"Ehre ist eher die Hülse als der Inhalt"

Seite 2: 1091 Ehrenmorde in der Türkei

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Sie widmen sich in ihrem Buch auch dem "Ehrenmord". - Lassen sich "Ehrenmorde" einer bestimmten Ethnie oder sozialen Schicht zuordnen?

Winfried Speitkamp: Nein, nicht einer Ethnie oder sozialen Schicht, sondern einer sozialen Situation. Es geht offenbar, ich spreche hier von westlichen Gesellschaften, immer wieder um Situationen, in denen Zuwanderer sich höchst verunsichert fühlen durch eine neue soziale Umgebung, möglicherweise unsichere Arbeitsverhältnisse und vor allem andere Normen. Wenn dann noch in der Familie die Autorität zusammenbricht, weil junge Frauen die Wertvorstellungen ihrer Väter und Brüder nicht mehr akzeptieren und sich selbst orientieren, dann wird manchmal eine starre Tradition mit fixen Ehrvorstellungen behauptet und erbarmungslos verfochten.

Die Familie und die Tradition sollen die Sicherheit suggerieren, die im wirklichen Leben längst aufgelöst ist. Wie existentiell die Erfahrung von Bedrohung und verweigerter Anerkennung ist, wie tief der Hass auf das Fremde sitzt, zeigt sich an der hohen Brutalität, mit der manche dieser Fälle ablaufen. Das Fremde im Eigenen wird quasi symbolisch besonders erbarmungslos bestraft. Aber: Da geht es nicht um ethnische Eigenschaften, sondern um gefährdete Familien - die auch in ihrer ethnischen Gruppe und sozialen Schicht eine Minderheit sind.

Was ist der Unterschied zwischen einem "Ehrenmord" in einer Migrantenfamilie und der Ermordung der Gattin in hiesigen Gefilden , die hierzulande in der Presse "Familiendrama" genannt werden?

Winfried Speitkamp: Wir haben uns angewöhnt, von der Forschung bis hin zu offiziellen Festlegungen zum Beispiel der EU, zwischen "honour crimes" und "passion crimes" zu unterscheiden. Die ersteren werden dann eher sogenannten mediterranen Kulturen und traditionalistischen Gesellschaften zugeschrieben, die letzteren eher den westlichen Kulturen.

Ich habe Zweifel, ob diese scharfe Unterscheidung zulässig ist. Bei vielen "westlichen" Verbrechen aus Leidenschaft und Familiendramen geht es auch um den verletzten Stolz von Männern oder Frauen, die nicht damit zurechtkommen, dass der Partner sich neu orientiert. Nicht hinter jeder Leidenschaft steckt Liebe. Der Ablauf solcher Konflikte und der Umschlag zur Gewalt weisen oft gerade auf verletzte Ehre hin. Nur folgt dann die Gewalt nicht langen Beratschlagungen über die Rettung verletzter Familienehre, sondern wird - wie es dem individualisierten Ehrbegriff entspricht - individuell praktiziert.

Umgekehrt ist nicht jeder "Ehrenmord" mit tiefer liegenden Aspekten der Familienehre verbunden, oft geht es darum, dass sich je Einzelne beleidigt fühlen vom Verhalten ihrer Frau, Tochter oder Schwester und dann eine höhere Legitimation für Gewalt suchen.

Finden Ehrenmorde eher in islamischen Ländern oder innerhalb islamischer Familien in westlichen Ländern statt? Haben Sie hierzu eventuell Zahlen?

Winfried Speitkamp: Die Gesamtzahl der "Ehrenmorde" in westlichen Gesellschaften ist gering. Für Deutschland hat das Bundeskriminalamt für die Jahre von 1995 bis 2005 55 Ehrenmorde gezählt. Solche Zahlen sind allerdings unpräzise, weil der Begriff unscharf, die Einordnung unklar ist. In die deutsche Kriminalstatistik werden Ehrenmorde nicht besonders aufgenommen.

Aber diese Fälle sind spektakulär. Sie sind sicherlich auch Indikatoren für allgemeine Probleme, aber sie sind nicht repräsentativ für bestimmte Gruppen in unserer Gesellschaft. Die UN hat im Jahr 2000 rund 5000 Ehrenmorde weltweit gezählt; da waren aber manche Länder, auch Deutschland, nicht berücksichtigt. In der Türkei hat eine Untersuchungskommission für die Jahre 2000 bis 2005 1091 Ehrenmorde festgestellt. Manche neueren Forschungen betonen, dass auch in der Türkei eher die Ballungsräume betroffen sind. Es wäre jedenfalls missverständlich, islamischen Familien per se eine höhere Gefährdung zu unterstellen.

