Egoismus ist nicht Solidarität

Kann man sich auf Solidarität berufen, wenn man die gesellschaftliche Perspektive ignoriert? Das Prinzip Verantwortung ist schon heute Teil unserer Gemeinschaft

Im November diskutierte ich, was Solidarität in der Coronapandemie bedeuten könnte. Dabei ging ich davon aus, dass a) der Druck auf das Gesundheitssystem durch Covid-Patienten so groß ist, dass Behandlungen anderer Patientinnen und Patienten aufgeschoben werden müssen; und b) die Covid-Impfstoffe zwar nicht perfekt, doch das beste Mittel gegen schwere Krankheitsverläufe sind.

An einer Stelle schrieb ich: "Solidarität ist keine Einbahnstraße." Dieselbe Wendung verwendete erst kürzlich der Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel. Er und ich teilen die Meinung, dass man im Falle einer COVID-Erkrankung alle Menschen behandeln soll. Das ist Solidarität.

Wer aber vom besten bekannten Schutz, der Impfung, ohne medizinischen Grund keinen Gebrauch macht und dann doch schwer krank wird, den soll man an den Behandlungskosten beteiligen. Gemäß seinen finanziellen Möglichkeiten. Das ist Verantwortung.

Populistische Ideen?

Timo Rieg warf dem Richter dann die Verbreitung populistischer Ideen vor (Populismus in Richterrobe). Zum Teil drehte sich die Diskussion um die Behandlungskosten, die laut Rieg vernachlässigbar klein sind. Zum Teil ging es um die Rechtslage, insbesondere den § 52 des fünften Sozialgesetzbuchs (Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden).

Dieser beschreibt bestimmte Bedingungen, unter denen Behandlungskosten oder ein Krankengeld teilweise oder ganz versagt werden können. Ich verwies zudem auf die Gesetzesbegründung, in der von einer "selbstverschuldeten oder selbst zu verantwortenden Krankheit" die Rede ist (Krankheitskosten: Wer soll das in Zukunft noch bezahlen?).

Riegs jüngste Antwort (Nicht Geimpfte und Corona: Rechnung ohne Nebenkosten geht meiner Meinung nach in weiten Teilen an der Diskussion vorbei. Beispielsweise bezogen sich die Vorschläge auf die Ausnahmesituation der Coronapandemie seit März 2020 und nicht auf die "normalen" Bedingungen der saisonalen Grippe.

Rechtsprechung

In Teilen der Diskussion ging es um die Rechtsprechung. Auch wenn einem der Standpunkt des Präsidenten des Bundessozialgerichts nicht gefällt, könnte man trotzdem überlegen, ob darin vielleicht ein Funken Wahrheit steckt.

Denn immerhin darf man bei jemandem in seiner Funktion annehmen, dass er die Gerichtsurteile sehr gut kennt. Außerdem haben er sowie seine richterlichen Kolleginnen und Kollegen das letzte Wort zur Auslegung des Rechts.

Allein der Online-Dienst dejure.org listet zum § 52 SGB V, um den es hier hauptsächlich geht, 151 gerichtliche Entscheidungen. Wenn man darin blättert, findet man einige Urteile, die unsere Diskussion erhellen.

Beispielsweise wies das Sozialgericht Dessau-Roßlau am 24. Februar 2010 die Klage eines Mannes ab, von dem die Krankenkasse einen Teil der Behandlungskosten und des Krankengeldes zurückverlangt hat (Aktenzeichen S 4 KR 38/08). Der Kläger hatte mit 1,87 Promille, Cannabisrückständen im Blut und erhöhter Geschwindigkeit einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem außer ihm selbst zum Glück niemand geschädigt wurde.

Von den Krankheitskosten in Höhe von 8.684,94 Euro verlangte die Krankenkasse hinterher gerade einmal 1.971,94 Euro zurück, also nicht einmal ein Viertel. Doch selbst das war dem Mann zu viel, der die Gemeinschaft der Versicherten über 6.000 Euro für seinen selbstverschuldeten Unfall zahlen ließ.

Das Gericht gab der Krankenkasse Recht. Dafür war zunächst entscheidend, dass zwar nicht der Unfall, wohl aber die Gefährdung des Straßenverkehrs – durch das Fahren im Rauschzustand – vorsätzlich war. Ferner heißt es im Urteil zur Anwendung des § 52 SGB V:

Als Rechtsfolge der genannten Vorschrift ist der Krankenkasse Ermessen dahingehend eingeräumt, ob und in welchem Umfang sie den Versicherten an den Kosten seiner Behandlung beteiligt und gezahltes Krankengeld zurückfordert. Bei der Ermessensausübung hat die Krankenkasse unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles die Interessen des Versicherten mit denen der Versichertengemeinschaft abzuwägen. Kriterien sind insbesondere der Grad des Verschuldens, die Höhe der Aufwendungen der Krankenkasse, die finanzielle Leistungsfähigkeit des Versicherten sowie dessen Unterhaltsverpflichtungen.

