Egoismus ist nicht Solidarität

Seite 2: Alles zu kompliziert?

Timo Rieg lehnt eine Beteiligung an den Krankheitskosten aber nicht nur aus inhaltlichen Gründen ab. Nein, seiner Meinung nach lässt sich das auch nicht in der Praxis umsetzen. Es sei zu kompliziert.

Es ist eine beliebte Strategie, sich in immer komplizierteren Details zu verlieren, wenn jemandem eine Maßnahme nicht gefällt. So weicht man der Diskussion aus. Das machen beispielsweise auch Gegner der Vermögenssteuer (siehe hier etwa mehrmals Richard David Precht im Gespräch bei Jung & Naiv). Was man da alles erheben müsste! Nein, viel zu kompliziert.

Und doch gab es bis in die 1990er in Deutschland eine Vermögenssteuer – dann wurde sie aus formalen Gründen vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Seitdem hat sich der Gesetzgeber zu keiner neuen Lösung aufgerafft. Ein Schelm, wer denkt, dass das mit Lobbyismus der Vermögenden zu tun hat.

Und doch gibt es in vielen anderen Ländern eine Vermögenssteuer. Alles kompliziert? Hier in den Niederlanden gibt man halt bei der Steuererklärung bestimmte Vermögenswerte zum Jahresbeginn an. Ab einer bestimmten Grenze zahlt man vielleicht ein Prozent Steuern. Es dauert nur ein paar Minuten, abhängig vom Zustand der eigenen Buchführung.

Rechtsstaat

Kommen wir noch einmal zu den Krankheitskosten zurück. Weiter oben haben wir für einen konkreten Fall gesehen, wie eine Versicherung nach einem selbstverschuldeten Unfall 1.971,94 von 8.684,94 Euro zurückforderte. Inwiefern ist das "zu kompliziert"?

Doch, so Rieg: "Wenn die Behandlungskosten zumindest für einzelne Unfälle und Krankheiten potenziell von den Patienten oder ihren Erben zurückgefordert werden können bzw. müssen, sind neue Kontrollen und gerichtliche Streitverfahren en masse vorprogrammiert."

Wie ich meine und gezeigt habe, ist der Autor hier nicht richtig informiert. Solche Fälle gibt es bereits. Ebenso gibt es Rechtsstreitigkeiten über Äste, die in Nachbars Garten hineinragen, die bis vor den Bundesgerichtshof kommen. Oder viele andere Skurrilitäten. Und doch ist der Rechtsstaat noch nicht untergegangen!

Im Übrigen braucht man als Erbe nicht die Schulden eines anderen zu übernehmen. Voraussetzung ist die fristgerechte Ausschlagung beim zuständigen Nachlassgericht (§ 1944 BGB). Auch das ist nicht komplizierter als viele andere Verwaltungsakte.

Es geht um Solidarität

Meinen schärfsten Einwand gegen Timo Rieg habe ich mir aber für den Schluss aufgehoben. Erinnern wir uns noch einmal, worum es hier geht: um Solidarität.

Schon in meinem Artikel vom November verwies ich auf einen konkreten Fall aus meinem Bekanntenkreis. Ein Mann mit Darmproblemen wurde in der Coronapandemie von der zuständigen Fachklinik immer wieder abgewiesen, weil man mit Covid-Patienten überlastet war.

Als der Hausarzt schließlich keinen weiteren Aufschub mehr duldete und der Mann endlich die nötige Untersuchung erhielt, war es zu leider spät: Darmkrebs mit Metastasen; keine Behandlung mehr möglich. Genießen Sie die letzten Wochen Ihres Lebens! Er hinterlässt eine Frau und eine Tochter (eine Freundin meiner damaligen Partnerin).

Das sind nicht nur Einzelfälle. Sowohl in meinem Artikel vom November als auch in meiner Replik auf Timo Rieg verwies ich auf eine Studie von Onkologen, wonach während der Coronapandemie weltweit jede siebte potenziell lebensrettende Tumoroperation abgesagt wurde. Hinter dieser Statistik stehen unzählige Einzelschicksale – und Krebs ist auch nicht die einzige gefährliche Erkrankung.

Was ist nun Riegs Antwort? "Dass es irgendwo zur viel beschworenen Triage gekommen wäre (Entscheidung, den Krebspatienten oder den Covid-Patienten zu behandeln) ist mir nicht bekannt." Triage bedeutet aber nicht nur, unmittelbar lebensrettende Maßnahmen zu priorisieren – im weiteren Sinne geht es auch um den Zugang zu Untersuchungen und Behandlungen, die ebenfalls lebensnotwendig sein können.

