auch international wettbewerbsfähig bleibt. Man darf ja auch nicht nur auf China schauen, sondern es geht auch darum, künftig auf den internationalen Märkten zu bestehen.

Der Chef von Stellantis, diesem großen europäischen Unternehmen, zu dem unter anderem Opel, Citroën und Peugeot gehören, hat zu recht gesagt, wir sollten beim Abbau der Emissionsbelastung mit Blick auf die einzelne Autounternehmen bei unseren europäischen Zielen bleiben, damit die Autounternehmen Planungssicherheit für Investitionen haben.

Wenn wir jetzt plötzlich wieder die Orientierung ändern und z.B. die Übergangszeiten verlängern, dann müssen Unternehmen in die alte Welt, also den Verbrenner, und gleichzeitig in die neue Welt, die Elektromobilität, investieren.

Deshalb sollten wir die Orientierung auf Elektromobilität beibehalten, aber die chinesischen Konkurrenten dazu zwingen, das Know-how, das wir noch nicht haben, mit uns zu teilen – entweder in China oder dadurch, dass sie hier in Europa Batteriefabriken und andere chinesische Unternehmen aufbauen, die dann einen Teil der Wertschöpfung auch in Europa schaffen.

Ich glaube, dass die Doppelstrategie genau das Richtige ist. Nämlich auf der einen Seite den chinesischen Partnern zu zeigen, dass man Instrumente hat, um den Wettbewerb wieder ausgeglichener zu gestalten und man auch nicht bereit ist, eine zu massive Präsenz chinesischer Exporte zu akzeptieren. Aber dass man gleichzeitig natürlich weiß, dass es derzeit immer noch mehr deutsche bzw. europäische Investitionen in China gibt als umgekehrt chinesische in Deutschland und Europa – auch im Automobilsektor.

Wenn wir verhindern wollen, dass die massive technologische Veränderung eines Schlüsselbereichs wie der Automobilindustrie bei uns zu schnell zu viele Arbeitsplätze kostet und unsere Unternehmen bedroht, dann müssen wir eine Übergangslösung finden, die heißt: Wir setzen uns dem Wettbewerb aus, aber wir machen das in einer geplanten und gestaltbaren Weise. Die Chinesen machen es genau so.

Und damit sind wir wieder bei der "Dual Circulation", dem doppelten Kreislauf. Das heißt, China entwickelt den eigenen Binnenmarkt, möchte aber gleichzeitig, dass seine Unternehmen auf dem internationalen Markt wettbewerbsfähig werden und dort immer präsenter sind. Genau das müssen wir übernehmen.

▶ Sie haben jetzt geschildert, wie aus Ihrer Sicht Kompromisse möglich sind. Und das klang ziemlich optimistisch. Aber denken wir mal in die andere Richtung – wenn sich dieser Streit verfestigt. China beklagt sich ja zum Beispiel schon seit längerem über angeblich unzulässige EU-Agrarsubventionen.

Und jetzt will Peking unter anderem Strafzölle auf Schweinefleisch, Milch und Milchprodukte aus der EU erheben. Wie weh könnte das den Produzenten in der EU tun?

Gerhard Stahl: Handelsauseinandersetzungen laufen genau so ab wie eben von Ihnen beschrieben. Wenn unterschiedliche wirtschaftliche Interessen aufeinandertreffen, überlegt man, wo man Stärken hat und wo man den anderen unter Druck setzen kann. Die EU hatte diese Erfahrung mit den USA, wo es einen "Hähnchenkrieg" gab und man sich mit gegenseitigen Zöllen gedroht hat.

In ähnlicher Weise läuft das auch mit China ab. China ist ein sehr wettbewerbsorientierter und auch sehr energischer Verhandler. Wenn man der chinesischen Regierung und den chinesischen Unternehmen nicht aufzeigt, dass es bestimmte Barrieren gibt, dann wird ein wettbewerbsorientiertes System wie das chinesische versuchen, alle Chancen wahrzunehmen.

