"Ein Ausländer? Runter mit der Uhr!"

Seite 2: Politisch motivierte Schikane oder nur Regeln zum Umgang mit Staatsgeheimnissen?

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Den Einleitungstext der im Februar vorgelegten Empfehlungen kann man auch so interpretieren, als sollten damit lediglich die bereits existierenden Regeln zum Umgang mit Staatsgeheimnissen präzisiert werden. Das bisherige Verhalten der russischen Regierung spräche ebenfalls für eine Interpretation in diese Richtung. Erst im Mai 2018 hatte Staatspräsident Wladimir Putin in einem Dekret die Wissenschaft zu einem von insgesamt zwölf "nationalen Projekten" erklärt und betont, insbesondere die Attraktivität Russlands für junge Forscherinnen und Forscher aus dem Ausland sichern zu wollen. Würden die Empfehlungen nun wirklich für alle Forscher pauschal gelten, wäre dieses Ziel wohl kaum zu erreichen.

Das Ministerium für Wissenschaft und Hochschulbildung argumentierte nach den Protesten und der Unterschriftenaktion zwar nicht mehr mit Staatsgeheimnissen, bestand aber weiterhin auf der Übersendung der geforderten Daten. Man benötige diese für eine angebliche "Erfassung von Wachstumsindikatoren in internationalen Beziehungen". Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hielten dem entgegen, dass das Ministerium ausführliche Jahresberichte mit Listen aller gemeinsam mit ausländischen Autoren verfassten Veröffentlichungen erhalte und daher bereits über die verlangten Informationen verfüge.

Putins Pressesprecher, Dmitri Peskow, versprach schließlich am 14. August 2019, die Situation prüfen zu lassen. Er gehe zwar "von einer Übertreibung" aus, erinnerte aber gleichzeitig daran, dass man "die Wachsamkeit nicht verlieren darf, weil ausländische Geheimdienste nicht schlafen und wissenschaftliche und industrielle Spionage weiterhin ein Thema [sind]". Nur einen Tag später erklärte das Ministerium für Wissenschaft und Hochschulbildung schließlich überraschend, die Empfehlungen seien nicht beim Justizministerium registriert worden und hätten somit sowieso nie rechtliche Gültigkeit erlangt.

Also alles nur ein bedauerliches Missverständnis? An der starken Gegenwehr - man sammelt nicht einfach so Unterschriften von hunderten hochrangigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler - lässt sich schon erahnen, dass die Gefühlslage bei den Betroffenen eine völlig andere sein dürfte. Zu viele erinnern sich noch an den Alltag in der Sowjetunion, als jede Formulierung auf die Goldwaage gelegt werden musste und "Empfehlungen" schnell Gesetzescharakter erlangen konnten. Spätestens seit der Festnahme von Viktor Kudryavtsev, ehemals leitender Wissenschaftler am Zentralen Institut für Maschinenbau (kurz TsNIIMash) in Korolyov bei Moskau, haben die Forscherinnen und Forscher aber auch allen Grund dazu, sich wieder an die alten Zeiten zu erinnern.

Ungute Erinnerungen an Sowjet-Zeiten

Der heute 75-jährige Kudryavtsev war von 2010 bis 2013 zusammen mit anderen russischen Vertretern in einem gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und dem belgischen Von-Karman-Institut für Strömungsdynamik durchgeführten EU-Forschungsprojekt namens "TransHyBeriAN" tätig. Ziel des Projektes war die Simulation von Strömungen an Hyperschalltriebwerken für die Raumfahrt. Die Ergebnisse wurden am Ende der Projektlaufzeit von den russischen Behörden freigegeben und durften ohne Einschränkungen veröffentlicht werden.

Im Juli 2018 wurde Kudryavtsev wegen des Verdachts auf Hochverrat in Untersuchungshaft genommen. Ihm wird vorgeworfen, in seiner Kommunikation mit dem Von-Karman-Institut Staatsgeheimnisse versteckt zu haben. Russland liefert sich derzeit mit den USA und China einen harten Wettkampf in der militärischen Raketentechnik und gilt als führend bei Hyperschallraketen. Wären tatsächlich geheime Informationen abgeflossen, hätten Deutschland und Belgien diese vermutlich tatsächlich an ihren NATO-Partner USA weitergeleitet.