Der größte Irrtum des Autors und vielen anderen Gegnern meines Vorschlags besteht darin, "sozialethische Mindeststandards", die Interessen der "Versichertengemeinschaft" und "sozialwidriges Verhalten", um einige Schlagwörter aus den Gerichtsurteilen noch einmal aufzugreifen, schlicht auszublenden. Dann argumentiert man meiner Meinung nach aber nicht solidarisch, sondern egoistisch.

Zusammenfassung und Ausblick

Ich komme zum Schluss und fasse zusammen: Mein Vorschlag bezog sich ausschließlich auf die außerordentlichen Umstände einer Pandemie. Wenn ein sicherer und wirksamer Impfstoff zur Verfügung steht, und seiner Verwendung keine medizinischen Gründe entgegenstehen, dann sollte man Menschen, die sich nicht impfen lassen, im Krankheitsfalle in sozial angemessener Weise an den Behandlungskosten beteiligen.

Wer sich aber umgekehrt nicht um die Schicksale der Patientinnen und Patienten kümmert, deren Behandlungen nicht wie geplant ausgeführt werden können, und wer sich nicht für den dauerhaften Druck auf die Gesundheits- und Pflegekräfte interessiert, der kann mir vieles weismachen – aber nicht, dass es ihm um Solidarität geht!

Mehrere Indizien sprechen dafür, dass das schon der heutigen Rechtslage entspricht: Bei Selbstverschulden können die Betroffenen – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – an den Krankheitskosten beteiligt werden.

Das Vorliegen hierfür nötigen Voraussetzungen müssen die Krankenkassen nachweisen. Dabei prüfen sie natürlich auch die Aussicht auf Erfolg. Gegen so eine Rechnung steht der Rechtsweg offen. Wer sich keinen Anwalt leisten kann, bekommt Rechtsbeihilfe. Auch das ist Solidarität.

Da die bestehenden Gesetze nicht unter dem Eindruck der Pandemie entstanden, sollte man sie nachbessern, falls der Gesetzgeber dem Prinzip Verantwortung folgen will. So schrieb er es aber schon 2007 in der Gesetzesbegründung des § 52 SGB V:

In § 52 ist den Krankenkassen das Recht eingeräumt, Versicherte, die sich eine selbstverschuldete oder selbst zu verantwortende Krankheit zugezogen haben, an den Krankheitskosten zu beteiligen und Krankengeld ganz oder teilweise zu versagen oder zurückzufordern.

Aus dem Gesetzesentwurf vom 7. Dezember 2007

Menschliche Schicksale

Die Kostenrechnung, die Timo Rieg für intensivmedizinische Behandlungen aufstellt, ist meiner Meinung nach nicht entscheidend. Ausschlaggebend sind für mich die Schicksale von Menschen.

Die Coronapandemie hat uns nach meinem Dafürhalten erst einen Vorgeschmack darauf gegeben, unter welchem Druck das Gesundheitssystem in Zukunft stehen wird. Auch Rieg beantwortet nicht meine Frage, wie in zehn bis 20 Jahren die Standards aufrechterhalten werden sollen, wenn die "Babyboomer" alle im Ruhestand sind.

Setzt sich aber die egoistische Sichtweise durch, dürfte sogar noch mehr Fachpersonal abspringen und sich das Problem verschärfen. Erst gestern berichtete ein Ärzteverein: "Ärzt:innen leiden unter der Pandemie. Die seit fast zwei Jahren anhaltende Covid_19-Pandemie bedeutet für Ärzt:innen eine bisher einzigartige Belastungssituation verbunden mit großen physischen und psychischen Herausforderungen."

Mein Vorschlag verlangt den Bürgerinnen und Bürgern keine dauerhafte Anspannung ab. Die nötige Arbeit leistet das Immunsystem nach einem kleinen Pikser selbst. Das ist keine höhere Magie, sondern schlicht: eine Impfung.

Wer das – ohne medizinischen Grund – partout nicht will, dem stehen immer noch persönliche Schutzmaßnahmen offen, um sich nicht zu infizieren. Dieses Prinzip Verantwortung scheint mir im Ergebnis ein schwächerer Eingriff in die individuelle Freiheit zu sein, als die derzeit heiß diskutierte allgemeine Impfpflicht.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.