Nicht Geimpfte und Corona: Rechnung ohne Nebenkosten
Wie die Debatte über eine Kostenbeteiligung ungeimpfter Patienten einer stationären Covid-Erkrankung von Auslassungen und Erwartungen verzerrt wird. Ein Debattenbeitrag
In einer Entgegnung auf meinen Telepolis -Beitrag "Populismus in Richterrobe" unterstützt Stephan Schleim die Forderung, ungeimpfte Coronapatienten an den Kosten ihrer Behandlung zu beteiligen, sollten sie auf einer Intensivstation landen. So hatte es zuletzt der Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, gefordert.
Die Diskussion um ein Einzelthema wie die Beteiligung an Covid-Behandlungskosten muss zunächst im medialen Kontext und den massiven damit einhergehenden Grundproblemen gesehen werden. Ohne die nun zwei Jahre währende Dauerbeschallung mit all ihren Fehlern, Falschbehauptungen, Verzerrungen, Unvollständigkeiten etc. würden wir ganz sicher derzeit, auch bei sonst unverändertem Weltgeschehen, ganz andere Dinge diskutieren.
Aber Corona absorbiert alle Aufmerksamkeit, und wer Aufmerksamkeit braucht – wir Journalisten etwa –, muss den Markt bedienen. Dass sich dabei sehr früh eine Richtung durchgesetzt hat, in die fast jeder mitläuft, der noch irgendwie Karriere machen möchte oder auch nur seinen sozialen Status nicht verlieren mag, ist Teil einer umfassenden Medienkritik, die in acht Teilen bei Telepolis veröffentlicht wurde (Updates dazu im Blog Spiegelkritik).
Alles, was im Zusammenhang mit Corona diskutiert wird, hätte man seit Anbeginn der Bundesrepublik Deutschland auch anhand der Grippe diskutieren können. Hat man aber nicht – zumindest nicht im nennenswerten Stil und mit erwähnenswerten Auswirkungen auf das Leben –, es gab genug andere Themen. Alle Argumente, die für eine Selbstbeteiligung Ungeimpfter sprechen, gelten für Corona genauso gut oder schlecht wie für Influenza. Aber so ist es leider immer. Fokussierte sich die öffentliche Debatte auf den Klimawandel (was tatsächlich notwendig wäre), dann gäbe es jeden Tag ungezählte Vorschläge, was alles verboten werden müsste.
Liegt der Fokus auf befürchtetem Terror, ist kein Vorschlag für mehr Überwachung als Sicherheitsversprechen absurd genug, um ein Gehör zu finden. Nun werden wir leider seit zwei Jahren mit Corona traktiert, die mentalen Schäden sind nicht abschätzbar, aber ganz sicher enorm, oder wie ich bereits in einem Streitgespräch mit Thomas Brussig bekannt habe: "Ich hatte noch nie im Leben so lange anhaltend schlechte Laune wie nun seit März 2020."
Dazu tragen natürlich Forderungen wie die von Richter Rainer Schlegel bei, sofern sie eben mediale Aufmerksamkeit bekommen und von Journalisten und Publizisten verbreitet, ja argumentativ unterstützt werden. Denn bei jedem Top-Thema und insbesondere bei Corona ist nichts Sichergeglaubtes mehr sicher. Alles darf infrage gestellt werden, steht zur Disposition, wie wir gemerkt haben – selbst Grundrechte.
Auch in der Wissenschaft werden Grundlagen bezweifelt, wenn es bspw. in einem Forschungsbericht aus der Journalistik heißt, unter Corona-Bedingungen müssten vielleicht "klassische Qualitätskriterien der Berichterstattung außer Kraft gesetzt oder umgedeutet werden"; Maurer/ Reinemann/ Kruschinski S. 58, hier verlinkt.