Ich komme aber zurück auf die chinesische Doppelstrategie, die auch Europa anwenden sollte. Nämlich zu sagen: Wir haben Instrumente, die sicherstellen, dass die Ungleichheit des Wettbewerbs nicht zu groß wird. Wir kündigen an, dass wir diese Instrumente auch benutzen werden. Gleichzeitig teilen wir euch aber mit, dass wir weiterhin ein Interesse an intensiven Wirtschaftsbeziehung haben.

Und jetzt einigen wir uns drauf, was notwendig ist, damit diese Wirtschaftsbeziehungen für uns beide Sinn machen. Und dann kann man sehr konkret werden.

▶ Für mich schließt sich allerdings die Frage an, ob Europa auf lange Sicht mit China wirklich mithalten kann. Die Chinesen haben ehrgeizige Wirtschaftsprogramme wie "China 2025", das im nächsten Jahr ausläuft und an das sich gleich das nächste Zehnjahresprogramm anschließt. Es enthält konkrete Pläne für alle wirtschaftlichen Schlüsselbereiche. Kann Europa da wirklich Kontra geben bzw. davon profitieren?

Gerhard Stahl: Wenn wir die richtige Politik entwickeln, glaube ich, dass Europa sehr viel mehr Chancen hat, als wir das bisher wahrnehmen.

Denn Europa hat sich ja schon sehr stark verändert. Häufig wird übersehen, dass die im Weltmaßstab kleinen europäischen Nationalstaaten schon eine sehr dynamische Entwicklung hinter sich haben, siehe die zunehmende Orientierung auf den europäischen Binnenmarkt. Wenn Sie sich anschauen, wie sehr sich Länder wie Spanien, Portugal oder neu hinzugekommene wie Polen, Tschechien und die Slowakei verändert haben, dann stellen sie fest, dass die europäischen Länder eine hohe wirtschaftliche Dynamik entwickeln können.

Es fängt an ein Problem zu werden, wenn wir in der Politik und in der Wirtschaft nicht erkennen, dass es inzwischen andere Spielregeln gibt als die, die noch in den Köpfen einiger Ökonomen stecken, die noch von der deutschen Nationalökonomie ausgehen und Empfehlungen geben, die Sinn gemacht haben, als unsere Volkswirtschaften noch weitgehend abgeschlossen waren.

Heute müssen wir akzeptieren, dass es ein Zusammenspiel von Industriepolitik und Privatwirtschaft geben muss. Und die EU geht genau in diese Richtung. Sie hat z.B. Strategien entwickelt für den Aufbau von europäischen Batteriekompetenzen, einer europäischen Chipproduktion oder den Zugriff auf wichtige Rohstoffe.

Wir fangen an, genau das zu kopieren, womit die Chinesen erfolgreich waren, nämlich eine längerfristige industriepolitische Orientierung, die den Unternehmen Planungssicherheit für ihre Investitionen geben soll. Nun ist weder jede privatwirtschaftliche Entscheidung noch jede staatliche Maßnahme per se erfolgreich.

Deshalb kommt es darauf an, dieses Zusammenspiel zwischen staatlicher Orientierung und privatwirtschaftlichem Wettbewerb gut zu organisieren. Und ich denke, da ist Europa besser auf dem Weg als man das häufig in der öffentlichen Debatte wahrnimmt.

▶ Bereits 2020 hatten sich die EU und China nach langen Verhandlungen auf ein umfassendes Investitionsabkommen geeinigt. Darin verpflichteten sich die Chinesen unter anderem, ihren Markt für Investoren aus der EU weiter zu öffnen, europäische Unternehmen sollten fairer behandelt werden u.s.w.

Genau das hatten die Europäer lange Zeit gefordert. Trotzdem liegt dieses Abkommen immer noch auf Eis, weil es in der EU politisch so nicht durchzusetzen ist. Glauben Sie, dass dieses Abkommen noch eine Zukunft hat?

Gerhard Stahl: Ich hoffe sehr, dass dieses Abkommen noch eine Zukunft hat. Meiner Meinung nach zeigt es, wie die europäische Politik und die europäische Öffentlichkeit umdenken müssen. Warum wurde es nicht ratifiziert? Immerhin wurde sieben Jahre lang darüber verhandelt.