Der russische Geheimdienst FSB bestreitet nicht, dass die Genehmigungen für die Veröffentlichung der Ergebnisse vorlagen. Er unterstellt allerdings, Kudryavtsev habe seine leitende Position am Zentralen Forschungsinstitut für Maschinenbau (TsNIIMash) ausgenutzt, um die Behörden zur Erteilung der Genehmigungen zu zwingen. Kudryavtsevs Anwälte bestritten dies und erklärten, ihr Klient habe in den letzten 20 Jahren überhaupt keinen Zugang zu den betreffenden Staatsgeheimnissen gehabt. Das Von-Karman-Institut für Strömungsdynamik bestätigte in einem Ende Oktober 2019 vorgelegten Bericht, in den von den russischen Partnern gelieferten Daten "keine Spuren von Geheiminformationen" gefunden zu haben.

Trotzdem wurden die Ermittlungen im Juni 2019 auch auf Kudryatsevs ehemalige Kollegen Roman Kovalyov und Sergei Meshcheryakov ausgeweitet. Beide befinden sich derzeit in Untersuchungshaft bzw. in Hausarrest.

Kudryatsev wurde im September 2019 wegen einer Krebserkrankung aus dem Gefängnis entlassen, darf die Stadt Moskau aber nicht verlassen. Ein Gerichtstermin steht eineinhalb Jahre nach seiner Festnahme immer noch aus. Kenner der russischen Geschichte sehen möglicherweise Parallelen zum Schicksal von Andrei Tupolev, dem berühmten sowjetischen Flugzeugkonstrukteur. Tupolev wurde 1937 während des "Großen Terrors" unter Stalin festgenommen und in einen Gulag verfrachtet, unter anderem, weil er angeblich Originalbaupläne von Bombern und Jagdflugzeugen an Frankreich übergeben haben soll. Erst nach Stalins Tod, 16 Jahre später, wurde er rehabilitiert.

Der beschriebene Fall rund um Viktor Kudryavtsev ist nur einer von vielen aus den letzten Jahren. Anfang November drangen vermummte und schwer bewaffnete Polizisten sogar in das traditionsreiche Lebedew-Institut für Physik in Moskau ein und verhörten den Geschäftsführer stundenlang. Angeblich sollte der illegale Export von Panzerglas für militärische Zwecke unterbunden werden, letztendlich ging es aber wohl nur um ein unbedeutendes, in den Räumen des Institutes angesiedeltes Privatunternehmen, welches Glas aus China importiert und die fertigen Endprodukte wieder ins Ausland exportiert. Von Staatsgeheimnissen keine Spur.

Russland beschädigt sein internationales Ansehen

Die unter russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern umgehende Angst, demnächst möglicherweise vor den Trümmern der eigenen Karriere zu stehen, ist folglich nicht unbegründet. Mittlerweile ist es im Prinzip auch völlig egal, was das Ministerium für Wissenschaft und Hochschulbildung mit seinen Empfehlungen eigentlich bezwecken wollte, für wen diese wann gegolten hätten und ob es sich um ein Missverständnis handelt oder nicht. Mit seinem Gebaren hat das Ministerium auf jeden Fall nicht nur das Misstrauen im eigenen Land vergrößert, sondern auch dem Ansehen Russlands im Ausland weiter geschadet. Schließlich unterhält das Land wissenschaftliche Partnerschaften mit mehr als 90 Ländern, ist unter anderem Partner des europäischen Kernforschungszentrums CERN und der europäischen Raumfahrtagentur ESA. Viele russische Institute kooperieren mit deutschen Instituten, russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten in Deutschland - und umgekehrt.

Die deutsche Hochschulrektorenkonferenz bemüht sich deswegen seit Monaten um eine Klärung der Situation, konnte in einem Rundschreiben vom 22. Oktober 2019 (PDF) aber nur vermelden, dass "Bemühungen deutscher Stellen, die Verbindlichkeit der Anweisung zu klären, [..] bislang keine eindeutigen Erkenntnisse gebracht [haben]". Wie soll man mit jemandem kooperieren, der die Verhaltensregeln seiner eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entweder nicht zu kennen oder nicht preisgeben zu wollen scheint?

Wegen der im März 2014 nach der Annexion der Krim verhängten Sanktionen ist der Alltag für viele russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowieso schon schwierig geworden. Geräte und Materialien können nicht mehr so einfach wie früher aus dem Ausland importiert werden, durch den Wertverfall des Rubels sind diese Waren auch deutlich teurer geworden. Russische Beiträge zu Konferenzen und Publikationen werden angeblich häufiger als früher abgelehnt, Einreisevisa für Konferenzen im Ausland seltener erteilt. Von Internetblockaden amerikanischer Cloud-Anbieter und der russischen Zensurbehörde Roskomnadsor sind immer wieder auch für die Wissenschaft wichtige Onlinedienste wie z.B. GitHub betroffen.

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