Stephan Schleim schließt sich in seiner Replik der Forderung nach Kostenbeteiligung Corona-ungeimpfter Patienten an. Er begründet dies mit dem finanziellen Druck, dem das Gesundheitssystem "wegen der überalternden Gesellschaft" ausgesetzt sei, weshalb es "auch um individuelle Verantwortung" gehen müsse, also eben auch Eigenbeteiligung an seiner Ansicht nach vermeidbaren Behandlungskosten: "Wer Solidarität mit Impfgegnern fordert, der sollte mit einer konkreten Antwort dafür kommen, wie sich das Gesundheitssystem in Zukunft finanzieren lässt." Gleichzeitig solle aber "das ökonomische Argument" nicht ausschlaggebend sein.
1. Die gesetzliche Krankenversicherung kennt kein Verschuldensprinzip. Es wird bei keiner Krankheit und keinem Unfall eine Vermeidbarkeit erforscht: Die Kasse zahlt. Die einzigen Ausnahmen sind abschließend im sowohl von Schleim als auch mir bereits erwähnten § 52 SGB V aufgeführt. Die Sinnhaftigkeit dieser Ausnahmen bestreite ich ebenso, aber für unsere Diskussion ist das egal. Stephan Schleim schreibt:
Solidarität ist aber keine Einbahnstraße. Sie schließt auch eine bestimmte Eigenverantwortlichkeit mit ein. Bei Extremsport, bestimmten Hobbys oder Schönheitsmaßnahmen ist das schon heute so.
Nein, auch Extremsport und andere Hobbys sind nicht von der Krankenkassenleistung ausgeschlossen. Anders kann das bei Rentenansprüchen u.ä. aussehen, deshalb gibt es dafür private Versicherungen wie die Berufsunfähigkeitsversicherung. Entsprechend gibt es auch keine unterschiedlichen Tarife für Risiko-Mitglieder, Vorsorge-Schlonzer o.ä. Und dass für manche Fälle die Unfallversicherungen zuständig sind, kann uns hier auch egal sein (ebenso wie den Fußballern, die besonders oft im Krankenhaus landen).
Deshalb wäre die punktuelle Einführung einer Kostenbeteiligung oder einer Beitragserhöhung für Ungeimpfte das Öffnen von Pandoras Büchse. Denn der Katalog potenziell vermeidbarer Erkrankungen wäre sehr, sehr lang, einzelne herauszugreifen ist, auch wenn es eine Mehrheit wollte, gerade nicht demokratisch, sondern willkürlich (dazu ausführlich an anderer Stelle).
2. Die Impfung kann nicht nur Kosten vermeiden, sie verursacht zunächst einmal Kosten. Dieser Aspekt fehlt in der Argumentation der Befürworter stets völlig. Ich mache dazu ganz am Ende mal eine Rechnung auf, die keinerlei Richtigkeit beansprucht, aber den blinden Fleck hoffentlich verdeutlicht. Denn es wird – natürlich auch bei der Impfpflicht – stets so getan, als ob eine einzelne kleine Spritze (oder aktuell eben drei) immensen Schaden vermeiden könne. Tatsächlich aber muss man abertausende Menschen impfen, um einmal den gewünschten Effekt zu erzielen.
3. Die Kollateralschäden eines neuen Verschuldensprinzips bleiben ebenfalls außer Acht. Was sollte denn konkret passieren, wenn jemand 200.000 Euro Behandlungskosten verursacht, nur weil er keine Impfung wollte? Werden Kinder und Kindeskinder in Schuldknechtschaft geführt, bis der Betrag abgearbeitet ist? Im Hinblick auf die Frage "Wer soll das in Zukunft noch bezahlen?" kann es wohl nicht nur um eine symbolische Eigenbeteiligung gehen.
Was aber ist gewonnen, wenn Familien in die Insolvenz getrieben werden oder zumindest ihren Lebensstandard deutlich reduzieren müssen, um Behandlungskosten zu bezahlen (über die in der Regel gar nicht mehr eigenverantwortlich entschieden werden kann)? Welche Folgekosten zieht das nach sich? Das müsste zumindest mal vorgerechnet werden, um eben nicht schlicht populistisch zu klingen.