Aktenzeichen, S 4 KR 38/08, Rn 16

Selbst in so einem Fall, in dem die Verantwortung für den Unfall deutlich ist, wird also noch abgewogen: Was ist dem Unfallverursacher zumutbar? Im Ergebnis ist es ein Bruchteil. Auch das ist ein Ausdruck von Solidarität.

In einem anderen Fall ging es um die Minderung einer Erwerbsminderungsrente. Das Hessische Landessozialgericht erklärte zum § 52 SGB V, dass es hier um "die Versagung von sozialem Schutz bzw. sozialer Sicherheit" geht, "weil der Betreffende durch sein strafrechtlich als Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen zu bewertendes Verhalten sozialethische Mindeststandards verletzt hat" (Aktenzeichen L 5 R 129/14, Rn 25). Hierzu verweist das Gericht auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die dessen Präsidenten Rainer Schlegel geläufig sein dürfte.

Tatsächlich geht es in den Entscheidungen oft um Straftaten, weil hier der Vorsatz (die Absicht) geklärt wurde. Das Bundessozialgericht diskutiert in einer Entscheidung aber auch "sozialwidriges Verhalten" im Zusammenhang mit dem § 52 SGB V und Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit (Aktenzeichen B 4 AS 39/12 R).

Nun wäre ich der Letzte, der im Zusammenhang mit stigmatisierenden Kategorien wie "sozialwidrig" nicht zur Vorsicht mahnen würde. Man darf insbesondere in Deutschland nicht vergessen, wie beispielsweise im Dritten Reich mit sogenannten "Asozialen" (das waren damals etwa Alkoholkranke, Arbeitsunwillige, Prostituierte) umgegangen wurde (nämlich Zwangssterilisierungen und/oder "Schutzhaft" im Konzentrationslager). Eine individuell abgewogene Kostenbeteiligung bei Selbstverschulden, gegen die der Rechtsweg offensteht, ist aber offensichtlich von ganz anderer Art.

Realität statt Dammbruch

Behalten wir das im Hinterkopf. Bis hierher haben wir aber bereits mehrere Hinweise darauf gesammelt, dass eine Kostenbeteiligung unter bestimmten Bedingungen nicht nur theoretisch zulässig, sondern gängige Praxis ist – schon nach heutigem Recht.

Es überrascht aber nicht, dass die Gesetzeslage für den Fall einer Pandemie unklar ist. Denn bei Verabschiedung des § 52 SGB V konnte der Gesetzgeber die Corona-Pandemie noch nicht vor Augen haben.

Das heißt aber auch, dass diejenigen, die hier vor einem Dammbruch warnen, wichtige Fakten übersehen. Es gibt Solidarität im Sozial- und Gesundheitswesen, ja. Diese gilt aber nicht grenzenlos. Solidarität ist eben keine Einbahnstraße.

Trotzdem schreibt Timo Rieg: "Nein, auch Extremsport und andere Hobbys sind nicht von der Krankenkassenleistung ausgeschlossen." Das ist allein schon darum falsch, weil § 52 SGB V die Übernahme von Krankheitskosten nach Tätowierungen oder Piercings ausdrücklich ausschließt.

Darf man Körperschmuck und -Verzierung etwa nicht als Hobby ansehen? Und warum sollte die Gesellschaft dafür aufkommen, wenn jemand wegen seiner ästhetischen Vorlieben krank wird, im schlimmsten Fall einschließlich Krankentagegeld?

Auch beim Sport hängt es von den Umständen ab. Überschätzt jemand beispielsweise seine Fähigkeiten erheblich und verletzt sich darum, wird mitunter von Selbstverschulden mit "bedingtem Vorsatz" gesprochen. Ähnliches gilt für Sportarten mit unvorhersehbarem Risiko wie dem Kickboxen.

Das ist nur logisch: Skifahren außerhalb der Pisten, Apnoe-Tauchen ohne Vorbereitung, Klettern ohne Seil, Skydiving, Fallschirmspringen und viel mehr – das ist alles in einem liberalen Rechtsstaat erlaubt. Doch es sind Freizeittätigkeiten mit erheblichem Risiko. Bei einem Unfall die Krankheitskosten der Allgemeinheit aufzubürden, ist nicht solidarisch. Es ist egoistisch.