In Albanien sind, wie Sie geschrieben haben, seit dem Ende der Herrschaft Enver Hodschas im Jahr 1991 9500 Menschen wegen der "Blutrache" umgebracht worden, ein Phänomen, das während der Diktatur bereits verschwunden war. Können Sie uns das Aufkommen dieses gesellschaftlichen Atavismus erklären?

Winfried Speitkamp: Diese Entfesselung von gesellschaftlicher, quasi "privater" Gewalt ist sicherlich eine Folge der langen Diktatur, die durch staatliche Gewalt die Gesellschaft in Schach gehalten hat. Die Diktaturen haben aber offenbar keine neuen Werte vermitteln können, sie haben ein Vakuum hinterlassen. Was bleibt, ist ein ökonomisches und moralisches Desaster, das ein ungeheures Potential an Enttäuschung und Gewaltbereitschaft freisetzt.

Der Rückzug auf Familienehre, Fehden, Blutrache ist der Versuch, Autonomie des Handelns wiederzugewinnen. Auch der Irak scheint nach dem Ende der Saddam-Diktatur durch fast regellose, wahllose Gewalttätigkeit gekennzeichnet: Auch hier sucht eine Gesellschaft, und suchen Gruppen in der Gesellschaft, Orientierung, Selbstvergewisserung, Anerkennung, sie suchen ihre eigenen Normen zu etablieren, nachdem der Staat versagt hat.

"Beispiellose Dynamik von Rache und Gewalt"

Zuguterletzt: Sie haben sich in ihrem Buch den mannigfachen und kulturell unterschiedlichen Formen des Ehrbegriffs auch anhand von Literatur genähert. Welche Divergenzen und Gemeinsamkeiten lassen sich diesbezüglich zum Beispiel anhand einer vergleichenden Analyse der "Ilias" und des "Nibelungenliedes" herausarbeiten?

Winfried Speitkamp: Beide Texte, die Ilias und das Nibelungenlied, sind große Epen, die nicht nur die Zeitgenossen beeinflusst haben, sondern bis heute nachwirken. Beide Texte spiegeln offenbar unterschiedliche Zeitebenen, verbinden jeweils archaische Vorstellungen mit aktuellen Deutungen der Autoren. In beiden Texten spielt die Ehre der Handelnden eine zentrale Rolle, und zwar gerade bei Schlüsselentscheidungen.

In beiden Texten wird um die richtige Entscheidung nach Kriterien der Ehre gerungen: Achill muss sich entscheiden, ob er den Leichnam seines Feindes Hektor weiter schändet oder an Hektors Vater, den Trojaner-König Priamos, herausgibt. Die Forschung streitet bis heute, nach welchen Ehrnormen Achill sich dabei orientieren musste.

Im Nibelungenlied hat Kriemhild die Ehre des Burgunden-Königs Gunther in Frage gestellt. Sie hat behauptet, nicht Gunther, sondern Siegfried habe Brünhild besiegt - und mehr als das: Brünhild sei die Geliebte Siegfrieds gewesen. Um Gunthers Ehre wiederherzustellen, tötet Gunthers Vasall Hagen nun Siegfried. Aber diese Entscheidung ist unter den Burgunden umstritten. Es gab durchaus Alternativen. Doch setzt Hagens Ehrenmord dann eine beispiellose Dynamik von Rache und Gewalt in Gang, die am Ende zum Untergang führt.

Es gibt in beiden Texten kollektive Ehrvorstellungen, die gerade in rituellen und zeremoniellen Situationen zum Ausdruck kommen (dazu gehört der berühmte Vortrittsstreit zwischen Brünhild und Kriemhild vor dem Wormser Münster), aber es gibt individuelle Handlungsspielräume. In beiden Epen ringen die Helden mit sich selbst, um die richtige Entscheidung im Ehrkonflikt zu treffen.

Gerade deshalb sind die Texte bis heute so ungeheuer herausfordernd: Die Ehre gibt nämlich gar nicht, wie öfter behauptet, die Normen unerbittlich vor, nach denen zu handeln ist. Ehre fordert vielmehr zur Entscheidung auf. Und die aktuelle Popularität der beiden Epen - noch heute wird immer wieder neu um die Deutung der Ilias gerungen, die Wirkung des Nibelungenstoffes ist ohnehin offenkundig - zeigt, dass die dahinter stehenden Fragen auch in einer zivilen Gesellschaft noch brisant sind - selbst wenn wir uns nicht mehr als Krieger und Helden definieren wollen.

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