4. Auch der Verwaltungsaufwand wird nicht diskutiert. Wenn die Behandlungskosten zumindest für einzelne Unfälle und Krankheiten potenziell von den Patienten oder ihren Erben zurückgefordert werden können bzw. müssen, sind neue Kontrollen und gerichtliche Streitverfahren en masse vorprogrammiert. Jeder Impfpass müsste unter Fälschungsverdacht stehen (er war ja mal für etwas ganz anderes vorgesehen als den Schutz vor Regressforderungen und der Erlaubnis, bestimmte Grundrechte noch beanspruchen zu dürfen).
Jeder erkrankte Ungeimpfte würde versuchen, seine Unschuld zu beweisen (Impfunverträglichkeit, Genesenenstatus etc.). Bei den im Raum stehenden Geldbeträgen dürfte das jeweils ein langwieriges Unterfangen werden, verbunden auch mit neuen Ungerechtigkeiten (Chancenungleichheit durch individuelle Rechtsschutzversicherungen etc.).
5. Wer auf die Vermeidung von Behandlungskosten zielt ("erzieherisches Niveau") sollte sagen, welches Krankenhauspersonal entlassen und welche medizinischen Geräte verkauft werden sollen und wie sich das auf die Krankenkassenbeiträge der Pflichtversicherten positiv auswirken wird. Andernfalls betreiben wir einen Popanz (soweit wir bei der Entscheidung für oder gegen eine Impfung tatsächlich Eigenverantwortung, also Freiheit zugestehen anstatt staatlicher Zwangsbeglückung). Schließlich werden Pauschalsätze abgerechnet, die jeweils den Gesamtbetrieb finanzieren müssen (oder wer sollte sich 200.000 Euro für eine zweiwöchige Behandlung in die Taschen stecken?).
So wie Polizeieinsätze auch nicht tatsächlich durch den Einsatz die ggf. geforderten Kosten verursachen, sondern eine Möglichkeit sind, den laufenden Betrieb zu finanzieren. So weist das Divi-Intensivregister am 18. Februar 2022 für die extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) 282 belegte und 406 freie Behandlungsplätze aus (wohlgemerkt insgesamt, nicht Corona-spezifisch).
6. Eine nennenswerte "erzieherische Lenkungswirkung" hatte ich verneint, ohne auf das Grundproblem dieses Ansatzes einzugehen. Dies ist auch weiterhin eine eigene Debatte (zu der ich auf den oben bereits verlinkten Aufsatz verweise), aber ich möchte dann doch betonen, dass ich all solche Ansinnen für undemokratisch halte, weil sie den Einzelnen einen fremden Willen, eine fremde Moral aufzwingen wollen.
Etwas anderes ist natürlich das Verursacherprinzip (aus den dargelegten Gründen die Krankenversicherung ausgenommen). Aber ein Bonuns- und Malusprinzip für politisch gewünschtes Verhalten steht dem Freiheitsgedanken als Grundwesensmerkmal der Persönlichkeit entgegen, und auch hier ist ein unendlich langer Katalog mit Sanktionen und Belohnungen denkbar, aus dem bisher willkürlich einzelne herausgepickt werden, wie etwa die Hundesteuer als Lenkungssteuer gegen das Halten von Hunden.
7. Die Behauptung, Geimpfte hätten aus Solidarität statt Eigennutz gehandelt, ist völlig unbelegt, auch wenn sie politisch und medial als gesetzt gilt. Für solidarisches Verhalten würde mir dann aber doch eine lange Liste weiterer Dinge einfallen, die diese angeblich rein solidarisch handelnden Mitmenschen tun oder lassen würden, wenn Solidarität ihre Lebensmaxime wäre. Ich will auch darauf nicht weiter eingehen, mir genügt es als Beispiel für die weit verbreitete Evidenzfreiheit in der Diskussion.
