EU im Autofieber: 15.000 km an Schienen weg, dafür 30.000 km neue Autobahnen
Das Straßennetz wuchert weiter, Bahnschienen verschwinden, und das seit 30 Jahren. Eine Studie zeigt das Ausmaß: Deutschland investiert falsch, andere Länder überraschen. Was Experten fordern.
Der Verkehr ist nach wie vor der einzige Sektor in der EU, der seine Treibhausgasemissionen in den letzten drei Jahrzehnten nicht nur nicht gesenkt, sondern sogar kontinuierlich erhöht hat. Die verkehrsbedingten Emissionen sind im Zeitraum von 1995 bis 2019 um 15 Prozent gestiegen.
Ein zentraler Grund dafür ist eine verfehlte Verkehrspolitik in fast allen EU-Ländern, während sich die Klimakrise verschärft. So zeigt eine neue Studie vom Wuppertal Institut und dem T3 Transportation Think-Tank, in Auftrag gegeben von Greenpeace Zentral- und Osteuropa, dass seit 1995 in Europa im Durchschnitt 66 Prozent mehr in den Ausbau und die Sanierung von Autobahnen als in den Schienenverkehr investiert worden ist: 1,5 Billionen Euro für die Straßeninfrastruktur, aber nur 930 Milliarden Euro für die Schiene.
Diese einseitige Finanzierung geht einher mit einem Anstieg der Länge der europäischen Autobahnen um 60 Prozent seit 1995 (mehr als 30.000 Kilometer), während die europäischen Eisenbahnstrecken um 6,5 Prozent bzw. 15.650 Kilometer (km) schrumpften. Die größten absoluten Verluste gab es in Deutschland, Polen und Italien.
Etwa 13.700 km meist regionaler Eisenbahnstrecken und mehr als 2.500 Bahnhöfe wurden in den letzten drei Jahrzehnten in Europa vorübergehend oder dauerhaft für den Personenverkehr geschlossen. In Deutschland sind es 2.700 verlorene Schienenkilometer (mehr als zehn Prozent weniger) und 270 geschlossene Bahnhöfe. Zugleich wurden hierzulande über 2.000 Autobahn-Kilometer neu gebaut (plus 18 Prozent).
Mehr als die Hälfte der stillgelegten Streckenkilometer könnte der Studie zufolge aber relativ einfach wieder in Betrieb genommen werden. In Deutschland sind es über 1.000 Kilometer, die schnell für den Personenverkehr wiederverwendet werden könnten.
Von dem Schienen-Abbau sind vor allem ländliche Gemeinden betroffen, die unter dem eingeschränkten Zugang zur Bahn und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln leiden. Das hat dazu beigetragen, dass die Nachfrage im motorisierten Straßenverkehr zwischen 1995 und 2019 um 29 Prozent gestiegen ist.
Und damit auch die Treibhausgase. Pkw, Lieferwagen und Lkw sind für 72 Prozent der Verkehrsemissionen in Europa verantwortlich, während der Schienenverkehr nur 0,4 Prozent ausmacht.
Durch die autozentrierte Investitionspolitik, so die Studie, seien die Menschen ermutigt worden, das Auto zu benutzen, anstatt nachhaltige öffentliche Verkehrsmittel. Eine durchschnittliche Bahnfahrt produziert in Europa pro Personenkilometer 77 Prozent weniger Treibhausgasemissionen als eine Autofahrt.
Zudem weisen eine Reihe von Untersuchungen und Daten darauf hin, dass ein dichtes und gut ausgebautes Schienennetz der Schlüssel dazu ist, den öffentlichen Verkehr für die Menschen zugänglich und attraktiv zu machen, wodurch die Umweltbelastung sinkt.
Die neue Verkehrsstudie hat die Investitionen in den 27 EU-Ländern sowie Norwegen, die Schweiz und Großbritannien untersucht. Lorelei Limousin, leitende Klimaexpertin von Greenpeace EU stellt angesichts der Ergebnisse fest:
Millionen von Menschen außerhalb der Städte haben keine andere Wahl, als ein Auto zu besitzen, um zur Arbeit zu kommen, ihre Kinder zur Schule zu bringen oder Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen zu haben, da sie in Gebieten mit wenig oder gar keinem öffentlichen Verkehr leben. Das ist eine direkte Folge der Tatsache, dass die Regierungen lokale und regionale Eisenbahnnetze abbauen, während sie das Geld in den Straßenbau stecken.