Und am Ende stellte die EU-Kommission fest, dass die Zugeständnisse der chinesischen Regierung bei der weiteren Marktöffnung, beim Patentschutz und in weiteren Punkten ausreichend seien, um das Abkommen den Mitgliedsstaaten und dem Europaparlament vorzulegen. Im Europaparlament gab es dann Bedenken wegen Menschenrechtsfragen. Und diese Menschenrechtsdebatte wird sehr stark von den USA auch aus politischen Gründen vorangebracht.

Wenn wir sehen, welche Berichte in den USA immer stärker auf Menschenrechtsprobleme in China hinweisen, dann stellen wir fest, dass die Debatte über Menschenrechte auch ein Instrument der Geopolitik geworden ist.

Und Europa muss sich jetzt überlegen: Kann es sich leisten, unabhängig mit China Vereinbarungen im europäischen Interesse zu treffen? Oder gibt es einen Schulterschluss nach der Devise: Demokratien gegen autoritäre Systeme?

Ich glaube, es wäre eine strategische Fehlentscheidung, wenn sich Europa darauf einlassen würde, dass sich Demokratien gegen autoritäre Staaten zusammenschließen und deshalb wirtschaftliche Entwicklungen abbrechen müssen. Sollte das geschehen, würden wir unseren Wohlstand für eine Orientierung auf's Spiel setzen, die nicht der Realität entspricht.

▶ Ich würde Sie gern noch nach Ihren persönlichen Erfahrungen als Honorarprofessor in China fragen. Sie sind an einer Universität in der Sonderwirtschaftszone Shenzhen tätig, einem Gebiet, wo es wirtschaftlich brummt. Nun sind die Beziehungen zwischen Deutschland und China gerade auf einem Tiefpunkt oder zumindest ziemlich ramponiert.

Wie erleben Sie das bei Ihrer Arbeit in China? Begegnet man Ihnen mit Vorbehalten oder können Sie frei argumentieren, auch Kritik an China und den Beziehungen zwischen China und der EU äußern?

Gerhard Stahl: Ich kann in Shenzhen und an der Peking-Universität HSBC Business School frei agieren. Ich weiß, dass es in China Bereiche gibt, wo die Freiheit eingeschränkt ist. Und ich weiß natürlich auch, dass die Freiheit der Lehre für mich die Voraussetzung ist, um überhaupt als Professor aktiv zu sein. Und ich muss sagen, in Shenzhen, in meinem Umfeld kann ich das.

Jetzt ist es in einem Gespräch wie diesem sehr schwierig, die Differenziertheit unserer Welt angemessen darzustellen. Wenn ich vorhin darauf hingewiesen habe, dass eine Konfrontation zwischen Demokratien und autoritären Systemen für die wirtschaftlichen Interessen Europas nicht sinnvoll ist, dann heißt das natürlich nicht, dass sich Europa nicht an Grundrechten, an Menschenrechten orientieren muss.

Und dann heißt es natürlich auch nicht, dass unsere Wirtschaft nicht auf Menschenrechte Acht geben muss.

Wir haben zu Recht gerade ein Lieferkettengesetz beschlossen, das auch unsere Unternehmen in die Pflicht nimmt. Ich sage aber: Wir müssen diese Debatte so führen, dass sie das Ziel erreicht. Wir dürfen uns durch eine solche Debatte nicht in wirtschaftliche Entscheidungen zwingen lassen, die weder die Menschenrechte voranbringen, noch unseren Wohlstand fördern.

Dietmar Ringel sprach mit dem Wirtschaftswissenschaftler Prof. Gerhard Stahl, der lange Zeit in Brüssel für das Europaparlament und die EU-Kommission tatig war, darunter als stellvertretender Kabinettschef für den EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung. Derzeit ist er Honorarprofessor an der Peking University HSBC Business School im chinesischen Shenzhen.

Sein neues Buch "China – Dangerous Rival or Cooperation Partner?" erscheint in Kürze auf Englisch. Auf Deutsch ist 2022 bei Dietz sein Buch "China – Zukunftsmodell oder Albtraum?" erschienen.