8. Versicherungen sollen finanzielle Schicksalsschläge abfangen. Leider wurden sie nicht von der Evolution hervorgebracht, sondern von Politik, Wirtschaft und einer ein Eigenleben führenden Bürokratie. Ein Stückwerk ist daher das heutige Ergebnis, nach tausenden von Korrekturen, Veränderungen, Reformen. Könnten wir die Eigeninteressen all dieser Verwaltungen, der Kassen, Verbände, Aufsichtsbehörden, Aktionäre etc. ausblenden und das ganze System rational neu regeln, käme vermutlich ein Versicherungsschutz für alle gängigen Risiken heraus, der schlicht aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert würde.
Neben der Krankenversicherung hätte auch jeder eine Rechtsschutzversicherung, weil uns gerade Gleichheit vor dem Gesetz sehr wichtig ist und wir nicht wollen, dass eher zu seinem Recht kommt, wer sich eine Rechtsschutzversicherung leisten konnte. Alle Familien wären über eine Berufsunfähigkeits- und Risikolebensversicherung abgesichert. Und natürlich wäre auch noch Geld für eine Erdbestattung da, was sollen wir da ein paar tausend Euro sparen und die Hinterbliebenen zur günstigeren Urne drängen, wo doch in den letzten Tagen vor dem Ableben zehntausende Euro fürs Krankenhaus niemand infrage stellen möchte.
Auch ich bin sehr für Eigenverantwortung, aber ich bin auch sehr dafür, dass eine Gesellschaft absichert, was jeden zu einem nicht bekannten Zeitpunkt in unbekannter Härte treffen kann, und was meist mehr Menschen als den unmittelbar Betroffenen in Mitleidenschaft zieht. Wenn aus diesen Versicherungen niemand mehr Gewinn ziehen muss (und kann), wenn wir enorme Verwaltung einsparen können, weil aufwändige Prüfungen und Verrechnungen entfallen, weil ein Krankenhaus einfach behandelt und dafür von der Allgemeinheit finanziert wird, dann gibt es gar keinen Anlass mehr für Debatten um irgendwelche Eigenbeteiligungen.
Wohl kaum jemand möchte gerne im Krankenhaus liegen. Also soll, wer dort zu liegen kommt, wenigstens keine finanziellen Behandlungssorgen haben. Und sollte sich doch jemand darunter schmuggeln, der aus Langeweile oder neurologischer Störung heraus vorsätzlich Krankheiten und Unfälle erwirbt, um in den Genuss köstlichen Spitalessens zu kommen: So what? Bitte sehr, reden wir nicht darüber – und gut ist.
Zusammenfassend bleibt es daher dabei: Eine Eigenbeteiligung an medizinischen Behandlungskosten wegen des Verzichts auf eine freiwillige (und medizinisch individuell abzuwägenden) Corona-Schutzimpfung wäre dem System der gesetzlichen Krankenversicherung wesensfremd, sie wäre willkürlich, der Einstieg in ein Social-Scoring-Prinzip, das keinen nennenswerten positiven Effekt auf die Finanzierung des Gesundheitssystems hätte, stattdessen aber massive Nebenwirkungen haben dürfte. Und damit noch zu einigen weniger bedeutsamen Anmerkungen.
a) Die Darstellungen der "rechtlichen Kategorien" bei Stephan Schleim ist tatsächlich sehr lapidar geraten. Fahrlässigkeit bedeutet nicht "Dumm gelaufen, doch hätte jedem passieren können." Dann gäbe es keine strafbewährten Fahrlässigkeitshandlungen, weil das Strafrecht (anders als das Zivilrecht) stets von Schuld ausgeht (§ 46 StGB). Den Begriff der "groben Fahrlässigkeit" gibt es im Strafrecht gar nicht.1
b) Schleim schreibt:
Wer sich auf die Solidarität beruft, muss auch an die vielen Patientinnen und Patienten denken, denen aufgrund schwerer COVID-Erkrankungen in der Pandemie nicht mehr oder erst zu spät geholfen werden kann. So haben medizinische Fachleute beispielsweise berechnet, dass wegen Covid-19 jede siebte potenziell lebensrettende Tumoroperation abgesagt werden musste.