Die verkehrsbedingte Klimabelastung steigt ins Unermessliche, und wir haben gesehen, wie die Menschen in Europa und auf der ganzen Welt unter den Folgen leiden. Die Regierungen und die EU müssen den Abbau unserer Bahnstrecken stoppen, stillgelegte Strecken wieder eröffnen und in die Schiene investieren – und die massiven Subventionen für Straßen stoppen, die das Klima zerstören, die Luft verschmutzen und das Leben der Menschen unglücklich machen.
Deutschland liegt mit 111 Prozent mehr Ausgaben für Autobahnen als für die Schiene (278 Milliarden versus 132 Milliarden Euro) im Übrigen deutlich über dem Durchschnitt von 66 Prozent Steigerung europaweit. Interessanterweise haben Österreich und Großbritannien mehr für Entwicklung der Eisenbahn ausgegeben: in Österreich sind es zwölf Milliarden versus 33 Milliarden Euro und in Großbritannien 150 Milliarden versus 170 Milliarden Euro.
Die Ampel-Regierung auf Crash-Kurs
Für Großbritannien ist das besonders bemerkenswert, da das Land lange Zeit für den schlechten Zustand seiner Bahnstrecken bekannt gewesen ist, eine Folge des Liberalisierungsprozesses, gestartet unter der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher.
Deutschland mit seiner langen Tradition, die Straße zu bevorzugen, gehört zu den Ländern mit der höchsten Autobahndichte. Hierzulande gibt man auch weiter doppelt so viel Geld für Straßen aus wie für Schienenwege. Eine signifikante Veränderung ist nicht abzusehen. So lagen die Investitionen für die Schiene pro Einwohner im Jahr 2018 bei 91,5 Euro, für die Autobahnen bei 190,7 Euro.
Die deutsche Ampel-Regierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag eigentlich beschlossen, einen Dialog über Prioritäten für den Ausbau der Bundesinfrastruktur zu beginnen. Doch der aktuelle Bundesverkehrswegeplan bis 2030 favorisiert nach wie vor den Autobahnausbau, der, wie Forscher warnen, hohe Risiken bei den Investitionskosten in sich berge. Zudem will man eine Reihe von Autobahnausbauprojekten sogar noch beschleunigen.
In Wales geht man einen anderen Weg. Dort sollen nach dem National Transport Delivery Plan Investitionen in neue Straßenbauprojekte ausdrücklich reduziert und andere Prioritäten gesetzt werden. Dem Zufußgehen und Radfahren wird Vorrang einräumt, gefolgt von den öffentlichen Verkehrsmitteln.
Zahlreiche Projekte und Initiativen für den öffentlichen Verkehr, zum Aufladen von Elektrofahrzeugen, zur Erleichterung des kombinierten Reisens mit verschiedenen Transportmitteln sowie Verhaltensänderungen sollen die Verkehrswende beflügeln. Damit will man dem Kreislauf (mehr Straßen, mehr Autoverkehr), der von Verkehrsforschern als selbsterfüllende Prophezeiung bezeichnet wird, entkommen.
Die Studienautoren fordern von den Regierungen in Europa – gemäß ihrer Verpflichtungen, Energie- und Verkehrsarmut zu bekämpfen und die Pariser Klimaziele einzuhalten – eine Kehrtwende in der Verkehrspolitik.
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Während sich die europäischen Regierungen darauf vorbereiten, ihre Haushalte für das nächste Jahr festzulegen, verlangt Greenpeace von den politischen Entscheidungsträgern auf nationaler und EU-Ebene, die Finanzierungsprioritäten endlich von der Straße auf die Schiene zu verlagern, die Schieneninfrastruktur besser instand zu halten und den öffentlichen Verkehr erschwinglicher zu machen.
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