Die Verschiebung von Behandlungen beruhte nicht auf einer Überlastung der Krankenhäuser, sondern auf externen und internen Vorgaben sowie finanziellen Anreizen. Dass es irgendwo zur viel beschworenen Triage gekommen wäre (Entscheidung, den Krebspatienten oder den Covid-Patienten zu behandeln) ist mir nicht bekannt.
Hier hat sich von Anfang an eine verhängnisvolle Sprachschluderei eingebürgert, die nicht mehr zwischen der Pandemie als Naturgewalt und der Pandemiepolitik als Meinung dazu unterscheidet. Forderte man auch hier Evidenz ein, würden viele Argumentationen in sich zusammenfallen, weil der Beweis für eine Behauptung nicht erbracht oder sie sogar widerlegt werden kann.
c) Schleim schreibt:
Skifahren halten wir für 'normal'. Im Übrigen haben auch die wenigsten Skifahrer schwere Unfälle.
Auch der Verzicht auf eine Impfung ist in diesem Sinne normal, weil eben weit verbreitet. Schon lange, bevor ein Impfstoff auf dem Markt war, haben das auch für die Coronaimpfung Umfragen so prognostiziert. Es ist gerade kein abnormes Verhalten, wenn jemand sich nicht gegen etwas impfen lassen möchte. Auch hier sei auf die Grippe verwiesen. (Ob diese tatsächlich so viel harmloser als Corona bzw. Corona eben viel schlimmer ist und deshalb beides keineswegs gleichgesetzt werden darf, wird sich erst auf lange Sicht zeigen. Die Betrachtung einzelner Wellen hilft da wenig.)
Bisher galt nicht als abnormal, wer im Herbst nicht zur Grippeschutzimpfung angetreten ist (obwohl dies nach Schleims Argumentation "grob fahrlässig" ist). Und die wenigsten Ungeimpften werden schwere Coronafälle.
d) Schleim schreibt:
Einen Richter, der das Prinzip Verantwortung betont, als Populisten darzustellen, halte ich aber in jedem Fall für einen Fehlgriff. Was hat das mit Egoismus und Neid zu tun? Timo Riegs Argumentation scheint mir in Zügen viel populistischer.
Ich habe Schlegels Forderung als populistisch bezeichnet, aber nicht ihn als Populisten. Ein Betrunkener ist noch lange kein Säufer, ein dummer Spruch macht noch keinen Idioten. Für populistisch halte ich Schlegels Vorschlag, weil er auf emotionale statt sachliche Zustimmung setzt; denn sachlich bietet er eben wenig, wie argumentiert und gleich noch mal abschließend vorgerechnet.
Man kann Schlegel aber auch deutlich härter kritisieren, wie es zwei Vorstände des sächsischen Hartmannbunds tun. In ihrer Pressemitteilung heißt es:
Dieser befremdlich anmutende Vorschlag lasse im Grunde nur zwei Schlussfolgerungen zu: entweder sei Herr Schlegel sich über die Tragweite seines Vorschlags schlicht selbst nicht im Klaren, was zumindest starke Zweifel wecke, ob er über die für sein Amt notwendigen Grundkenntnisse über die Sozialsysteme verfüge. Oder er äußere seinen Vorschlag, der letztendlich auf eine schleichende Entsolidarisierung hinausliefe und unser Sozialsystem inklusive der Rentenversicherung komplett in Frage stellen würde, durchaus bewusst. Dann wäre er jedoch dem Amt als Präsident des Bundessozialgerichts schlicht nicht gewachsen, heißt es weiter.
e) Zur zentralen Kostenfrage schreibt Schleim:
Timo Rieg hält den Vorschlag ökonomisch für irrelevant, weil, kurz gesagt, das "deutsche Gesundheitssystem (…) jeden Tag etwa eine Milliarde Euro (verteilt)". Das Argument ist hier, dass gegenüber den normalen Gesundheitskosten die Beteiligung an den Behandlungskosten nicht in relevanter Weise ins Gewicht fällt. Stimmt das? Laut dem Bundesrichter mussten allein vom Januar bis September 2021 rund 46.000 Covid-Erkrankte intensivmedizinisch behandelt werden, davon rund 3.000 mit Beatmung. Nur für diese 3.000 kommt man also auf Kosten in Höhe von 180 bis 600 Millionen Euro. Gegenüber Riegs täglicher Milliarde ist das tatsächlich nicht viel. Es ist aber auch nur ein kleiner Teil der insgesamt durch COVID-19 verursachten Krankheitskosten. Wenn man die Frage ökonomisch beantworten will, sollte man auch eine vollständige Rechnung aufstellen.
Ich bin sehr für vollständige Rechnungen, und daher schauen wir doch mal abschließend wenigstens auf einen Teil der Rechnung, den Schleim und Bundesrichter Schlegel ausgelassen haben. Zunächst zu den unterstellten Kosten.
Die Intensivkosten berechnen wir mit den Durchschnittswerten der AOK und nehmen anteilig den aktuellen Belegungswert des DIVI an (25 Prozent Ecmo, 25 Prozent Beatmung ohne Ecmo, 50 Prozent ohne Beatmung). Dann kommen wir auf Durchschnittskosten pro Intensivpatient von etwa 35.000 EUR. Das ergibt bei 85.000 Patienten im Jahr Kosten von etwa drei Milliarden Euro (also etwa 0,7 Prozent der Kosten des Gesundheitssystems).
Nun schauen wir noch exemplarisch auf die aktuelle Belegung der Intensivstationen nach Impfstatus und setzen dies mit den vom RKI angegebenen Impfquoten in Bezug: Als ungeimpft gelten 21 Prozent in der Altersgruppe 18-59 Jahre und elf Prozent in der Altersgruppe ab 60 Jahre.
Auf Intensiv kamen binnen einer Woche aus der ersten Altersgruppe 55 Ungeimpfte und 23 Geimpfte. Wären die Ungeimpften geimpft, wären rein rechnerisch nur etwa sechs von ihnen auf Intensiv gekommen. (Immer eine Gleichverteilung unterstellt, die es natürlich nicht gibt, aber das ist ein ganz eigenes Thema der Pandemie-Desinformation.)
Bei den Ü-60 haben wir 134 Ungeimpfte und 74 Geimpfte, mit Impfschutz wären also statistisch nur acht heutige Ungeimpfte dort. Kinder und Jugendliche spielen praktisch keine Rolle, so dass wir überschlagen können: statt aktuell 286 neuen Corona-Intensivpatienten hätte es bei einer 100-Prozent-Impfung nur 111 gegeben, also rund 60 Prozent weniger. Unsere überschlagenen Jahreskosten für die Intensivbetreuung verringern sich also leider nicht auf null, sondern nur von drei auf gut eine Milliarde Euro.
Allerdings werden für diesen Maximalerfolg Impfkosten von gut zehn Milliarden Euro fällig (70 Mio Bürger ab 18 Jahren, drei Impfungen je 15 bis 20 Euro für den Impfstoff und 28 Euro für den Arzt, ohne alles andere im Hintergrund). Oder nur auf den Zugewinn berechnet: zwei Millionen zusätzlich geimpfte Ü-60-Jährige und 10,5 Millionen 18- bis 59-Jährige macht etwa zwei Milliarden Euro kosten für die Ersparnis von zwei Milliarden ITS-Kosten.
Natürlich kann man jetzt noch allerhand weiteres anführen, die Belegung der Normalstationen auf der einen Seite, aber auch die Impfnebenwirkungen auf der anderen Seite (alle meine Bekannten, mit denen ich darüber gesprochen habe, hatten sich prophylaktisch mindestens den Tag der Impfung und einen danach als "krank" vorab im Kalender eingetragen).
Aber es geht mir ja gar nicht ums Detail, um den realen Wert – sondern um die Absurdität, einen Einzelposten herausnehmen und diesen entgegen dem bisherigen Versicherungsprinzip und auf sehr wackeligen Füßen einzelnen Patienten in Rechnung stellen zu wollen.